Mitten im Reformationsjubiläum findet eine neue Reformation statt, die Reformation 2.0. Arnd Bünker skizziert die Reformation 2.0, die sich global mit grosser Dynamik ausbreitet und längst in Europa angekommen ist. Die „Calvins dieser Zeit“ fordern hiesige traditionelle Kirchen heraus.
Die Kirchen (nicht nur) in den Ursprungsländern der Reformation stecken in einer tiefen Krise. Nichts weniger als ihre langjährigen Geschäftsmodelle breche zusammen. Sie vermögen die religiösen und spirituellen Erwartungen, Fragen und Ansprüche der Menschen kaum noch zu bedienen. Die einstmals zur Heilserlangung notwendig geglaubten Sakramente funktionieren flächendeckend fast nur noch als Dekor für Lebensabschnittsfeiern oder als biografische, aber innerweltlich relevante Sinnstiftungsrituale. Mit dem Verlust der Heilsrelevanz der Sakramente (nicht zuletzt mit dem Verlust der Angst vor der Hölle wie dem Verlust der Hoffnung auf einen Himmel im Jenseits) ging der Niedergang der Kirchendisziplin ebenso einher wie die grundsätzliche Relativierung kirchlicher Wahrheitsansprüche und Autoritäten.
Einstmals zur Heilserlangung notwendig geglaubte Sakramente funktionieren nur noch als Dekor für Lebensabschnittsfeiern.
Wie sich die Zeiten ähneln: Die heutigen Kirchenprobleme erinnern aktuell in vielem an den Kollaps des spätmittelalterlichen katholischen Christentums vor 500 Jahren. Auch dieses bot kaum noch passende Antworten auf die Fragen der Zeit. Es war am Übergang zur Neuzeit von innen faul und hohl geworden. Seine religiösen Angebote passten nicht mehr zur „modern“ gewordenen Frömmigkeit. Sie passten nicht zu den gesellschaftlichen Krisenerfahrungen im Übergang zur Neuzeit und auch nicht zu den in diesem Umbruch veränderten religiösen Erwartungen der Menschen.
So brauchte es oft nur das Auftreten einzelner Prediger der „neuen Lehre“, um vor allem städtische Gesellschaften in kurzer Zeit und ohne grössere Widerstände der Reformation zuzuführen.[1] Die neue Frömmigkeit und das neue Kirchenverständnis boten damals offenbar brauchbarere Antworten auf die Probleme der Menschen. Die reformierte Lehre passte in eine „modern“ gewordene Welt mit Buchdruck, wissenschaftlichen und künstlerischen Aufbrüchen, starkem Bürgertum aber auch neuen Gefahren und Verunsicherungen durch all diese Veränderungen.
Ähnlichkeiten zwischen der Zeit der Reformation und heute
Heute, ein halbes Jahrtausend später, finden wir uns in einer ähnlichen Situation, diesmal auf globaler Ebene. Technologischer Fortschritt, weltumfassender Kapitalismus, Urbanisierung in Megastädten und der Zusammenbruch bisheriger Werte- und Kulturmodelle sowie fundamentale Bedrohungen durch Armut, Seuchen, Klimawandel… sind einige der Rahmenbedingungen der heutigen Reformation 2.0. Diese zeigt sich weltweit im Wachstum neuer Kirchen evangelikaler, pfingstlicher, charismatischer, neopentekostaler Art.[2] Diesen Kirchen der Reformation des 20. und 21. Jahrhunderts gelingt es vor allem in den Umbruchgesellschaften des globalen Südens am besten, die Menschen mit einer christlichen Botschaft zu erreichen. Das geschieht z.B. durch das Versprechen des „prosperity gospels“, dem Wohlstands- und Erfolgsversprechen für die, die sich zu Gott bekehren. Es geschieht auch durch spirituelles Empowerment, das selbst schwierige Lebensgeschichten als Heilsgeschichten zu deuten vermag.
Nützliche Religion: Erfolgsversprechen, Empowerment, Erfahrung
Bis hin zur leiblichen Erfahrung spricht der Frömmigkeitsstil der Reformation 2.0 die Menschen an: Gott lässt sich in Trance, Zungenrede oder Heilung am eigenen Körper erleben. Wo sich die Welt im Schleudergang der Moderne verändert und alles und jedes in Frage gestellt wird, bietet die Reformation 2.0 unmittelbare Gottesgewissheit und alltagsnahen Nutzen, ein Gefühl der Sicherheit und des Halts[3] – und zwar ohne das zum Scheitern verurteilte Festhalten an der Vergangenheit und ihren gewissermassen nutzlos gewordenen Traditionen.
Die Reformation 2.0 kommt nach Europa
Das Kraftzentrum der Reformation 2.0 liegt zwar im Süden, aber sie ist ein globales Phänomen. Nicht zuletzt führt die globale Migration zu globaler Mission derjenigen Kirchen, die der heutigen Reformation 2.0 zugerechnet werden können.[4] So hat die neue Reformationsbewegung längst auch die Schweiz erreicht. Dies zeigt die Forschung des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI).[5] Das SPI hat in seiner jüngsten Studie 635 christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz befragt und von 370 Gemeinden Antworten erhalten, davon 218 evangelische Migrationsgemeinden. Von diesen lassen sich fast 150 Gemeinden neueren evangelischen Kirchen zuschreiben – den Kirchen der Reformation 2.0!
Die gegenwärtige Reformation führt zu einem Kirchengründungsboom in Europa.
