Basilius J. Groen zu einem ebenso untrennbaren wie oft übergangenen Zusammenhang.
Als ich im April zwei Wochen als Gastprofessor in Rom war, fielen mir vielerorts die zahlreichen Aufrufe und Veranstaltungen über das von Papst Franziskus ausgerufene ‚Jubiläumjahr der Barmherzigkeit‘ auf: Ansichtskarten, Büchlein, Sonderbriefmarken, Erklärungen über Heilige Pforten und Ablässe und vieles mehr. Wenn Pilger/innen sakramental beichten, zur Kommunion gehen oder an einer Wort-Gottes-Feier teilnehmen, die jedoch bestimmten Bedingungen entsprechen sollte, und dann durch eine der zurzeit sechs sich in Rom befindenden Heiligen Pforten gehen, können sie einen Sonderablass bekommen, vorausgesetzt sie verrichten auch Werke der Nächstenliebe und Buße, denn auch so zeige sich Gottes Erbarmen.
Auch Österreich beteiligt sich nach Kräften am ‚heiligen Jahr‘. In der steirischen Diözese gibt es beim Eingang von über vierzig Kirchen blaue Fahnen mit dem Wort ‚Barmherzig‘ in Großbuchstaben und in Kleinbuchstaben die Worte ‚Wir Gott mir, so ich dir‘. Blaue Teppiche mit dem Wort ‚Barmherzig‘ darauf führen zur Tür der Kirche. Auf den ersten Blick sieht es eindrucksvoll und wunderbar aus. Es gibt auch schöne Tafeln, auf denen die sogenannten ‚körperlichen‘ und die ‚geistlichen‘ Werke der Barmherzigkeit aufgelistet werden.
Für viele Christen und Christinnen haben Liturgie und Caritas nicht viel miteinander zu tun. Sie hängen jedoch untrennbar zusammen.
Ich habe bei all dem zwiespältige Gefühle: hinsichtlich der Ablässe wie auch hinsichtlich der Beziehung zwischen der heiligen Pforte, der Liturgie und dem Verrichten von Werken der Barmherzigkeit. Auf das komplexe und ökumenisch recht kontroverse Thema der Ablässe kann ich hier nicht weiter eingehen, dafür aber auf einige Fragen über die Verschränkung zwischen Liturgie und Diakonie.
Lassen die am Gottesdienst Teilnehmenden sich von der heiligen Pforte und ihrem Aufruf, gute Werke zu verrichten, berühren? Geht die skizzierte Szene wirklich in die Tiefe und ‚bekehren‘ unsere Herzen sich? Oder handelt es sich nur um eine ‚schöne Performance‘? Und wenn das Wort ‚barmherzig‘ in aller Munde ist, verliert es dann nicht seine Kraft? Für viele Christen und Christinnen haben Liturgie und Caritas leider nicht viel miteinander zu tun, weil sie meinen, Liturgie sei etwas völlig anderes als Diakonie. Sie hängen jedoch untrennbar zusammen.
Liturgie ist der rituell gefeierte Dialog zwischen Gott und Mensch, in dem Gott das erste und letzte Wort hat und die Menschen in der von Gott gerufenen Versammlung antworten – und das in einer Vielfalt von Formen. Im Zentrum der Feier stehen die großen in der Bibel bezeugten Taten Gottes: Schöpfung, Gottes Unterwegssein mit Abraham und Sarah sowie mit den anderen Erzeltern, der Auszug aus Ägypten, die Befreiung von Unterdrückung, der Bundesschluss auf dem Berg Sinai, die neue Freiheit der Kinder Gottes sowie das Leben Jesu, nämlich wie er wohltuend und heilend handelte, Unrecht anklagte, sich völlig hingab, bis zum furchtbaren Leiden und Tod, und hingerichtet wurde. Gott weckte seinen Sohn jedoch auf und der Heilige Geist vermittelt uns das wahre Leben in Christus.
Liturgie: der rituell gefeierte Dialog zwischen Gott und Mensch, in dem Gott das erste und letzte Wort hat.
Diese ‚Daten‘ sind nicht bloß Geschichte, sondern in der liturgischen Feier werden die Gläubigen Teilnehmende an diesen Ereignissen: Sie geschehen sozusagen heute, hier und jetzt. Im Gottesdienst wird Gottes Wort den Menschen verkündet, die hier und jetzt leben; Jesu Christi Selbst-Hingabe wird in jeder liturgischen Versammlung gedacht. Der Heilige Geist macht die historischen Grundlagen unseres Glaubens in der aktuellen Zelebration deutlich und befähigt die Gemeinde, in die Zukunft Gottes einzutreten.
