Herbst 2015: Hunderttausende Flüchtlinge sind auf dem Weg nach Europa. Ein so reiches Land wie Deutschland kann die Tische größer machen und Menschen aufnehmen, meinen Dorothee Paß-Weingartz und ihr Mann und tun es selbst im März 2016. Ein Erfahrungsbericht.
Bisher haben wir unser ehemaliges Kinderzimmer im Souterrain auf einer Vermietungsplattform angeboten. Könnten wir nicht stattdessen einen jungen Menschen aufnehmen und ihm unsere Unterstützung anbieten? Andererseits, nach drei Kindern und in vergleichsweise hohem Lebensalter: Schaffen wir das noch? Es gibt Berichte zuhauf über traumatisierte Jugendliche, die auch für ihre Helfer und Helferinnen zur Belastung werden. Wir sprechen mit unseren Kindern. Die ermutigen uns, den Versuch zu wagen. Wir entscheiden uns, diesen Schritt zu gehen und die Herausforderung anzunehmen, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussieht.
„Die Herausforderung annehmen, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussieht.“
Ich gebe zu, ich bin ungeduldig. Ein zweitägiges Seminar, nachdem wir uns schon Monate vorher gemeldet haben. Wir sind ja schließlich keine Anfänger, was Kinder und Jugendliche angeht. Im Nachhinein zeigt sich dieses Wochenende dann allerdings doch als sehr hilfreich, unterstützend und auch lehrreich: Hilfreich und unterstützend, weil sich herausstellt, dass der Kreis der potentiellen Gasteltern eine Runde interessanter Menschen ist, die sich alle, auch mit Ängsten, zu dem Schritt entschlossen haben, einen jungen Flüchtling aufzunehmen. Unterstützend, weil die anwesenden Mitarbeiterinnen des Jugendamtes mit ihren Erfahrungen und Kenntnissen uns unsere in Teilen irrationalen Ängste nehmen können.
Nach zwei Gesprächen mit dem Jugendamt lernen mein Mann und ich zum ersten Mal den Jugendlichen kennen, den das Jugendamt für uns als Gastsohn ausgesucht hatte. Dem Jugendamt gegenüber hatten wir als Wunsch formuliert, dass wir gerne einen vergleichsweise jungen Mann aufnehmen wollten, mit dem wir möglichst noch lange Zeit zusammen leben können. Das passte zu Amin, der zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt ist. Der junge Mann, der da an einem großen Tisch mit vielen Erwachsenen sitzt, wirkt auf mich ein wenig verunsichert. Er spricht erstaunlich gut Deutsch und äußert sehr klar seinen Wunsch, in einer Familie leben und aus seiner Jugendunterkunft wegziehen zu wollen. Immer wieder schaue ich ihn mir genau an – auch weil ich befürchtete, meine Sympathie, die ich sofort empfinde, könnte mich täuschen.
„Wir wollen uns gegenseitig mit Respekt behandeln.“
In sogenannten „Hilfeplangesprächen“ werden – geleitet und moderiert durch das Jugendamt – die nächsten Ziele für Amin auf dem Weg der weiteren Integration in Deutschland formuliert. Beispielsweise morgens pünktlich aufstehen, damit kein Schulbesuch versäumt wird. Oder etwa das Rauchen aufgeben. Auch wir haben als zukünftige Gasteltern unsere Wünsche formuliert: Wir wollen uns gegenseitig mit Respekt behandeln und wir möchten auch seine Freunde kennenlernen. Und natürlich: Wir sprechen in unserem Haus deutsch. Am Ende des Gesprächs ist klar: Wir und Amin wollen es zusammen versuchen.
31.3.2016: Der Einzug Amins in unser Haus gestaltet sich völlig unproblematisch. Mein Mann holt Amin aus der Jugendwohngruppe ab. Mit seinen wenigen Kleidungsstücken hat er sich schnell eingerichtet und schlägt vor, zusammen noch am selben Tag gemeinsam ein Theaterstück anzuschauen. Es ist ein guter Einstand.
