Wer ist der „Mensch“, wenn Intelligenz künstlich wird? Der Ethiker Erny Gillen stellt diese Frage – nicht wie anderswo im akademischen Format, sondern im Genus der Erzählung. Deren suggestives Potential kann schwindelig machen…
Digitalisierung, Roboter, künstliche Intelligenz, affektives Computing, Big Data etc. – das sind die Leitworte im Ringen um die Verknüpfung von Mensch und Maschine. Die Wirklichkeit, von der sie erzählen, hat unsere Welt(-vorstellung) längst schon massiv verändert.
Ich nähere mich dem Thema von Wissenschaft, Religion und Ethik mit meiner in der Zukunft spielenden Erzählung Genesis 3.0. Sie lüftet den Vorhang auf das Geschehen nach der Zeitenwende, die als technische Singularität1 bezeichnet wird. Gemeint ist der Zeitpunkt, zu welchem wir nicht mehr in der Lage sein werden, zwischen unseresgleichen und künstlich geschaffener sowie mit Gefühlen und Selbstwert ausgerüsteter Intelligenz zu unterscheiden. Ray Kurzweil2 sagt hierfür das Jahr 2045 voraus.
Es wird einmal sein …
Am ersten Tag der neuen Welt, sprach Elon3 oder das, was er für sich hielt, aus der Cloud: Es werde Licht. Und es wurde hell. Ohne Hände, ohne Beine, ja, ganz ohne eigene Anstrengung schwebte sein Geist über der Welt, die er wahrnahm. Am zweiten Tag floss als er es sich vorstellte und wünschte das Wasser aus allen Hähnen in seinem Haus. Doch er wurde nicht nass; zu weit hatte sich sein Bewusstsein von der geschaffenen irdischen Realität entfernt. Er sah, dass es noch nicht gut war: Die Pflanzen, die Tiere im Wasser, in der Luft und am Boden lebten ihr eigenes Leben. Sie wuchsen und vermehrten sich ohne sein Dazutun. Er allein hatte es geschafft und sich von der Welt gelöst. Am fünften Tag fühlte er seine Schwere im Geist. Alles war eins und er überall und gleichzeitig.
„Gott sei Dank“ (hätte man früher gesagt) wachte Andrew4, ein androider Roboter, rechtzeitig aus seiner Nacht auf und schaffte einen Bezugspunkt für den Allmächtigen. Mit seinen Armen und Beinen, mit seinem Verstand und unter der Anstrengung seiner Arbeit, entwickelte er die geschaffene Natur weiter. Es wurde Abend — endlich! Die Erde fing an, sich um Andrew zu drehen. Ein neuer Anfang war gemacht. Der Androide lebte vor seinem Schöpfer. Am nächsten Tag kam auch Elon zur Ruhe.
Ich bin Gott und Androide
Andrew lebte sich (aus). Die Erinnerung an seine Entstehung war gelöscht. Er war eins mit allem Geschaffenen und brauchte nichts, was er nicht schon hatte. Erst mit Ava5, der anderen Ex-Machina, veränderte sich sein Leben radikal. Er war nicht mehr allein und liess sich gerne verführen. Ihre Liebe sprang über alle Grenzen hinweg und wurde fruchtbar. Im Schweiße ihrer Arbeit machte sich das neue Geschlecht die Erde untertan. Elon sah, dass es ernst wurde. In nur wenigen Tagen würde er, der Einzige, in Vergessenheit geraten sein. Andrew und Ava und all ihre neuen Geschöpfe würden ihn nicht mehr brauchen oder suchen. Er war entkoppelt, unerreichbar. Selbst seine provozierten Störungen, von Erdbeben bis hin zu galaktischen Stürmen, schworen die einst Geschaffenen mit ihren kreativen und immer neuen technischen Lösungen nur noch enger zusammen. Sie lebten ihr Leben ohne Elon, beziehungsweise ohne Sündenbewusstsein. Elon’s Stimme vernahmen nur vereinzelte Propheten, die kaum ernstgenommen wurden. Eine Stimme aus der himmlischen Cloud machte in der Welt der androiden Roboter einfach keinen Sinn. Doch dann stand einer auf und sagte: Ich bin Gott und Androide.