Die Worte hodie und sêmeron (‚heute‘), die in zahlreichen lateinischen und griechischen Gesängen und Gebeten vorkommen, implizieren, dass durch anamnêsis (‚in Erinnerung rufen‘ und dadurch gegenwärtig machen) und epiklêsis (‚Anrufung des Hl. Geistes‘ zur Metamorphose der Gemeinde) sowohl die ‚Vergangenheit‘ Gottes als auch die ‚Zukunft‘ Gottes in diesem Moment den Gläubigen offengelegt werden. Liturgie ist eine Hauptquelle für die Erfahrung der Begegnung zwischen Gott, Mensch und Welt, für die Erfahrung der Vision eines neuen Himmels und einer neuen Erde.
Das liturgische ‚Heute‘ beinhaltet auch einen ethischen Auftrag: Der Gottesbund muss unbedingt in Liebestaten umgesetzt werden. Vom Geist Gottes angeregt klagt deshalb die Liturgie idealiter Unrecht und Chaos an, sie thematisiert die Erfahrung der Befreiung durch Gott aus dem Sklavenhaus, aus Armut und Hunger, und vermittelt die Vision von Freiheit, Nahrung und Unterkunft für alle – nicht nur für Katholiken und Katholikinnen bzw. Christen und Christinnen, sondern für alle –, die Vision von Leben in Frieden und Gesundheit, Zusammenleben in Solidarität, Versöhnung, Erbarmen und Treue, die Vision von einer neuen Welt und einem neuen Bund. Dies geschieht in der Liturgie immer wieder aufs Neue: Tradition und Gegenwart, alte und neue Erfahrungen müssen miteinander verknüpft werden. Liturgie sollte daher in einem ständigen Aggiornamento gefeiert werden.
Das liturgische ‚heute‘ beinhaltet einen ethischen Auftrag: Der Gottesbund muss unbedingt in Liebestaten umgesetzt werden.
Im Gottesdienst stehen die Gläubigen vor dem Angesicht Gottes. Der ‚ewige Schoß des Erbarmens und der Gerechtigkeit‘ (frei nach dem niederländischen Dichter liturgischer Poesie Huub Oosterhuis) zeigt sich ihnen und redet sie persönlich an. In den Schriftlesungen erfahren sie das auch an sie gerichtete Wort des Herrn. Für das Gottesgeheimnis sind sie ‚Du‘ und in den Orationen wird der ‚Heilige Israels’ (wie Jesaja Gott bezeichnet) selbst als ‚Du‘ angesprochen. In der Eucharistie sowie in den übrigen zentralen rituellen Lebensvollzügen der Kirche – in den Sakramenten – werden die Teilnehmenden sozusagen zu ‚Mitspielenden‘ Gottes, indem sie ihr gottesdienstliches Handeln an die fundamentalen Heilszeichen Jesu binden.
Im eucharistischen Hochgebet wird dankbar der Geschichte Gottes mit den Menschen gedacht, deren Höhepunkt im Paschamysterium erkannt wird, d.h. im Leben Jesu, in seiner Hingabe an seine Mitmenschen, seinem Dienst an den Armen, seiner Sendung durch seinen himmlischen Vater sowie in seinem Tod und seiner Auferstehung. Es geht hier auch um die Metamorphose, die Transformation aller, um die ‚Wandlung‘. Diese vom Heiligen Geist bewirkte radikale Veränderung, Transsubstantiation ist nicht auf die eucharistischen Gaben beschränkt, sie betrifft auch die Teilnehmenden selbst, ja die ganze Welt. Die drei Dimensionen – also die Wandlung der Gaben, die des teilnehmenden Volkes Gottes sowie die der ganzen Erde – gehören untrennbar zusammen.
Die vom Heiligen Geist bewirkte radikale Veränderung ist nicht auf die eucharistischen Gaben beschränkt, sie betrifft auch die Teilnehmenden selbst, ja die ganze Welt.
Der Kommunionempfang verbindet uns mit dem Geber des Lebens und miteinander. Die Liturgie stiftet also Gemeinschaft und ist ein Ort par excellence, an dem der Dialog zwischen ‚Ich‘ und ‚Du‘, Gott und Mensch, Mensch und Mensch, Mensch und Tier stattfinden kann. Dieser Dialog kann jedoch nur wachsen, wenn alle Geschöpfe konkret an Gottes Liebe teilhaben können, wenn durch Menschenhände Gottes Zuwendung konkret vermittelt wird, wenn Kinder und Erwachsene nicht länger ein aufgrund von Hunger, Durst und ärztlicher Unterversorgung elendes Leben führen oder sterben müssen.
