War Jesus höflich? Taugt er gar als ein pädagogisches Vorbild? Andrew Doole hat überraschende Antworten!
Achtung, Sonntagschullehrer/innen! Schauen Sie besser weg! In diesem Artikel geht es um (Un)Höflichkeit in den Evangelien. Bei der Erziehung christlicher Kinder gelten Jesus und die Apostel weithin als achtbar und achtungsvoll. Ein Blick in die Evangelien wird das doch sicherlich beweisen.
In der historisch-kritischen Exegese geht es gerade um den Kontext, in dem damalige Überlieferungen und Schriften entstanden sind. Dazu müssen auch soziale Umgangsformen gehören. Wer schon einmal im Ausland war, weiß Bescheid: das, was bei uns als unverzeihlich gilt, ist woanders ganz normal. Und umgekehrt. Galiläa im ersten Jahrhundert ist uns ebenso fremd. Dennoch ist es auch ohne tiefgehende Ausbildung zu den Benimmregeln der antiken Welt möglich, in den Texten Beispiele der sozialen Anständigkeit bzw. Grobheit zu finden.
Wie redet man also höflich? Schöne Beispiele findet man am häufigsten bei leidenden Bittstellern. Man kniet oder wirft sich vor Jesus nieder, redet ihn an mit „Herr!“ und bittet um Heilung. Das wird schnell zum Standard. Doch am ehrerbietigsten ist der Aussätzige (Mt 8,2 par.), der seine Bitte so formuliert: „Wenn du möchtest, kannst du mich reinigen.“ (Es gibt im klassischen Griechisch keine Höflichkeitsform im 2. Person Singular. Man könnte aber in solchen Fällen ruhig mit „Sie“ übersetzen). Jesus wirkt Wunder aber auch ohne Anfrage (z. B. Lk 7,11‒15) oder bietet sogar eine Heilung an (Joh 5,3–6). Der Hauptmann in Kafarnaum wird extra bescheiden dargestellt, indem er seine Unwürdigkeit ausdrückt (Mt 8,8 / Lk 7,6), und die Heilung geschieht dann sofort, wobei sein Glaube und nicht seine Höflichkeit als Grund gegeben wird.
Der Heiland ist nicht immer nett
Pointierter ist es mit den zehn Aussätzigen: alle werden geheilt, nur einer bedankt sich bei Jesus, der dessen Glaube lobt als Grund seiner Heilung, obwohl die anderen Neun doch auch geheilt worden waren (Lk 17,11‒19); seine Dankbarkeit spielt dann doch keine Rolle. Aber gerade da wo Jesus nur wenig Wunder wirken kann, liegt es offenbar an der Einstellung des Volks (Mk 6,5–6). An einer anderen Stelle zögert Jesus selbst, eine Heilung durchzuführen, anscheinend weil die Bittstellerin eine Heidin ist; seine Antwort in diesem Falle ist durchaus unflätig, indem er sie mit einem Hund vergleicht (Mk 7,25‒27 par.). Der Heiland ist also nicht immer nett.
Jesus spricht hart, wenn er mit Dämonen redet. Und sie auch mit ihm. „Was haben wir mit dir zu schaffen, Jesus, Nazarener?“ sagen sowohl der unreine Geist in Kafarnaum (Mk 1,24) als auch der Besessene in Gerasa (Mk 5,7). Jesus befehlt „Schweige!“ oder „Halt die Fresse!“ (Mk 1,25). Ähnlicherweise „bedroht“ er den Wind und den See mit „Schweig, verstumme!“ (Mk 4,39). Mit Dämonen und Unwetter geht er nicht so höflich vor wie mit leidenden Menschen.
