Das Einhorn und die Theologie – wie geht das zusammen? Teresa Schweighofer erkundet einen Möglichkeitsraum.
Das Einhorn ist allgegenwärtig: als Aufdruck auf T-shirts, Taschen und Postkarten, als Held_in in TV-Serien, in Spielzeugläden oder als Werbeträger für Schokolade, Duschgel und Kondome. Überall tauchen sie auf, die Tiere, die es nicht gibt (Rilke, Sonette an Orpheus). Auch auf Kostümpartys waren in dieser Faschingssaison Einhörner angesagt. Das Einhorn feiert ein Revival. Allerdings weniger als heroisches, weiß glänzendes, stolzes Ross mit Horn, sondern eher in Form von Einhornponys, etwas pummelig mit Schokokekskrümel im Fell, einer wild flatternden Regenbogenmähne und frechen Sprüchen im Maul. Dass dieser Trend aber nicht nur unter Mädchen verbreitet ist, sondern auch erwachsene Frauen – und sogar manche Männer – erreicht hat, zeigt sich nicht zuletzt an den verschiedenen Konfektionsgrößen, in denen man Kleidung mit Einhornprint kaufen kann.
„Fluffige Tierchen im Grundkurs Praktische Theologie“
Kein Wunder also, dass das fluffige Tierchen auch bei Studierenden der Uni Tübingen auf Interesse stößt. Im Rahmen des Grundkurses Praktische Theologie forderten sie mich deshalb mit der Frage nach der theologischen Relevanz dieses Phänomens heraus und wollten wissen, was – wenn sich dieses Fach schon auf die Fahnen schreibt fast alles zum Thema machen zu können – die (Praktische) Theologie zur Trenderscheinung Einhorn zu sagen hat.
Ausgang unserer Überlegungen war die Erhebung der Einstellung zum Einhorn unter Studierenden und Lehrenden der Theologie in Tübingen. Gefragt waren erste Assoziationen und bereits bekannte theologische Querverbindungen. Wenig überraschend konnten alle Befragten gleich mehrere erste Assoziationen benennen – und das obwohl noch niemand einem leibhaftigen Einhorn begegnet ist – aber nur wenige hatten das Einhorn bisher mit christlicher Theologie in Verbindung gebracht. Üblicherweise ist es auch nicht Teil der theologischen Lehrpläne und nicht wenige der Befragten assoziieren mit dem Einhorn Aberglaube, Esoterik, irische oder nordische Mythen. Viele sehen das Einhorn im klaren Gegensatz zu christlicher Theologie. Umso überraschender, dass sich gleich mehrere Einhorn-Spuren in den theologischen Archiven finden lassen.
Das Einhorn in der Bibel
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts war das Einhorn sogar in der Bibel vertreten: „Meinst du das Einhorn werde dir dienen und werde bleiben an deiner Krippe? Kannst du ihm dein Seil anknüpfen, die Furchen zu machen, dass es hinter dir brache in Tälern?“ (Hiob 39,9f.) Noch in der Luther-Übersetzung von 1912 wird das hebräische „re’em“ mit Einhorn übersetzt. Die Elberfelderübersetzung benutzt dafür den Begriff „Wildochs“, die Einheitsübersetzung „Wildstier“. Luther folgte in der Übersetzung der Septuaginta, die dafür den griechischen Begriff “monokeros“ verwendet; die Vulgata wiederum übersetzte wörtlich mit „unicornus“ bzw. „rhinoceros“. Der Sache nach sind sich die Übersetzungen übrigens einig – es geht um ein unzähmbares Tier, das „groß, gehörnt, ungeeignet als Haustier und so imposant zu sein hat, dass (…) es als ein Symbol großer Macht“ fungieren kann. Mit dem höchst seltenen, magischen Fabeltier hat dieses „re’em“ jedoch wenig zu tun.
Das taucht etwa um 400 v. Chr. erstmals schriftlich in einem Text von Ktesias von Knidos auf: „In Indien gibt es wilde Esel, die den Pferden gleich, nur größer sind; der Leib ist weiß, der Kopf purpurrot, die Augen dunkelblau; auf der Stirne haben sie ein Horn von der Länge einer Elle.“ Und diesen wilden Eseln, oder genauer ihren Hörnern wird bereits eine heilende Wirkung zugesprochen: „Abgefeilte Teilchen desselben werden in einen Trank getan und sind ein Schutzmittel gegen tödliche Stoffe (Gifte); (…) Diejenigen nun, welche aus den aus diesem Horne gefertigten Bechern trinken, werden weder von Krämpfen noch von der heiligen Krankheit (Epilepsie) befallen. Aber auch die Gifte wirken nicht auf sie, weder wenn sie dieselben vor, noch wenn sie sie nach Wein oder Wasser oder anderen Stoffen trinken.“
Aphrodisierende Wirkung
Aber nicht nur die Heilkräfte des Einhorns machten es so wertvoll, auch eine gewisse aphrodisierende Wirkung wurde dem Einhorn schon früh nachgesagt. Das überrascht aufgrund des phallischen Alleinstellungsmerkmals auch nicht besonders und bereits unter den frühesten Einhornfabeln finden sich sehr erotisch ausgeschmückte Fangerzählungen, und zwar sowohl im ostasiatischen Raum (Legende von Rishyasringa) als auch in verschiedenen Ausgaben des Physiologus , einer frühchristlichen Naturlehre aus dem 2.-4. Jahrhundert, die vor allem das westliche Abendland nachhaltig prägte.