Wir sind eine große Familie, das ist oft für Neue – in diesem Fall unseren Gastsohn – durchaus eine Schwierigkeit. Ich bin gespannt auf das erste Zusammentreffen zwischen Amin und unseren Kindern. Aber es ist von beiden Seiten sehr freundlich, wenn sich auch Amin beim ersten Mal sehr schnell wieder in sein Zimmer verzieht. Bei der nächsten Gelegenheit, dem Hoffest meines Sohnes, ist er schon deutlich lockerer. Vor allem begeistert ihn ein Freund meines Sohnes, der mit dem Fahrrad den Iran, die Heimat Amins, durchquert hat. Jetzt – nach über einem halben Jahr Aufenthalt bei meinem Mann und mir – ist Amin schon sehr vertraut mit meiner Familie. Wir haben wunderbare Abende erlebt.
„Wie wichtig es gerade bei jungen Flüchtlingen ist, dass sich LehrerInnen für sie einsetzen.“
Das Hauptproblem für viele Flüchtlinge sind die mangelnden Tagesstrukturen. Sie warten oft monatelang auf die Bearbeitung ihres Asylantrages, können nicht arbeiten und sitzen den ganzen Tag herum. Sie würden gerne arbeiten, aber sie dürfen es nicht. Bei jungen unbegleiteten Flüchtlingen fehlen oft die Schulplätze. Wir haben bei unserem Gastsohn großes Glück. Seine Sprach- und Mathebegabung ist sehr schnell erkannt worden. Mit der Unterstützung einer engagierten Lehrerin hat er ein einmonatiges Praktikum auf einem Gymnasium absolvieren dürfen, was ihm viel Arbeit abverlangt, aber schlussendlich den Weg in die Oberstufe dieser Schule eröffnet.
In der Kommunikation mit der Schule haben wir immer wieder feststellen müssen, wie wichtig es gerade bei jungen Flüchtlingen ist, dass sich LehrerInnen für sie einsetzen, sich engagieren und auch die alltägliche Leistung honorieren, die dieser Mensch neben dem Spracherwerb erbringen muss. Wir wissen von anderen Gasteltern, dass sie durchaus mit der fehlenden Schule oder mit der mangelnden Schulbegeisterung bei ihren Schützlingen Probleme haben. Insofern wissen wir die Leistungsbereitschaft unseres Schützlings sehr zu schätzen und betrachten sie als Geschenk.
Es wäre naiv zu glauben, es hätte keine Konflikte gegeben. Uns hat auch hin und wieder – um ehrlich zu sein – an der einen oder anderen Version, die Amin über sein Leben erzählt, Misstrauen beschlichen. Aber wie ein Gastvater es bei einem Treffen der Gasteltern treffend formuliert hat: Wir sind angetreten, diese jungen Menschen zu unterstützen. Da sollte es uns nicht vordergründig interessieren, mit welchen Geschichten sie kommen. Aber wir sind von Seiten unseres Gastsohns nie respektlos behandelt worden. In der Erinnerung an meine leiblichen Kinder, die in der Pubertät manchmal auch schwierig waren, kommen wir sehr gut miteinander aus. Und wie in einer guten Familie sind Streitigkeiten eine innere Angelegenheit, die nicht auf den Markt getragen werden muss.
„Nicht nur die Küche ist für unseren Schützling eine Herausforderung. Das gilt auch für unsere Haltung zur Religion.“
Je länger unser Schützling bei uns lebt, umso mehr interessiert mich das Land und das kulturelle Umfeld, aus dem er kommt. Nicht nur die Küche ist für unseren Schützling eine Herausforderung. Das gilt auch für unsere Haltung zur Religion oder sagen wir besser zur Religiosität. Unsere Haltung zur Religion ist recht distanziert. In dem Buch, das ich zur Zeit über die Haltung einer großen Mehrheit der iranischen Gesellschaft lese, bedeutet Religion, also der schiitische Islam, eine tägliche Aufgabe, die es zu erfüllen gilt. Je mehr man sich engagiert, umso angesehener ist man.