80 dieser Gemeinden wurden allein zwischen den Jahren 2000 und 2012 gegründet. Die gegenwärtige Reformation führt also zu einem Kirchengründungsboom auch in Europa. Im gleichen Zeitraum kamen orthodoxe, katholische und unierte sowie historische evangelische Kirchen zusammen auf nur 31 von der Studie erfasste Gemeindegründungen.[6] Während die Kirchen der „alten“ Reformation von der Migration kaum profitieren, ist die Reformation 2.0 die klare Gewinnerin der globalen Migrationsbewegungen.
Postkonfessionelle Unübersichtlichkeit und Missionsbewusstsein
Allerdings werden solche konfessionellen Zuschreibungen immer brüchiger. Ein Kennzeichen der Reformation 2.0 ist nämlich die Auflösung bisheriger Konfessionsgrenzen. Die Vielzahl von Kirchen und Denominationen mit unterschiedlichsten Theologien, Frömmigkeits- und Organisationsformen führt zu postkonfessioneller Unübersichtlichkeit. Auch katholische Migrationsgemeinden können theologisch oder spirituell durch die Reformation 2.0 geprägt sein und z.B. charismatische Züge tragen.[7] Auch sie können auf ihre Weise Teil der globalen Reformation 2.0 sein.
Gewohnte konfessionelle Muster funktionieren nicht mehr. Auch katholische Gemeinden sind Teil der Reformation 2.0.
Typisch für die unterschiedlichen Migrationsgemeinden der heutigen Reformation ist, dass sie sich stark von den hiesigen Kirchen abgrenzen. Sie sehen ihre Zukunft nicht in den Strukturen der alteingesessenen europäischen Kirchen und erkennen in ihnen meist auch keinerlei Vorbild.[8] Dies kann hiesige Kirchenverantwortliche vor den Kopf stossen. Aber wo haben sich echte Reformatoren davon je abhalten lassen?
Gemeinsam ist allen Kirchen der Reformation 2.0 ein hohes missionarisches Sendungsbewusstsein. Dass die Schweiz von neuem evangelisiert werden muss, ist Konsens der allermeisten der untersuchten Kirchen. Für diese Aufgabe sehen sie sich ausdrücklich von Gott berufen.
„Wir versuchen die Calvins dieser Zeit zu sein. Dank der Reformation ist die Schweiz das, was sie heute ist. Man muss diesem Land seine Identität zurückgeben. Gott hat uns als Visionäre in dieses Land geschickt.“
Die Selbstaussage einer spanischsprachigen Migrationsgemeinde aus der Westschweiz spricht Bände: „Wir versuchen die Calvins dieser Zeit zu sein. Dank der Reformation ist die Schweiz das, was sie heute ist. Man muss diesem Land seine Identität zurückgeben. Gott hat uns als Visionäre in dieses Land geschickt“[9], so ein Originalton der Reformation 2.0 in der Schweiz.
Ökumene 2.0
Die Reformation 2.0 ist komplex. Als globale, dezentrale und theologisch, kirchlich und kulturell vielfältige Bewegung prägt sie das Christentum weltweit und fordert es heraus. Für die Schweiz heisst dies beispielsweise, dass die ökumenischen Kontakte und Arbeitsprozesse neu justiert werden müssen. Themen, Strukturen und Arbeitsformen sind im Blick auf die Anforderungen der Reformation 2.0 anzupassen. Es gilt sich auf Dauer mit einer spannenden und aber nicht spannungsfreien Vielfalt des Christlichen auseinanderzusetzen.
Ökumene 2.0
Eines scheint bislang sicher: Die Reformation 2.0 verlangt andere Antworten als diejenigen, die nach der Reformation 1.0 entwickelt wurden. Die Formen der Ökumene 1.0 dürften in Zeiten postkonfessioneller Unübersichtlichkeit und neuer missionarischer Dynamik heute an ihre Grenzen kommen oder schon überholt worden sein. Die Reformation 2.0 bringt alle Kirchen in Bewegung.
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Arnd Bünker ist Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts, SPI, in St. Gallen und geschäftsführender Sekretär der Pastoralkommission der Schweizer Bischofskonferenz.
Beitragsbild: Aaron Burden, unsplash.com
[1] Vgl. die Darstellung am Beispiel der Stadt Münster: Hubertus Lutterbach: Der Weg in das Täuferreich von Münster, Münster 2006.
[2] Vgl. John L. Allen: Das neue Gesicht der Kirche, Gütersloh 2010, 411 – 450 und http://www.remid.de/blog/2015/10/ambivalentes-verhaeltnis-zur-moderne-was-ist-eigentlich-die-pfingstbewegung-und-warum-ist-sie-global-so-erfolgreich/ .
[3] Vgl. Werner Kahl: Jesus als Lebensretter, Frankfurt a.M. 2007.
[4] Vgl. Michael Bergunder: Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration, in: Zeitschrift für Mission 1-2 (2005), 79 – 91 und Jehu J. Hanciles: Globalisierung, Migration und religiöse Ausbreitung: Migrationsströme und die neuen missionarischen Zentren in der nichtwestlichen Welt, in: Interkulturelle Theologie 2-3 (2011), 223 – 239.
[5] Judith Albisser, Arnd Bünker (Hg.): Kirchen in Bewegung. Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz, St. Gallen, Edition SPI, 2016.
[6] Vgl. Judith Albisser: Ergebnisse der Studie „Christliche Migrationsgemeinden in der Schweiz“, in: Albisser/Bünker 2016, 15 – 110, 27 und 31.
[7] Vgl. John L. Allen: Das neue Gesicht der Kirche, 67ff., 420ff.
[8] Vgl. Judith Albisser, 86 – 96.
[9] Zitiert in: Arnd Bünker: Typen christlicher Migrationsgemeinden und postmigrantische Perspektiven, in: Albisser/Bünker 2016, 111 – 130, 124f.