Immer mehr Diözesen und Landeskirchen starten Organisationsentwicklungsprozesse. Rainer Bucher zu dem, was dabei möglich ist und was nicht – und was unbedingt vermieden werden sollte.
Organisationen neigen dazu, die Relevanz ihres Außen zu unterschätzen. Erst wenn von diesem Außen massive, potentiell existenzgefährdende Signale ins Innen der Organisation gespiegelt und dort auch wahrgenommen werden, reagieren Organisationen mit institutionellem Umbau.
Im Falle der katholischen Kirche unserer Breiten gibt es viele solcher Signale. So verloren die Pfarrgemeinden seit 1950 über 70 Prozent an Reichweite, gefährdet der Rückgang der Taufquoten langfristig die institutionelle Stabilität der Kirche und werden die Sakramente nur noch selektiv und mit oft sehr eigenwilligen Sinnzuschreibungen genutzt. Unübersehbar ist auch, dass sich eine Vielzahl von (Lebenstil-)Milieus unserer Gesellschaft kaum mehr in kirchlichen Räumen (wieder-)finden. Offenkundig kann die organisierte Kirche die Vielfalt heutigen Lebens nicht mehr adäquat abbilden.
Religiöse Organisationen organisieren das Unorganisierbare.
Die typisch kirchliche Trias von exklusiver Mitgliedschaft, lebenslanger Gefolgschaft und umfassender religiöser Biografiemacht schwindet unwiederbringlich dahin. Es gilt: „Der Mantel passt nicht mehr. Alle Energie geht in die ‚Produktion‘, in überkommene Standards für ein Publikum, das in zehn Jahren nicht mehr sein wird. Das geschieht zu allem Überfluss in einer überdimensionierten und dazu kaum noch anschlussfähigen ‚Vertriebsstruktur‘, deren Aufrechterhaltung den größten Teil der Ressourcen in Anspruch nimmt. Für Lernen und Innovation bleibt keine Zeit.“[1] (Valentin Dessoy)
Eine Organisation, die auf diese völlig neue Situation nicht reagiert, wird marginalisiert werden und irgendwann in der Bedeutungslosigkeit versinken. Insofern sind diözesane Organisationsentwicklungsprozesse notwendig und begrüßenswert und ein Signal dafür, dass auch in der katholischen Kirche irgendwann Rückkopplungsschleifen greifen.
Freilich: Religiöse Organisationen organisieren das Unorganisierbare: persönliche Frömmigkeit, rituelle Praktiken, Erfahrungen von Umkehr und Gnade, individuelle Nächstenliebe. Sie organisieren also Räume, damit in ihnen geschieht, was nicht organisierbar ist, für das es aber diese Organisation braucht und gibt. Neben dem ebenso berechtigten, wie relativ leicht zu realisierenden Ziel der effizienteren Ressourcenverwendung kann das zentrale Ziel kirchlicher Organisationsentwicklungsprozesse also nur sein, die Chance zu erhöhen, dass in den Räumen der kirchlichen Organisation(en) persönliche Frömmigkeit, rituelle Praktiken, Erfahrungen von Umkehr, Gnade und Nächstenliebe möglich werden. Kirchliche Organisationsentwicklungsprozesse können das „Eigentliche“ nie direkt erreichen und bewirken, wohl aber die Organisation so umbauen, dass sich die Chance erhöht, dass das „Eigentliche“ geschieht.
Die doppelte Rolle der AdressatInnen
Christlich ist dieses „Eigentliche“ die kreative Konfrontation von Existenz und Evangelium in Wort und Tat, im persönlichen wie gesellschaftlichen Wertbereich des menschlichen Lebens. Kirchliche Prozesse müssen also zuerst fragen: Was hindert daran? Und wie verbessern wir die Chance, dass dieses Eigentliche sich ereignet? In postmodernen, also fluiden und unübersichtlichen Zeiten ist dies notwendig nur in einem trial and error-Verfahren möglich.
Im Christentum spielen dabei die HörerInnen der Botschaft eine doppelte Rolle: Sie sind Adressaten und Adressatinnen der Botschaft, aber auch ein wesentlicher Teil ihres Inhalts. Denn die christliche Rede vom gnädigen Gott, der unsere Erlösung will, spricht nicht von einem radikal transzendenten Gott ohne Nähe zu uns, sondern sie redet vom befreienden Gott der konkreten Menschen heute. Die Kirche kann nicht „ihren“ Gott an jenen Menschen vorbei verkünden, an die sie sich wendet. Denn dieser Gott hat sich schon an jene Menschen gewandt, bevor die Kirche es tut. Seine Kommunikation mit ihnen ist früher als ihre.