Im Physiologus und den daraus entstandenen Bestiarien findet sich auch eine besonders wirkungsreiche Erweiterung der Einhornerzählung – nur eine Jungfrau kann es einfangen und zähmen: „Wie aber wird es gefangen? Man legt ihm eine reine Jungfrau, schön ausstaffiert in den Weg. Und da springt das Tier in den Schoß (an den Busen) der Jungfrau, und sie hat Macht über es und es folget ihr, und sie bringt es ins Schloss zum König.“ In vielerlei Ausgestaltung findet sich diese innige Beziehung von Einhorn und Jungfrau und auch in der bildenden Kunst hat sich das Motiv der Jungfrau, die das Einhorn liebkost, weit verbreitet.
Populäre Theologie des Spätmittelalters
Umso spannender ist es, dass im Laufe der Jahrhunderte das Einhorn zum Symbol der Reinheit und Jungfräulichkeit schlechthin aufstieg und das erotische Moment dieser Fangerzählungen in den Hintergrund gedrängt wurde. Aus der Jungfrau mit dem Einhorn wurden Darstellungen von der Menschwerdung Christi. So wie in diesem Fresko in der Frauenkirche zu Memmingen wird die Verkündigungsszene im 15. und 16. Jahrhundert häufig als Jagd dargestellt: Jesus auf dem Rücken des Einhorns reitet direkt auf Maria zu, gejagt vom Engel Gabriel, der von Jagdhunden begleitet wird: Populäre Theologie des Spätmittelalters.
Die Verbindung von Christus und Einhorn stellt übrigens schon der Physiologus her: „Dies wird nun übertragen auf das Bildnis unseres Heilands. Denn es wurde auferweckt aus dem Hause David das Horn unseres Vaters, und wurde uns zum Horn des Heils. Nicht vermochten die Engelsgewalten ihn zu bewältigen, sondern er ging ein in den Leib der wahrhaftig und immerdar jungfräulichen Maria, und das Wort ward Fleisch, und wohnet unter uns.“
Das Einhorn als Symbol für Jesus Christus – und zwar in einer der weitverbreitetsten Schriften der Antike und des Mittelalters.
Von den Kirchenväter bis Trient
Auch bei den Kirchenvätern wird man fündig. Bei Justinus findet sich eine christologische Deutung des Einhorns: „Man dürfte nämlich sagen und erklären, dass die Hörner des Einhorns (monoceros) einzig und allein den Typus auf das Kreuz darstellen. Denn der eine Balken (des Kreuzes) ist senkrecht, und auf ihm liegt, wenn der andere Balken angefügt ist, der obere Teil quer herüber wie ein Horn; die beiden Arme (des Querbalkens) sehen aus, wie wenn zwei Hörner zu einem einzigen verbunden wären. Der Holzpflock, welcher in der Mitte (des senkrechten Balkens) befestigt ist, und auf welchem die Gekreuzigten sitzen, tritt ebenfalls wie ein Horn hervor. Er wird auch als Horn angesehen; denn er ist gemacht und eingefügt wie sonst die Hörner.“
Eine weitere Verbindungslinie sahen beispielsweise Tertullian und Ambrosius in den Begriffen „unigenitus“ (eingeboren) und unicornus, was wiederum auf Christus hinauslief. Und diese Liste von Querverbindungen ließe sich anhand weiterer theologischer Texte und vor allem bildlicher Darstellungen noch eine Weile so weiterführen.
Ein vorläufiges Ende der Verbindung von Einhorn und Christus bzw. Maria brachte übrigens das Konzil von Trient, das diese Symbolisierung untersagte aus Rücksicht auf die Anliegen der Reformation. Überhaupt war die Neuzeit keine gute Zeit für das Einhorn – dem Siegeszug der modernen Naturwissenschaften fiel auch dieses Fabeltier immer mehr zum Opfer, immerhin hatte es ja schon sehr lange niemand mehr zu Gesicht bekommen und mit der Zeit führte es eine gesellschaftliche Randexistenz. Vermutlich sogar bis Peter Beagle ihm 1965 in seinem Roman „The last unicorn“ wieder eine große Bühne bot. Seither geistert es als heilsames Krafttier durch die diversen esoterischen und spiritistischen Angebote.
Das Reine und das Sanfte, das Unabhängige und das Stolze
Gegenwärtig aber steht das Einhorn wieder für Mehr: Für das Reine und Sanfte, für das Unabhängige und Stolze, für das Kitschige und Mädchenhafte. Es ist Symbol für die Sehnsucht nach glitzernder Harmonie und Leichtigkeit, vielleicht auch einer verlorenen Unschuld. Und es zeigt das Wiedererstarken von Geschlechterstereotypen an – oder würden Sie ihrem Neffen ein Einhornkuscheltier kaufen? Für den nordkoreanischen Diktator Kim Yong Un steht es wohl für seinen eigenen Machtanspruch, immerhin haben Archäologen in seinem Land ein einmaliges Einhornnest gefunden. Für den Philosophen Markus Gabriel ist es ein wunderbares Beispiel für die Erklärung von Sinnfeldern innerhalb seines Neuen Realismus. Und es ist nicht zuletzt ein Wirtschaftsfaktor. Bleibt die Frage offen: Was sehen Sie im Einhorn und was kann die Theologie heute darin entdecken?
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