Gottesliebe und Nächstenliebe sind zwei Seiten derselben Medaille. Dabei darf jedoch ein ‚eschatologischer Vorbehalt‘ nicht übersehen werden: Das menschliche Wirken ist vorläufig, seine Vollendung liegt in der Zukunft, in Gottes Hand. Ein solcher Vorbehalt bewahrt vor einem – übrigens unmöglichen – menschlichen ‚Heilsstaat‘, impliziert jedoch nicht, dass das menschliche Tun irrelevant ist.
Wenn das gefeierte und das gelebte Wort Gottes getrennt werden, läuft die Liturgie Gefahr, Nabelschau und ‚dröhnendes Erz‘ zu werden (vgl. 1 Kor 13,1).
Aus dieser Kurzbeschreibung wesentlicher Merkmale der Liturgie wird die enge Verbindung zwischen Gottesdienst und Diakonie deutlich. Das im Gottesdienst gefeierte Wort Gottes, das in der Caritas gelebte Wort Gottes sowie das in der Katechese, der Exegese und im Lehrhaus (beth-hamidrasch) gehörte und erklärte Schriftwort sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn sie getrennt werden, läuft die Liturgie Gefahr, nur Nabelschau und ‚dröhnendes Erz‘ zu werden (vgl. 1 Kor 13,1). In diesem Fall trifft die prophetische und jesuanische Kultkritik zu. Diese Kritik ist immer eine kritische Anfrage an jede christliche Liturgie.
Caritas, Diakonie und Armutslinderung sind keine Angelegenheiten, die von außen an die Liturgie herangetragen werden müssen, sondern sie sollten unveräußerliche Dimensionen des Gottesdienstes selbst sein. Sie gehen aus der Liturgie hervor und werden an sie rückgekoppelt. Dabei geht es nicht darum, die Liturgie zu instrumentalisieren – Liturgie ist ein zweckfreies heiliges Spiel –, sondern um die Solidarität Gottes mit den Armen, wie sie vielerorts in der Bibel zum Ausdruck kommt. Jesu Ruf zur Nachfolge und Nächstenliebe sind Hauptdimensionen des Gottesdienstes. Sie können nicht davon getrennt werden und brauchen die Umsetzung in konkrete karitative Maßnahmen. Natürlich ist die Feier selbst kein Rezeptbuch für konkrete Aktionen, aber der Heilige Geist vermittelt in ihr die Vision, die das sozialethische und moralische Handeln trägt.
Auch die Caritas hat sakramentale Züge, indem sie den Bedürftigen Christus zeigt und ihn vermittelt. Ihrerseits sind die Bedürftigen selbst Orte der Offenbarung und haben selber sakramentale Würde. Laut dem Matthäusevangelium ist die Weise, wie man mit den Notleidenden umgeht, das wichtigste Kriterium beim Jüngsten Gericht (Mt 25,31-46). Das Zeugnis und die Klage der Armen sind vorrangige Orte des Evangeliums und daher dürfen sie in der Liturgie nicht fehlen.
Die Caritas hat sakramentale Züge, indem sie den Bedürftigen Christus zeigt und ihn vermittelt.
Es ist nicht nur so, dass die Art, wie gebetet und gefeiert wird, den Glauben bestimmt bzw. bestimmen sollte, sondern auch, dass diese beiden Aspekte die Art des Handelns und Lebens festlegen, und umgekehrt: Die richtige Handlungs- und Lebensweise bestimmt die richtige Feier- und Glaubensweise. Orthodoxie und Orthopraxie hängen wesentlich zusammen, letztere ist nicht weniger wichtig als Erstere. Mit anderen Worten: Kontemplation und Aktion, Mystik und soziales Handeln, Liturgie und Caritas gehören zusammen. Liturgie hört nicht an der Kirchentür auf. Es gibt auch eine ‚Liturgie nach der Liturgie‘, eine ‚Messe vor der Messe‘ und eine ‚Messe nach der Messe‘.
Das ‚Jubiläumsjahr der Barmherzigkeit‘ zeichnet sich durch ein vielfältiges rituell-liturgisches Angebot aus: Wallfahrten, Bußfeiern und Beichte, Messen, heilige Pforten und vieles mehr. Eine primäre Frage ist, was wir innerlich erfahren, wenn wir über den blauen Teppich mit dem Wort ‚barmherzig‘ und durch die ‚heilige Pforte der Barmherzigkeit‘ in die Kirche hineingehen. Verändert sich der Gottesdienst dadurch für uns? Oder bleibt alles, wie es war? Wie können wir jedoch die Wandlung feiern, ohne selber gewandelt zu werden?
(Photo: Rainer Bucher)