Die Kirche ist auf den Gott Jesu verpflichtet, der aber ist der Gott aller Menschen und will das Heil aller. Deshalb müssen alle in der Kirche zuhören: auf das Wort Gottes und auf „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (Gaudium et spes 1) der Menschen von heute. Ein wesentliches Ziel eines kirchlichen OE-Prozesses heute muss also sein, drohende Exkulturationsprozesse der Kirche zu stoppen. Das erfordert viel, vor allem einen Habituswechsel weg von aller Erhabenheit hin zu Demut, Aufmerksamkeit und Wagnis.
Finden:
etwas, von dem wir gar nicht zu hoffen wagten, dass wir es bekommen.
Kirchliche Organisationsentwicklungsprozesse scheitern vor dem hier entwickelten Anspruch,
- wenn sie auf die Wiederherstellung einer problemärmeren Vergangenheit („kirchliche Totalinklusion“, Stopp des Nutzungswandels von Religion) durch Aktivierung des verbliebenen Restes hoffen,
- wenn sie sich auf effizientere Ressourcenverwendung beschränken,
- wenn es ihnen nicht gelingt, die eigenen Professionals und aktiven Ehrenamtlichen aus einer extrinsischen Motivation („Wir machen es, weil der Bischof es will“) zu einer intrinsischen Motivation („Wir haben selber etwas davon, und zwar etwas, von dem wir gar nicht zu hoffen wagten, dass wir es bekommen“) zu bringen, und
- wenn sie das Volk Gottes nur als externe „Adressaten“ behandeln und nicht als jene Personen, aus denen die Kirche selber besteht.
Kirchliche Organisationsentwicklungsprozesse sollten sich also gleichzeitig von der typischen kirchlichen Kultur der kommunikativen Asymmetrie wie der typischen Organisationsentwicklerkultur der Machbarkeit lösen.
Organisationsentwicklung ist in Vielem hilfreich. Sie hilft zu problemorientierter Selbstthematisierung und dazu, den systemischen Blick einzuüben. Sie kann auch dazu beitragen, das übliche kirchliche „Halbdunkel“ aufhellen und zu verhindern, dass eigene Sehnsüchte zur Basis kirchlicher Zukunftsgestaltung werden. Und sie kann, wenn es gut läuft, die pastorale Kreativität der MitarbeiterInnen von Lähmungen befreien, deren Ursprungsmotivation, für die Kirche(n) zu arbeiten wiederbeleben und dem Rahnerschen „Tutiorismus des Wagnisses“ zum Durchbruch verhelfen.
Suchen:
nach brauchbarer Unordnung und nach brauchbarer Illegalität.
Theologisch aber geht es vor allem darum, jenen „dritten Raum“ zu eröffnen[2], der sich erst jenseits der zunehmend ausgezehrten traditionell-kirchlichen wie der schnell technokratisch verengten OE-Kultur zeigt. Theologisch gesehen ist dies der Raum des Heiligen Geistes. Der aber hat mindestens drei verstörende Eigenschaften: Er weht, wo er will, hat daher ein eher gebrochenes Verhältnis zu Institutionen, Grenzen und Regeln, und man erkennt ihn nur an seinen Wirkungen.
„Vielleicht ist … dies der Fehler … so vieler Reformversuche der Kirche als Organisation, dass sie nach zu viel Ordnung und zu viel Regelung suchen, wo es doch darauf ankäme, nach brauchbarer Unordnung oder … nach brauchbarer Illegalität‘ zu suchen.“[3] Die Früchte des Geistes aber sind nach Paulus „Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.“ (Gal. 5, 22f.) Das ist der Dritte Raum, um den es geht.
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Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie in Graz und Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Photo: S. Hofschläger; pixelio.de
[1] V. Dessoy, Nur Mut. Vom Pfad abweichen und den Systemwechsel vorbereiten. Wie Kirchenentwicklung in Gang kommen kann, in: heute.glauben.leben. Themenheft der Hauptabteilung Seelsorge Bistum Würzburg, Mai 2015, 6-10.
[2] „Third space“ ist in der Raumsoziologie nach Henri Lefebvre als espace vécu jene Wechselwirkung, die sich zwischen dem espace perçu als dem physisch-erfahrenen Raum und dem (mental) konzipierten espace conçu als (sozial) gelebter Raum ergibt. Der Begriff „Dritter Raum“ hier ist bescheidener verwendet, wenn er auch in seiner dynamischen Unverfügbarkeit wie Unvermeidlichkeit Bezüge zur raumsoziologischen Begrifflichkeit aufweist.
[3] Maren Lehmann, Leutemangel. Mitgliedschaft und Begegnung als Formen der Kirche, in: Jan Hermelink/Gerhard Wegner (Hrsg.): Paradoxien kirchlicher Organisation. Niklas Luhmanns frühe Kirchensoziologie und die aktuelle Reform der evangelischen Kirche, Würzburg 2008, 123-144, 129.