Lots Frau erstarrte bekanntlich zur Salzsäule, als sie bei der Flucht aus Sodom zurückblickte. Berenike Jochim greift das Motiv im aktuellen Fluchtkontext auf und führt so die Erinnerungsgeschichte an die Gescheiterten fort.
Der Film „Queens of Syria“ dokumentiert, wie geflohene Syrerinnen ihr persönliches Schicksal mit dem der vergewaltigten, erniedrigten, versklavten Frauen vor Troja verknüpfen. Im Rahmen eines Theaterprojekts schlüpfen sie in die Rolle der „Troerinnen“ aus der gleichnamigen Tragödie des Euripides. Die Dokumentation warf in mir die Frage auf, inwiefern der zeitlose Schrecken des menschlichen, in besonderer Weise auch weiblichen Leidens in und nach einem Krieg und der damit verbundenen Zerstörung, Gewalt und Lebensauslöschung nicht nur im antiken Mythos, sondern auch vor dem Hintergrund einer biblischen Geschichte gelesen werden könnte. Ist das vernichtete Sodom nicht gleichfalls ein brennendes Troja, ein kriegsverletztes Damaskus?
Ist das vernichtete Sodom nicht gleichfalls ein kriegsverletztes Damaskus?
Eine brennende Stadt, Tod und Verwüstung, verzweifelte Flucht im Morgengrauen, Rettung in letzter Sekunde. Und dann der Blick zurück auf die Heimat, die es zu verlassen gilt, das Haus, in dem sie glücklich war, in dem sie Kinder geboren, Gäste bewirtet, in dem sie sich niedergelassen hat. Der Blick zurück auf die Menschen, die ihr lieb und teuer waren, mit denen sie gelacht und geweint hat, die ihr Geborgenheit, Freundschaft und Vertrauen schenkten. Der Blick zurück auf die Zerstörung, Gewalt, Auslöschung und Brutalität, in der ihr altes Leben untergeht, vor sich ein steiniger Weg durch Wüste und Wildnis ohne konkretes Ziel. Und der Blick lässt sie erstarren. Mitten auf dem Weg der Flucht, der doch die Rettung sein sollte.
Dies ist die Geschichte der Frau des Lot, die auf dem Fluchtweg aus dem brennenden Sodom im wahrsten Sinne des Wortes auf der Strecke bleibt. Sie erstarrt zur Salzsäule im Anblick der Stadt, die dem Erdboden gleichgemacht, in der das Oberste zuunterst gekehrt wird. „Lots Frau aber, hinter ihm, blickte zurück und wurde zu einer Salzsäule.“ (Gen 19,26)
„Lots Frau aber, hinter ihm, blickte zurück und wurde zu einer Salzsäule.“ (Gen 19,26)
Ihr Mann Lot und ihre beiden Töchter schaffen den Absprung, sie blicken nach vorn in eine ungewisse Zukunft. Lot selbst war als Fremder in die Stadt gekommen. Das Wurzelschlagen in Sodom wurde ihm durch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen mesopotamischen Königen und Herrschern aus dem Jordangraben erschwert. Er musste sich die Stadt ein zweites Mal zur Heimat machen, nachdem er in Kriegsgefangenschaft verschleppt worden und von seinem Onkel Abraham befreit zurückgekehrt war. Er, der noch bis zuletzt in einer Stadt der Sünde und Gewalt den guten Ruf seines Hauses verteidigte, das Gastrecht hochhielt und sogar bereit war, dem brutalen Mob vor seiner Haustür die eigenen Töchter zu opfern, um die Gäste seines Hauses nicht zu entehren, muss fliehen. Erst als es gar nicht mehr anders geht, macht sich die Familie auf den Weg. Der Entschluss: nicht selbst gewählt, sondern von Gottes Boten an der Hand genommen, gedrängt, zur Eile ermahnt, hinausgetrieben. Das Verbot sich umzudrehen: zum Schutz der Familie, damit es sich keiner anders überlegt und doch bleiben will – koste es, was es wolle?
Lot und die Töchter schaffen den Absprung, sie blicken nach vorn.
