Wer spontan hilft, braucht irgendwann den langen Atem guter Organisation. Erny Gillen liest die Erzählung vom barmherzigen Samariter als Aufruf zur Nachhaltigkeit in Sachen Solidarität.
Gut, dass es Bürger gibt, die sich persönlich einsetzen und engagieren. Wenn ein Flüchtling ankommt, wenn ein Mensch auf der Strasse fällt, wenn ein Kind angefahren wird, wenn im Altenheim kein Pfleger weit und breit in Sicht ist, dann schlägt die Stunde des bürgerschaftlichen Samariters. Er oder sie springt ein, wo andere abwesend sind oder wegschauen und vorbei gehen. Der Samariter, diese fiktive Figur aus einer der bekanntesten Parabeln von Jesus, rettet das Menschliche im konkreten Fall und springt angespornt durch die Nächstenliebe dort ein, wo das Menschliche versagt hat (wie bei dem Priester und dem Leviten, die vorbeigehen) oder boshaft zusammengeprügelt und ausgeraubt wurde (wie durch die Räuber in der Parabel).
Der Samariter rettet das Menschliche im konkreten Fall.
Täglich werden Menschen in die Not gestürzt und auf der Seite liegen gelassen. Papst Franziskus hält der Gesellschaft den Spiegel in “Laudato si’” (22, 43) vor und spricht von einer Kultur des Wegwerfens, die auch den Menschen wie Müll behandelt und entsorgt, wenn er verbraucht ist oder einfach nicht mehr gebraucht wird. Gut, dass sich immer wieder Samariter zeigen. Und gut, dass die Samariter eine Herberge finden, um den gestrandeten Flüchtling, den alten Menschen, das angefahrene Kind nach der “ersten Hilfeleistung” in sorgende Hände abzugeben. Ohne den Wirt wäre der Samariter in grösste Verlegenheit gekommen. Denn auch er geht, ähnlich dem Priester und dem Leviten, seinen geplanten Weg weiter – wenn auch erst am anderen Tag. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen dem, der gesehen hat, sich von seinem Herzen bewegen liess um zu helfen, und den beiden, die wegschauten und weiter gingen ohne zu helfen: Der Samariter bezahlt den Wirt dafür, dass er an seiner Stelle weiter Hilfe leistet und garantiert ihm, dass er falls nötig, bereit ist, weitere Kosten zu tragen.
Was wäre der Samariter ohne den Wirt in der Herberge?
Für den Samariter gilt der Imperativ zu Helfen, Nächstenliebe walten zu lassen, kategorisch. Er hat moralisch vor seinem Gewissen keine andere Wahl. Entweder verleugnet er sich als aufrechter Mensch ebenso wie den niedergeschlagen Menschen am Rande oder er rettet das Menschliche in sich und in dem anderen, indem er resolut für den Menschen im Menschen einsteht. Im samaritanischen Imperativ steht im einzelnen Menschen die gesamte Menschheit auf dem Spiel. Er gilt kategorisch als Gesetz der Nächstenliebe. Diese kann sich die Nächsten nicht auswählen; oder sie hört im selben Zug auf Nächstenliebe zu sein. Daran lässt das Gleichnis Jesu als Parabel der Weltliteratur keinen Zweifel. Und daran erinnert uns heute das abstrakte Wort der Würde des Menschen.
Für den Wirt in seiner Herberge, der ebenfalls hilft, gilt der Imperativ zu helfen, Nächstenliebe walten zu lassen, hypothetisch. Er hilft, wenn und so lange er dafür bezahlt wird. Er führt eine Herberge und lebt von seinen Einkünften. Er vertritt die notwendige Schattenseite der Nächstenliebe – und wird wohl auch deswegen kaum beachtet in der Jesus-Erzählung oder in der heutigen Gesellschaft. Ohne diese andere Seite der beruflichen und professionalisierten Hilfe würde die Geschichte des Samariters in sich zusammenfallen. Wie wäre das Gleichnis wohl ausgegangen, wenn weit und breit keine Herberge aufzufinden gewesen wäre? Wäre der Samariter nach der ersten Hilfeleistung weitergezogen und hätte gehofft, dass weitere Samariter von Jerusalem nach Jericho unterwegs wären, um die Anschluss-Hilfe zu leisten?
Der samaritanische Imperativ fordert Nachhaltigkeit.
Der humanitäre Imperativ im Sinne des Samariters wird heute angeführt, um weitere Menschen auf der Flucht aufzunehmen. Er hat dieselben zwei Seiten: die kategorische und die hypothetische. Die schöne Seite funktioniert auch hier nur unter der Bedingung, dass es eine hypothetische Seite gibt, die unter bestimmten Bedingungen hilft und aufnimmt. Und die Schattenseite lebt mit vom strahlenden Licht und der finanziellen Zuwendung des Samariters. Im Zusammenklang beider Seiten kann ein weiteres Stück humanitärer Geschichte geschrieben werden. Dort, wo der kategorisch handelnde Samariter mit dem hypothetisch handelnden Wirt zusammenprallt, sie sich gar (öffentlich) streiten, verliert die ganze humanitäre Geschichte ihren Glanz und verbleicht in den berechtigten Sorgen des Alltags und seiner Bewältigung.
Das gute Herz des Samariter kommt nicht umhin und muss den Preis dafür zahlen, dass es seine Augen nicht verschlossen hat und nicht verschliesst. Der Samariter steht kategorisch – für sich und für den, dem er als Menschen hilft – in der Pflicht, solange weiter zu zahlen, bis der Niedergeschlagene wieder auf seinen eigenen Füssen gehen kann. Ob dieser wohl einen Tag länger als nötig in der Herberge geblieben ist und der Wirt dem Samariter diesen Tag ebenfalls in Rechnung gestellt hat, wissen wir nicht. Wir wissen aber, dass der Samariter zahlen muss, wenn er seinem kategorisch geltenden Imperativ treu bleiben will.
Flüchtlinge heute positiv zu empfangen, ist gute humanitäre Hilfe, die langfristige Folgen haben wird.
Die Parabel über die Nächstenliebe hat es in sich. Betrachtet man ihre Schattenseite mit, dann ist sie auch eine Rede gegen soziale Romantik und unentgeltliche Hilfe. Der samaritanische Imperativ fordert Nachhaltigkeit. Er steht nicht einfach nur für die erste Hilfe. Wer A sagt, muss auch B sagen. Flüchtlinge heute positiv zu empfangen, ist gute humanitäre Hilfe, die langfristige Folgen haben wird, und für die der Samariter persönlich einstehen muss. Sein Herz hat die Welle der Hilfe ausgelöst. Sein Herz braucht Beständigkeit und Unterstützung von allen Seiten. Das sind wir dem Niedergeschlagenen in einer Kultur der Menschlichkeit humanitär, sozial und finanziell schuldig. Der hohe Wert des Samariters hat einen gerechten Preis!
Erny Gillen ist freischaffender theologischer Ethiker, mit einem Schwerpunkt auf den Themen Ethik und Leadership. Auf Feinschwarz erschien zuletzt von ihm: Wir sitzen alle im gleichen Boot. Nachdenkliches zu Glaube und Moral.
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