Die Pandemie hat uns im Griff und versorgt uns täglich mit neuen Aufregern. Warum ist das so? Welche unerhörte Macht ist hier am Werk? Es hat etwas gedauert, bis ich das auf den Begriff bringen konnte. Von Hildegund Keul
In den letzten Monaten verging kein einziger Tag, buchstäblich kein einziger, an dem ich nicht an Corona gedacht, im Radio von der Pandemie gehört, im Internet darüber gelesen oder per Telefon, Zoom, Mail darüber gesprochen hätte. Den meisten Menschen in Deutschland geht es genauso.
Vulnerabilität – ein neues Dispositiv
Eine unerhörte Macht geht hier ans Werk, die einfach alles durchdringt. Das persönliche Leben, die gesellschaftlichen Verwerfungen, die politischen Turbulenzen. Die erregten Debatten am Frühstückstisch, die überquellenden wissenschaftlichen Publikationen, der alltägliche Streit um die richtigen politischen Entscheidungen. Über allem droht wie ein Damoklesschwert das Corona-Virus mit seiner Fähigkeit, Menschen zu verletzen, krankzumachen oder gar zu töten. Das Virus legt die Menschheit in ihrer Verwundbarkeit bloß. Dies betrifft aber nicht nur die körperliche Unversehrtheit, sondern auch die Ökonomie, das Gesundheitssystem, die Stabilität politischer Verhältnisse, den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie alle werden in ihrer Verwundbarkeit bloßgestellt. Es ist kein Zufall, dass die Rede von ‚vulnerablen Gruppen‘ den wenig griffigen Fachbegriff ‚Vulnerabilität‘, der zuvor nur in bestimmten Wissenschaftskreisen geläufig war, in die Alltagssprache einging.
Die unerhörte Macht der Vulnerabilität …
Im Kern der Pandemie agiert die unerhörte Macht der Vulnerabilität. Sie formatiert unseren Alltag neu, wo plötzlich gilt: Abwendung ist Zuwendung. Sie verändert unseren Arbeitsalltag, unsere Familienfeiern, unsere religiösen Rituale. Ihre unerhörte Macht verkörpert sich sogar in Architekturen: Krematorien, in denen sich die Särge stapeln, wurden zum Symbol der Pandemie; eilig errichtete Notfall-Krankenhäuser sollten das Schlimmste verhindern; neue Impfzentren werden zu Hoffnungsorten gegenüber diesem Virus, das seinen globalen Auftritt mit gefährlichen Mutanten belebt. Auch die Massengräber auf der „Insel der Toten“ in New York, neue Corona-Friedhöfe mit unzähligen Toten sind Heterotopien, in denen sich die Vulnerabilität der Menschheit auf besonders prekäre Weise verkörpert.
… ein heterogenes Ensemble
Wenn man über das Funktionieren von Macht mehr erfahren will, hilft häufig ein Griff zum Werk von Michel Foucault. Über seinen damals neuen Begriff „Dispositiv der Macht“ befragt, antwortete er 1977:
„Was ich unter diesem Titel [Dispositiv] festzumachen versuche ist erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt. Soweit die Elemente des Dispositivs.“1
Da stimmt einfach alles, natürlich auch die bislang unerwähnten Gesetze und administrativen Maßnahmen. Mit Blick auf die Verschwörungstheorien könnte man dem Gesagten und Ungesagten noch das Unsäglich hinzufügen.
… Antwort auf eine urgence
„Drittens verstehe ich unter Dispositiv eine Art von – sagen wir – Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion.“2
Das Vulnerabilitätsdispositiv gibt Antwort auf den Notstand der Pandemie. Selbstverständlich war Vulnerabilität schon vor 2020 ein Thema. Aber erst das Virus hat aus ihr ein Machtdispositiv kreiert, das jenes von Michel Foucault analysierte Sicherheitsdispositiv flankiert und wahrscheinlich langfristig die Landschaft der Dispositive verändern wird. Mit Vulnerabilität wird zukünftig ganz anders Politik zu machen sein. Dispositive sind für jede Wissenschaft entscheidend. Denn Gesellschaftsrelevanz lässt sich nur im Blick auf Dispositive erlangen, die die Gesellschaften von Grund auf verändern, die zu Konflikten führen und im Alltag genauso wie in der globalen Politik umstritten sind. Gesellschaftsrelevant wird eine Wissenschaft, wenn sie das, was sie zu sagen hat, in einem Dispositiv zur Wirkung bringen kann. Die Virologie führt dies alltäglich, spätestens mit dem wöchentlichen NDR-Podcast, vor Augen.
Und die Theologie? Die Kirche?