Seinen Eltern aber müsste er Respekt erweisen. Es mag heute das Ohr beleidigen, wenn wir bei Matthäus lesen, dass Josef „gerecht“ war und deshalb die schwangere Maria heimlich entlassen wollte (Mt 1,19). Doch Respekt für die eigenen Eltern ist ziemlich universal, und wir würden gerade vom heiligen Gottessohn kindlichen Gehorsam erwarten. Lukas, der sein Evangelium höchstadlig widmet (Lk 1,3), bietet uns die einzige Jugendgeschichte Jesu an. Seine Eltern verlieren ihn in Jerusalem: „Und als sie ihn sahen, wurden sie bestürzt; und seine Mutter sprach zu ihm: Kind, warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Und er sprach zu ihnen: Was ist der Grund dafür, dass ihr mich gesucht habt? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meines Vaters ist? Und sie verstanden das Wort nicht, das er zu ihnen redete.“ (Lk 2,48‒50)
Kein braves Kind
Jesus entschuldigt sich gar nicht. Er distanziert sich sogar von seinem Vater, indem er von einem anderen Vater spricht. Seine Eltern verstehen ihn nicht. Kaum das Verhalten eines braven Kindes. Wie ist es mit dem erwachsenen Jesus? Der brave Sohn kümmert sich um seine Mutter in seiner Sterbestunde (Joh 19,26‒27). Doch das ist nicht das übliche Bild in den Evangelien. „Was habe ich mit dir zu schaffen, Frau?“ sagt er ihr bei der Hochzeit in Kana (Joh 2,3‒4). Einem Segenswort an seine Mutter widerspricht er (Lk 11,27‒28) und er will nichts mit ihr zu tun haben (Mk 3,31‒35). Eine Ablehnung seiner Mutter sollte uns aber nicht überraschen, denn er ist gekommen, um Spaltungen in der Familie zu stiften (Mt 10,34‒36) und wer den Vater und die Mutter nicht hasst, der kann nicht sein Jünger sein (Lk 14,26). Ein Jünger, der seinen Vater begraben möchte, wird zurückgewiesen (Mt 8,21‒22 / Lk 9,59‒60). Jesus lehrt keinen Respekt für die Eltern.
Die „Gegner“ in den Evangelien haben es selbstverständlich nicht leichter. Jesus spricht sie sehr oft in Rätseln an. Er weigert sich, ihre Frage zu beantworten, als sie seine auch nicht beantworteten (Mk 11,27‒33). Schließlich wagt es niemand mehr, ihn zu befragen (Mk 12,34b). Selten ist es also, dass er mit Pharisäern und dergleichen höflich umgeht (eine Ausnahme wäre vielleicht das Zwiegespräch mit Simon in Lk 7,40, indem Jesus seinen Gastgeber implizit um Erlaubnis bittet). Auch Nikodemus, der kommt, um Jesus zu loben (Joh 3,2), und die Samariterin, von der er erstmal nur ein Getränk haben will (Joh 4,7), geraten in komplizierte Rätselgespräche. Jesus redet mit Unbekannten nicht sehr klar und gar nicht hilfreich.
Nase voll
Seine Freunde haben es bestimmt leichter. Sie können mit ihm zumindest frei reden. „Kümmert es dich nicht, dass wir umkommen?“ fragen sie fast sarkastisch beim Seesturm (Mk 3,38; vgl. Martas Worte in Lk 10,40). Wenn Jesus fragt, wer ihn berührt hat, reagieren die Jünger ebenso unwillig: „Du siehst, dass die Volksmenge dich drängt, und du sprichst: Wer hat mich angerührt?“ (Mk 5,31). Wenn viele Menschen hungern – eine ernste Situation –, gibt es Geplänkel unter den Jungs: „Er aber antwortete und sprach zu ihnen: Gebt ihr ihnen zu essen! Und sie sagen zu ihm: Sollen wir hingehen und für zweihundert Denare Brot kaufen und ihnen zu essen geben?“ (Mk 6,37; vgl. Mk 8,4 oder Joh 6,5‒6). Jesus selbst wird „unwillig“, wenn sie andere Leute davon abhalten, ihm ihre Kinder zu bringen (Mk 10,13‒14), denn es ist ja vorbildlich, kindisch zu sein (Mk 10,15). Kein Wunder, dass er sich manchmal von ihnen entfernt (Mk 1,35‒37; vgl. Lk 24,31)! Er scheint so langsam die Nase voll zu haben: „Was überlegt ihr, weil ihr keine Brote habt? Begreift ihr noch nicht und versteht ihr nicht? Habt ihr euer Herz verhärtet? Augen habt ihr und seht nicht? Und Ohren habt ihr und hört nicht? […] Versteht ihr noch nicht?“ (Mk 8,17‒18.21)
Bis die Jünger schließlich Angst haben, ihn zu befragen (Mk 9,32). Wenn Petrus über das Schicksal eines anderen Jüngers nachfragt, wird er zurückgewiesen mit den Worten „Was geht es dich an?“ (Joh 21,20‒22; vgl. die Zurechtweisung an Petrus bei Mk 8,33 par.). Ziemlich unverschämt ist die Bitte der Brüder Jakobus und Johannes: „Lehrer, wir wollen, dass du uns tust, um was wir dich bitten werden.“ (Mk 10,35). Soll Jesus zustimmen, ohne die Details zu erfahren? Doch manchmal geben sie sich Mühe, Jesus Respekt zu leisten: Als sie lernen wollen, wie man beten soll, warten sie ab, bis Jesus selbst fertig gebetet hat (Lk 11,1–2). Thomas Didymos versteht nicht, was Jesus mit Lazarus meint, ermuntert aber alle, mit zu gehen und mit zu sterben (Joh 11,16). Kurios ist trotzdem das Angebot, das sie Jesus machen, als ihn ein Dorf nicht willkommen heißt: „Herr, willst du, dass wir sagen, dass Feuer vom Himmel herabfallen und sie verzehren soll?“ (Lk 9,54). Es gibt also durchaus Versuche, freundliche Unterstützung zu leisten.