Lots Frau war nicht stark genug. Oder war sie gerade stark? Stark im Mitleid, stark in ihren sozialen Bindungen? Stark in einem eigenen Willen, dem Willen zu bleiben, daheim zu bleiben in dem Haus, in dem sie sich zu Hause fühlte? Stark in der Verbundenheit mit einer Stadt, die zwar vielleicht nicht immer gut zu ihr war und in der sie auch Leid und Gewalt erfahren hat, deren Straßen sie aber jeden Tag entlangging, deren Gerüche und Geräusche ihren Alltag begleiteten und deren Bewohner ihr zu Nachbarn, sogar zu Schwiegersöhnen geworden waren?
Lots Frau war nicht stark genug. Oder war sie gerade stark? Stark im Mitleid?
Der Fluchtweg von Lots Frau endet abrupt, er führt nicht in die Freiheit, nicht in eine neue Heimat mit neuem Anfang, er endet in einem Dazwischen, einem Niemandsland. Er entreißt sie brutal ihrer Familie, macht ihren Mann zum Witwer, ihre Töchter zu Halbwaisen, er gönnt ihr kein Sterben in Frieden, nicht einmal ein Grab. Als mahnende Salzsäule wird sie Teil der verfluchten Erde, kann dem Elend nicht entrinnen, wird zum Sprichwort für Ohnmacht, Entsetzen und Kapitulation.
Der Fluchtweg endet in einem Dazwischen, einem Niemandsland.
Die namenlose Frau des Lot steht für viele Namenlose, die aktuell auf der Strecke bleiben. Sie steht für Frauen, Männer und Kinder, die jeden Tag auf der Flucht untergehen – manche im grausamen Wortsinn im Mittelmeer, andere, die irgendwo im Niemandsland, im grauen Dazwischen zusammenbrechen, an Erschöpfung und Krankheit sterben, die erschlagen werden oder erschossen, verhaftet, eingesperrt und exekutiert. Für alle, deren Fluchtweg abrupt endet und die zwischen Heimat und Hoffnungsland schnell namenlos verscharrt werden. Für alle, deren Familien gewaltsam auseinandergerissen werden und für die die Flucht ein Leben ohne Mutter, ohne Ehefrau, ohne Bruder, Tochter, Onkel oder Großeltern bedeutet.
Die namenlose Frau des Lot steht für viele Namenlose, die auf der Strecke bleiben.
Lots Frau steht auch für diejenigen, die sich nicht von ihrer Stadt und ihrem Haus trennen konnten, egal wie schlimm die Zustände in ihrer Heimat sind. Für all diejenigen, die sich nun Verbrechen, Vergewaltigung, Mord und Hunger ausgesetzt sehen müssen, für die die Heimat zur Todesfalle geworden ist, weil sie zu schwach waren, sich auf den Weg zu machen, oder weil sie zu stark waren: zu stark verwurzelt und zu stark verbunden, um alles aufzugeben, zu müde, um noch einmal von vorn zu beginnen.
Lots Frau aber zeigt auch, wie sprechend stummer Widerstand sein kann. Ihr Schicksal überdauerte die Jahrtausende, ihre Erstarrung faszinierte und berührte Menschen, ließ sie ihre Geschichte immer wieder neu erzählen, in Schrift und Bild.
stummer Widerstand überdauerte Jahrtausende
Nicht allein die „Lots“, die den Weg zu Ende gehen, die schlussendlich am Ziel ankommen, sollten im Mittelpunkt stehen. Genauso verlangen die Geflüchteten Aufmerksamkeit und Anteilnahme, die auf der Strecke stehen bleiben und im Schmerz erstarren. Die vielen namenlosen Opfer, die ein Fluchtweg fordert und die ohne Grab und Andenken still untergehen. Sie haben es verdient, dass wir ab und zu den Kopf über das Ziel hinausheben und an den Anfang schauen, dass wir den Blick zurück wagen zum Weg, der nicht zu Ende gegangen wurde – nicht nur dann, wenn ein kleiner Junge am Strand angespült wird oder Carepakete in ausgehungerte Städte geflogen werden.
(Berenike Jochim, Tübingen, Bild: Erich Westendarp / pixelio.de)