Und nun ist Amin in Deutschland, in einem Land, in dem die Kirchenaustritte zunehmen und die Kirche für viele Menschen ein Glaubwürdigkeitsproblem hat. Es gibt häufig Diskussionen zwischen uns, und wir reden oft über Religion. Amins Vater war Imam, insofern hat dieses Thema in seiner Familie eine große Rolle gespielt. Hier in Deutschland gibt es diese Umgebung für Amin nicht. In die Moschee ist er nicht ein einziges Mal gegangen, und ich habe ihn auch noch nie beten gesehen. Anders verhalten sich Schützlinge in anderen Gastfamilien. Der Ramadan ist da für einige der Familien die Zusammenlebenskrise schlechthin.
Unsere Kinder haben unseren Schritt, einen jungen unbegleiteten Flüchtling aufzunehmen, vorbehaltlos unterstützt. Die Reaktionen von Verwandten waren und sind teilweise schon etwas anders. Das Spektrum reicht von vollkommenem Unverständnis bis Desinteresse. So, als wäre das eine Entscheidung aus einer anderen Welt. Im lockeren Freundeskreis gibt es oft ein vielsagendes Schweigen, in Einzelfällen aber durchaus rassistische und herabwürdigende Äußerungen. Auch unsere Nachbarn haben die Veränderung durchaus misstrauisch beäugt – allerdings sind die vermuteten Ängste mittlerweile wieder in normale Bahnen gelenkt worden. Aber es gibt auch schöne Reaktionen: z.B. das Geschenk eines Freundes meiner Tochter, der seine ganze Garderobe danach durchsucht hat, was er weitergeben könne. Amin trägt alles immer noch mit Stolz. Das hat mich sehr gerührt.
„Es sind vor allem die Veränderungen, die mir an mir selbst auffallen.“
Fast neun Monate lebt Amin nun bei uns. Wenn er mich heute anschaut, dann erlebe ich viel Offenheit, viel Vertrauen. Vielleicht haben wir das zusammen geschafft, was Bodo Kirchhoff, Träger des Deutschen Buchpreises 2016, in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 20.10.2016 formulierte: »Wenn ich in mein Leben einen Anderen oder die Liebe hineinlasse, dann ändert sich alles. Dieses Öffnen der eigenen Tür, das Hereinlassen des Anderen im Privaten, ist im Kleinen genau dasselbe wie das Hereinlassen des Fremden im Großen. Es bedeutet, dass ich nicht bleiben kann, wie ich bin…« Ich finde, es ist sehr treffend formuliert. Es sind nicht nur die Veränderungen, die Amin an sich feststellt, sondern es sind vor allem die Veränderungen, die mir an mir selbst auffallen. Plötzlich lese ich ein Buch einer iranischen Journalistin, das mich vor Jahren nicht interessiert hätte. Ja, der Horizont weitet sich und auch die Toleranz, unterschiedliche Ansätze im Leben wahrzunehmen und auch zu akzeptieren. Es ist schön, dass Amin bei uns ist – ein Gefühl, von dem ich hoffe, dass es mehr ist, als nur eine Momentaufnahme.
Nachtrag im März 2017
Heute muss ich sagen: Es war schön, dass Amin bei uns war und uns fast ein Jahr mit seiner Anwesenheit, mit seinem Anders sein bereichert hat. Ende Februar 2017 ist er auf eigenen Wunsch, für uns sehr plötzlich, ausgezogen. Wir sind uns nicht sicher, wo die eigentlichen Gründe für diese Entscheidung liegen. Aber letzten Endes ist das auch nicht so wichtig. Wir haben uns zusammen bemüht und konnten ihn hoffentlich in seiner weiteren Integration in dieses Land unterstützen. Es war für ihn und auch für uns eine neue Erfahrung, die mein Mann und ich nicht missen wollten.
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Doro Paß-Weingartz gehörte zu den Gründern der GRÜNEN in Bonn und auf Bundesebene, von 1984 bis 2015 war sie Mitglied im Rat der Stadt Bonn, von 1994 bis 1999 war sie hier Bürgermeisterin.
Der Text ist eine gekürzte, um den Nachtrag erweiterte Fassung von: Doro Paß-Weingartz, Amin, in: Dies./Ellen Klandt (Hrsg.), Wir machen das. Leben mit Flüchtlingen, Bonn 2017, 18-29.
Bild: Wilhelmine Wulff; pixelio.de