Lieblingsstelle für christliche Kinder
Eine Lieblingsstelle für christliche Kinder aller Welt sollte Mk 7,1‒16 sein. Pharisäer und Schriftgelehrte sind erschrocken, dass einige Jünger Jesu mit ungewaschenen Händen essen; Jesus verteidigt sie (vgl. die Kritik an Jesus selbst in Lk 11,38). Es ist auch an dieser Stelle wo Jesus skatologisch lehrt (Mk 7,19a). Auf jeden Fall ist ein Gastmahl mit Jesus nie so ordentlich, wie man sich wünschen könnte.
Jesus spricht am höflichsten, wenn er mit Gott redet. Er bedankt sich bei seinem Vater (Mt 11,25) und redet ihn bescheiden an: „Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber!“ (Mt 26,39). Nichtsdestotrotz werden Gebete wegen der Unverschämtheit erfüllt (Lk 11,8; vgl. Lk 18,5). Gott selbst schämt sich nicht, seine Liebe für seinen Sohn auszusprechen (Mk 1,11 par.; Mk 9,7 par.). Eine Stimme aus dem Himmel unterbricht die Rede des Petrus (Mt 17,4‒5)! Man kann Gott also unverschämt ansprechen; auch er bedarf keines Anstands.
In den Evangelien gibt es noch viele andere Beispiele sozialer Regelungen und Verstöße gegen sie. Besonders bedauerlich ist die Einstellung des Herodes Antipas: Er will den Täufer doch gar nicht umbringen, hat aber vor seinen Gästen seiner Tochter ihren Wunsch versprochen und wegen Tischmanieren muss Johannes enthauptet werden (Mk 6,26). Besonders schön ist das erste Wort des auferstandenen Jesu im Matthäusevangelium: „Hallo!“ (Mt 28,9).
Nicht nur theologisch provokant, sondern auch sozial ungehörig
Die Evangelien sind Schriften verschiedener Gruppen, die sich religiös identifizieren wollen, und dafür nehmen sie Bezug auf ihren Held: Der König des Hofes muss nicht selbst höflich sein. Jesus wird aber von seinem eigenen Volk abgelehnt; sein Verhalten ist daher ein Aspekt, der zu dieser Ablehnung führt. Deswegen die negative Reaktion des Publikums, dass er mit Sündern isst (z. B. Lk 5,30) oder Geldverschwendung zulässt (Mk 14,4–5). Nur die, die ihn nicht verstehen, sind entsetzt. Das erklärt aber nicht alles, was in den Evangelien unanständig wirkt. Die ersten Christen mussten Jesu Verhalten erläutern und haben es teilweise zu verharmlosen versucht.
Es gibt selbstverständlich Erklärungen für das Verhalten der Menschen in der Antike, das sich bei uns nicht ziemt. Jesus verstößt trotzdem allzu oft gegen die sozialen Erwartungen sowohl seiner Zeit als auch unserer. Er ist offensichtlich nicht nur theologisch provokant, sondern auch sozial ungehörig. „Kümmert es dich nicht?“ Anscheinend gar nicht.
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