Das Verhältnis von Theologie und Kirche zu den Dispositiven unserer Gesellschaft gestaltet sich, sagen wir, schwierig. Beim Sexualitätsdispositiv muss man das blanke Versagen konstatieren. Offensichtlich ist dies beim sexuellen Missbrauch von Kindern durch Priester und seiner Vertuschung, aber auch die erneute Ablehnung der Segnung gleichgeschlechtlich liebender Paare trägt zu diesem Versagen bei. Dass der Widerstand dem gegenüber sicht- und hörbar wird, macht Hoffnung, dass die Kirche bald zu dem findet, was sie im Sexualitätsdispositiv zu sagen hat – weil es die Menschen von heute weiter führt in den Fragen, die sie bewegen.3
Mit dem Dispositiv der Vulnerabilität eröffnet sich für Theologie und Kirche eine neue Chance. Wie kann sie das, was sie hier zu sagen hat, gesellschaftlich zur Wirkung bringen? In der Osterzeit braucht man nicht eigens zu betonen, dass Vulnerabilität zu den Kernthemen der Theologie gehört. „Die Kreuzigung ist die Wunde, durch die der Gläubige mit Gott kommuniziert“4 sagt Georges Bataille. Aber das ‚zur-Wirkung-bringen‘ ist trotzdem nicht so einfach, das hat die Pandemie gezeigt. Auf welche Frage, auf welches Problem, das sich im Vulnerabilitätsdispositiv zeigt, kann die Theologie eine Antwort geben, die für sie selbst überraschend ist, weil sie ihre Antwort erst im Blick auf das Dispositiv entdeckt?
Das Verletzlichkeitsparadox
Ein Ansatzpunkt ist das Verletzlichkeitsparadox, das sich in der Pandemie allerorten zeigt. Das Paradox besagt, dass der Versuch, Verwundbarkeit durch besonders starke Sicherungssysteme zu reduzieren, in dem Fall, dass der Schaden dennoch eintritt, zu einem noch größeren Schaden führt. Die Regeln zur Impfung sind in Deutschland so ausgeklügelt und so gegen alle Seiten abgesichert, dass die Impfung nur schleppend vorankommt, was der „dritten Welle“ Vorschub leistet. Auch die Pandemie selbst ist das Ergebnis dieses Paradoxes, denn Pandemien, also weltweite Epidemien, gibt es erst, seit die Menschheit global vernetzt ist. Die Problematik verschärft sich durch die sozialpsychologischen Folgen. In gut gesicherten Gesellschaften sinkt die Bereitschaft der Bevölkerung, selbst aktiv zu werden und an der Bewältigung der Krise mitzuwirken. Hört man sich die öffentlichen Debatten der letzten Wochen an, könnte man meinen, dass nicht der Hunger, sondern der Urlaub das größte Problem der Menschheit sei.
Das Verschwendungsparadox
Überspitzt ausgedrückt bedeutet das Verletzlichkeitsparadox: je besser abgesichert, desto vulnerabler. Sicherheitsstrategien erzeugen neue Verwundbarkeiten. Aber es gibt auch eine Gegenbewegung, und diese Gegenbewegung kann die Theologie in das Vulnerabilitätsdispositiv einbringen: das Verschwendungsparadox. Hier geht es nicht um den Schadensfall, sondern um den Glücksfall, wo aus Verlust nicht Destruktion entsteht, sondern Schöpfung. Schöpfung durch Selbstverschwendung. Hierfür steht das Osterfest, denn am Kreuz Jesu geschieht Lebensgewinn durch Lebensverlust. Dieser Glücksfall tritt jedoch nicht dort ein, wo man die Lebensressourcen andere Menschen opfert, sondern wo man bereit ist, selbst Verwundbarkeit zu wagen.
Ruhetage an Ostern
Auch dafür gab es in den letzten Tagen ein beredtes Beispiel. Die Bundeskanzlerin hatte die Kirchen gebeten, an Ostern auf Präsenzgottesdienste zu verzichten. Damit könnte sie einen Beitrag zur Eindämmung der „dritten Welle“ leisten. Die Bitte um Ruhetage an Ostern eröffnete die Chance, mit einem schmerzlichen Verlust dem Leben zu dienen. Die Kirche konnte für das einstehen, worum es an Ostern geht. Sie hätte zum leuchtenden Vorbild werden können für das, was die Pandemie dringend braucht: Keine Empörungsrhetorik, sondern die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Rituale zum Wohl einer Gemeinschaft zu verschwenden.
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Text: Dr. Hildegund Keul ist apl. Professorin für
Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg und leitet das Projekt „Verwundbarkeiten. Eine Heterologie der Inkarnation im Vulnerabilitätsdiskurs“, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 389249041.
Neu: Hildegund Keul (Hg.): Theologische Vulnerabilitätsforschung. Gesellschaftsrelevant und interdisziplinär. Stuttgart: Kohlhammer
Bild: Roland Striegel, Der Stein, Kloster Helfta.
- Foucault, Michel 1978. Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 119f. ↩
- Foucault, Michel 1978. Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit. Berlin: Merve, 120. ↩
- Auch hierbei spielt Vulnerabilität eine entscheidende Rolle, denn die Machtdispositive sind vielfältig miteinander verbunden. Dass die römisch-katholische Kirche global dazu beiträgt, dass gleichgeschlechtlich liebende Menschen zu einer sozial hoch vulnerablen Gruppe gemacht werden, ist ethisch nicht vertretbar. ↩
- Bataille, Georges: Die Freundschaft. München: Matthes & Seitz 2002, 44. ↩