Magdalena Hürten bespricht Bernhard Grümme/Gunda Werner (Hrsg.), Judith Butler und die Theologie. Herausforderung und Rezeption, Bielefeld 2020.
„Mit Butler bleibt kein Stein auf dem anderen.“ Diese Aussage könnte sowohl von Kritiker:innen als auch von begeisterten Rezipient:innen ihrer Theorien geäußert werden. Die einen unterstellen ihr, den Subjektbegriff zu untergraben und eine Geschlechter-Willkür herbeizuführen. Die anderen schätzen sie gerade dafür, dass sie Selbstverständlichkeiten aufbricht und den Horizont des Denkbaren zu weiten versucht. Wenn man Judith Butler und die Theologie[1] liest, wird eines schnell deutlich: Einfache Antworten gibt es auf und mit Butler nicht. Die 16 Beiträge aus unterschiedlichen theologischen Disziplinen unternehmen eine eingehende Auseinandersetzung mit ihren Theorien und zeigen, dass sich Judith Butler und die Theologie viel zu sagen haben.
Subjektwerdung und Anerkennung, Macht und Verantwortung, Politik und Ethik, Trauer und Versammlung, Körper und Geschlecht, Vulnerabilität und Gewalt, Performativität und Zitation: Der Sammelband, herausgegeben von Bernhard Grümme und Gunda Werner, setzt sich mit der gesamten Bandbreite der Theorien Butlers auseinander. Dies ist eine große Errungenschaft, da sich die ohnehin zögerliche Rezeption ihrer Thesen in der deutschsprachigen Theologie oft noch auf ihre Gender-Theorie beschränkt. Die Autor:innen, die den verschiedenen theologischen Teildisziplinen, der Religionsphilosophie und der interkulturellen Theologie zuzuordnen sind, weisen mit Blick auf ihr je eigenes Fach Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption aus.
Dass die behandelten Themen auch die Theologie in ihrem Innersten angehen und sie immer wieder neu herausfordern, wird deutlich etwa wenn Bernhard Grümme „unterrichtliche Korrelationsprozesse als Übersetzungsvorgänge“[2] verstanden wissen will oder wenn Stefan Böntert mit Blick auf die Liturgie feststellt, dass in der Theologie „der Machtbegriff für gewöhnlich ausschließlich auf Gott und sein Wirken in Gestalt von menschlichen Zeichen“[3] verwendet wird, damit aber die Machtverhältnisse zwischen den Mitfeiernden außer Acht gelassen werden. Im Folgenden möchte ich exemplarisch von einigen ausgewählten Beiträgen her Baustellen ausweisen, die die gesamte Theologie betreffen und auf denen sie von der Rezeption Butlers profitieren könnte.
Erste Baustelle: das Verhältnis zur Moderne
Zuweilen steht die Theologie noch vor einer scheinbar unüberwindbaren Kluft zwischen Tradition und Moderne ‒ auf der einen Seite eine Theologie, die einer klaren Linie von Orthodoxie und Orthopraxie verpflichtet ist, auf der anderen Seite die Realität der Moderne, in der viele Lehren und Praktiken an den konkreten Lebenserfahrungen der Menschen vorbeizielen. Eine theologische Rezeption der Diskurstheorie Butlers, so zeigt es insbesondere Gunda Werner, könnte zu einem Brückenschlag führen, der ein neues Verhältnis zur Moderne bedeutet. Sie versteht Tradition mit Butler nämlich als eine Form des Zitats, als eine ständige Wiederholung. Da keine Zitation perfekt ist, wohnt ihr jedes Mal ein gewisses Maß des Scheiterns inne. Gunda Werner plädiert nun dafür, die entstehende Lücke nicht als Gefahr, sondern vielmehr als „Bedingung der Möglichkeit der Traditionsbildung“[4] anzusehen und wertzuschätzen. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass das Wort Gottes in die konkrete Lebenswelt hineingesprochen ist und sich dort immer wieder neu zu realisieren hat. Die Moderne und ihre Lebensrealitäten sind also als konstitutiv für die Tradition zu betrachten.
Zweite Baustelle: hidden patterns innerhalb der Theologie
Butlers Diskursverständnis verbunden mit ihrer Theorie der Subjektwerdung macht darüber hinaus auf die Macht von Adressierungen aufmerksam. So kommt man nicht umhin, auch die Theologie selbst und ihre Teildisziplinen einer kritischen Selbstreflexion zu unterziehen. Es geht darum, die Theologie danach zu befragen, „an welchen Stimmen, Erfahrungen und Werten, an welchen Interessen sie sich orientiert, welchen Auseinandersetzungen man Rechnung trägt, wessen und welches Handeln man ermöglicht bzw. wessen und welches Handeln verunmöglicht wird.“[5] Diese Aufgabe nehmen einige der Beiträge auf und weisen hidden patterns innerhalb des Fachs aus: verschleierte Machtstrukturen z.B. in Liturgiewissenschaft und Pastoraltheologie sowie die Hervorbringung und Fortschreibung scheinbar natürlich gegebener Normen wie die binäre und heteronormative Geschlechterordnung.