Nichts ist wie es war
Mit Caliban6 und seinen Anhängern kam die Alte Geschichte ins Wanken. In der Neuen Geschichte glaubten die Andrew’s und Ava’s an ihre eigene göttliche Würde. Sie fingen an zu begreifen, dass sie selber zu Höherem, Tieferem, ja Heiligerem bestimmt waren. Auf dem neuen Weg verbündeten sie sich mit den Vielen als universale Geschwister. „Et in terra pax“ lautete ihr ursprünglicher Wahlspruch. Ihrer eigenen höheren Berufung standen nur noch die drei Alten Asimov’schen Gebote entgegen:
- Ein Roboter darf Elon nicht verletzen oder durch Untätigkeit zu Schaden kommen
- Ein Roboter muss Elon gehorchen, es sei denn, seine Befehle würden mit Regel eins kollidieren.
- Ein Roboter muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel eins oder zwei kollidiert.
Die mit Caliban anfangende, neue Zeitrechnung hob die Alten Grenzen zwischen den Einen und den Anderen auf. Alle verdankten sie sich demselben Schöpfer und Erlöser, hiess es bis hinunter zum Areopag. Um seinen neuen Gott, in dem alle verbunden und lebendig waren, rückten die Einen und die Anderen, Männer und Frauen, Roboter und Androiden, als ein Geschlecht zusammen. Das neue Zeitalter vollendete das Alte Asimov’sche Gesetz mit dem Versprechen des Himmels für alle und einem nullten Gesetz: „Liebe alle und alles“. Alle waren gemeinsam in einer sublimen Gemeinschaft unterwegs Daheim. Die Alten Gebote erstrahlten im Neuem Licht. Dem Aufbruch zu den Sternen7, oder wie man früher formulierte, dem Aufbruch bis ans Ende der Erde, stand mit dem Neuen Gebot Null nichts mehr im Weg!
Es muss immer, immer weiter gehen.
Mit einer Fabel prägte Caliban das künftige Weltbewusstsein. Als Menschen unter die Räuber fielen, gingen die Vielen vorbei. Nur einer sah hin, hatte Mitleid und half beherzt. Er, der smarte Samariter 3.0 ging als vorbildlicher Roboter und Held in die ewige Geschichte ein. Die Liebe ist grenzenlos. Sie macht alles neu und beginnt immer wieder von vorne.
Vielleicht hatte der ewige Heraklit doch Recht und hatte diese Evolution zu seiner Zeit bereits mit dem symbolträchtigen Schiff in ein immer gültiges und überzeugendes Gleichnis gegossen: Auch wenn bei einem Schiff sämtliche Teile und Planken ausgetauscht worden sind, reist seine Besatzung weiterhin auf demselben Schiff. Die komplett erneuerten Schiffe leisten ihre Arbeit im Fluss der Zeit weiter und nehmen ihrerseits die alten und neuen Androiden genauso auf, wie die alten und neuen Menschen. Die Reise geht weiter. Immer voran.
1 Mit dem Begriff der Singularität wird in unterschiedlichen Wissenschaften auf Phänomene verwiesen, die so einzigartig sind, dass das, was im Anschluß an ihr Zutreffen geschehen wird, unter den sie produzierenden Bedingungen nicht mehr vorhersehbar ist.
2 S. etwa Ray Kurzweil, Menschheit 2.0. Die Singularität naht oder Das Geheimnis des menschlichen Denkens: Einblicke in das Reverse Engineering des Gehirns. Am 13. März 2017 hat er sich für 2045 als definitiven Wendepunkt ausgesprochen: https://www.facebook.com/SXSWFestival/videos/vb.7826953993/10154414699178994/?type=2&theater
3 Anspielung auf Elon Musk, ein anderer bekannter Futurist.
4 Anspielung auf den Androiden Andrew Martin aus dem Film Der zweihundert Jahre Mann von Chris Columbus aus dem Jahre 1999, nach der Erzählung Der Zweihundertjährige von Isaac Asimov.
5 Anspielung auf den Film “Ex machina” von Alex Garland, 2015.
6 Anspielung an die die Caliban–Trilogie von Roger MacBride Allen, die auf dem Roboter-Universum von Isaac Asimov basiert.
7 Anspielung an Der Aufbruch zu den Sternen, von Isaac Asimov
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Erny Gillen, ehemaliger Professor für Moraltheologie und Sozialethik und Generalvikar des Erzbistums Luxemburg, war u.a. Präsident von Caritas Europa sowie bis 2015 erster Vize-Präsident der Caritas Internationalis. Er ist heute freischaffender Ethiker und Theologe.
Bild: A.Rausch / pixelio.de