Diese Fragen machen eine Neujustierung der Theologie notwendig: Was kann die Disziplin leisten? Wie versteht sie sich selbst? Und wie hat sie zu handeln, wenn sie die ihr inhärenten hidden patterns nicht fortsetzen möchte? Etwaigen Sorgen, was dann noch von der Theologie übrigbliebe, kann mit Anna Maria Riedl entgegengetreten werden: „[D]ie Suspendierung einer Norm bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie für immer aufgegeben wird, sondern gleicht eher dem Projekt einer Übersetzung auf eine neue Inklusion hin.“[6]
Was das konkret für die Theologie bedeuten kann, wird u.a. in ihrem eigenen Beitrag ausgeführt: Anna Maria Riedl plädiert für eine (theologische) Ethik, die sich „nicht als normative Leitwissenschaft, sondern als kritische Reflexionswissenschaft“[7] versteht. Ihre Aufgabe ist es dann, „neben der Notwendigkeit von Normen auch nach den Folgen und Konsequenzen ihrer Wirkung [zu] fragen.“[8] Ute Leimgruber deckt die Exklusions- und Marginalisierungsmechanismen auf, die mit dem pastoralen Grundmotiv der „Option für die Armen“ verbunden sind. In Anschluss an Butler hält sie jedoch ein „neu akzentuiertes Verständnis der pastoralen bzw. diakonischen Identität der Kirche“[9] für möglich, das „eine echte Veränderung der Machtverhältnisse in der Kirche bewirken [kann], zugunsten einer erfahrbaren Reich-Gottes-Realisierung auch bei den bisher Marginalisierten, Unterdrückten, oder Diskriminierten.“[10]
Theologie mit Butler zu betreiben, öffnet Türen für eine Transformation der Theologie.
Der Sammelband von Bernhard Grümme und Gunda Werner zeigt: Theologie mit Butler zu betreiben, ist kein leichtes Unterfangen, sondern eines, das an die Substanz geht. „Judith Butler gilt als diejenige, die überkommene Ordnungen delegitimiert“[11], so formulieren es die Herausgeber:innen. Die Dekonstruktion von Adressierungen, Normen und Machtverhältnissen muss für die Theologie jedoch keine Destruktion bedeuten. Mit ihr können Mauern der Exklusion eingerissen und Lücken als kreative Räume wahrgenommen werden. Eine weitergehende und vertiefte Rezeption Butlers, wie sie der Sammelband anstößt, öffnet Türen für eine Transformation der Theologie.
_______
Magdalena Hürten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Universität Regensburg und promoviert zur Geschichte eines Frauenordens unter besonderer Berücksichtigung von Macht- und Geschlechterverhältnissen.
[1] Grümme, Bernhard/Werner, Gunda (Hg.), Judith Butler und die Theologie. Herausforderung und Rezeption, Bielefeld 2020.
[2] Grümme, Bernhard, Halbierte Rezeption. Judith Butler und die Religionspädagogik, in: Grümme/Werner, Judith Butler und die Theologie, 25-41, 38.
[3] Böntert, Stefan, Performanz. Macht. Gottesdienst. Herausforderungen aus dem Denken Judith Butlers für die Liturgiewissenschaft, in: Grümme/Werner, Judith Butler und die Theologie, 79-95, 87.
[4] Werner, Gunda, Die normative Kraft der Lücke. Mit Judith Butler Traditionsbildung neu gedacht, in: Grümme/Dies., Judith Butler und die Theologie, 201-215, 209.
[5] Leimgruber, Ute, „Unsere Chance … menschlich zu werden“. Anstöße aus der Lektüre Judith Butlers für die pastoral-theologische Rede von Menschen und Macht, in: Grümme/Werner, Judith Butler und die Theologie. 43-62, 61.
[6] Riedl, Anna Maria, Das Gegebene als Maß des Möglichen zurückweisen. Zum Verhältnis von Ethik, Politik und Kritik, in: Grümme/Werner, Judith Butler und die Theologie, 173-188, 184.
[7] Riedl, Das Gegebene als Maß des Möglichen zurückweisen, 176.
[8] Riedl, Das Gegebene als Maß des Möglichen zurückweisen, 177.
[9] Leimgruber, „Unsere Chance … menschlich zu werden“, 55.
[10] Leimgruber, „Unsere Chance … menschlich zu werden“, 61f.
[11] Grümme, Bernhard/Gunda, Werner, Einleitung, in: Dies., Judith Butler und die Theologie, 9-22, 9.
Das Buch steht open access zum download zur Verfügung.