Jesus und der Sex passen scheinbar nicht zusammen. Oder vielleicht doch? Der Jesus der Evangelien jedenfalls legt eine erstaunliche Unverkrampftheit an den Tag. Der Neutestamentler J. Andrew Doole lädt zu einer spannenden exegetischen Spurensuche ein.
Jesus und Sex. Das sind zwei Worte, die nicht sehr oft im selben Satz vorkommen. Jesus und Liebe, ja. Aber asexuelle Liebe. Der sexuelle Jesus gehört häretischen Künstlern und Internet-Trollen. So was gibt es in der Bibel nicht. Oder?
In Mai 2017 erschien ein neues Buch von Andy Angel, Intimate Jesus: The Sexuality of God Incarnate. Angel liest das Johannesevangelium mit Blick auf Intimität und Sexualität. Er kommt zu dieser Frage aus theologischer Sicht: Das Wort ist „Mensch“ geworden und zum Menschsein gehört auch Sex, so dass der, der Jesu Sexualität leugnet, eine uralte Häresie begeht. Angel findet im Johannesevangelium Vieles, was diese These stützt, denn vor allem dieses Evangelium spielt aufs Thema Sex an und malt einen intimen Jesus. Ich werde hier einen kurzen Überblick zu Angels „intimem Jesus“ im Johannesevangelium anbieten und danach in die anderen Evangelien schauen, ob oder inwiefern Sex auch bei ihnen eine Rolle spielt.
Das Wort ist Fleisch geworden
In Joh 1,14 wird das Wort „Fleisch“. „Fleisch“ ist aber nicht nur eine gender-neutrale Bezeichnung der ganzen Menschheit, sondern auch sehr oft in der antiken Literatur ein Euphemismus für Geschlechtsverkehr. Im vorigen Vers war von Geburt „aus dem Willen des Fleisches“ die Rede (Joh 1,13). Diesem Evangelisten ist bewusst: Fleisch heißt auch fleischlich. Der fleischgewordene Sohn Gottes wird auf Erden das ganze Menschsein erleben.
Der erste Zeuge für Jesus im Johannesevangelium ist der Täufer, der Jesus als Bräutigam bezeichnet: „Der die Braut hat, ist der Bräutigam; der Freund des Bräutigams aber, der dasteht und ihn hört, ist hoch erfreut über die Stimme des Bräutigams; diese meine Freude nun ist erfüllt.“ (Joh 3,29). Die „Stimme des Bräutigams“ ist ein bekannter Topos in antiken Hochzeitsliedern (epithalamium): Der Freund steht vor der Tür und hört das Geräusch aus der Kammer. Indem man den Bräutigam heutzutage sehr oft metaphorisch liest, vergisst man, was seine Aufgabe ist!
Aber Jesus als Bräutigam hat noch keine Braut. Es taucht jedoch eine Kandidatin auf. Jesus setzt sich bei einem Brunnen in Samarien müde und durstig nieder, während seine Jünger im Dorf einkaufen gehen (Joh 4,4–8). Wer sich mit den Geschichten der Patriarchen auskennt, weiß genau, dass Brunnen im ‚Ausland‘ die Singles-Bars der Antike sein konnten (Gen 24,1–27; Gen 29,1–12; Ex 2,15–21). Aber der Evangelist macht eines klar: „Juden verkehren nicht mit Samariterinnen“ (Joh 4,9; im Griechischen ist die Gender-Doppeldeutigkeit umso stärker: ou sugchrōntai Ioudaioi Samaritais). Tatsächlich kann die Samariterin Jesus missverstehen, indem er ihr „lebendiges Wasser“ anbietet (Joh 4,10). Will er mit ihr flirten? Dann wird sogar ihr Intimleben zum Thema (Joh 4,16–18). Als die Jünger zurückkehren, wundern sie sich, dass er mit einer Frau vertraut spricht. „Dennoch sagte niemand: Was suchst du? Oder: Was redest du mit ihr?“ (Joh 4,27). Der Evangelist spielt unmissverständlich mit dem Motiv der Liebesgeschichte.
Eine intimere Szene ist kaum vorstellbar.
Jesus zeigt aber kein Interesse an der Samariterin als (Ehe)Frau. Es gibt eine andere „Freundin“ für Jesus im Johannesevangelium. Die ist aber nicht die Maria Magdalena späterer apokrypher Evangelien (Philippusevangelium 32 und 55) und Verschwörungstheorien (The Da Vinci Code bzw. Sakrileg), sondern eine andere Maria: Maria aus Bethanien. Man findet drei aussagekräftige Hinweise in Joh 12,3: Maria setzt sich zu Jesu Füßen hin, salbt sie mit Parfüm, und wäscht sie mit ihren (losen) Haaren. Eine intimere Szene ist kaum vorstellbar.
Darüber hinaus gibt es noch einen anderen, den Jesus liebt: einen (männlichen) Jünger, der an seiner Brust liegt (Joh 13,23). Dieser wird oft als der „Lieblingsjünger“ bezeichnet und sehr früh in der christlichen Tradition mit Johannes identifiziert. Interessant ist aber, dass er zum ersten Mal beim „Abendmahl“ erwähnt wird, wo er seinen Platz neben Jesus innehat, und wo Jesus einen Vortrag über „die Liebe“ hält. Über Liebe zu reden war bei symposia ganz üblich; und jeder Lehrer hatte seinen Lieblingsschüler. Der lateinische Satyriker Petron hat diese Rolle in einem gewissen „Encolpius“ (Satyricon 68–71) verewigt, denn der Lieblingsschüler liegt an der Brust seines Lehrers (gr. en kolpō). Keiner, der in der Antike dieses Evangelium liest, kann die Anspielung übersehen.
Eine andere Frau, auf deren sexuelles Leben explizit eingegangen wird (Joh 8,1–11), wird anscheinend irgendwie seltsamerweise allein beim Ehebruch erwischt(!). „Die sündige Frau“ scheint ein Topos der frühen Jesus-Überlieferung zu sein, denn im Lukasevangelium wäscht eine andere Frau Jesus die Füße (Lk 7,36–50). Hier hat sie keinen Namen, doch sie wäscht, trocknet und salbt nicht nur Jesu Füße, sondern sie küsst sie.
Prostituierte im Reich Gottes
Jesus hat scheinbar auch Zeit für Prostituierte. Nicht nur erzählt er kritisch von einem neidischen Sohn, der seinem Bruder Umgang mit Prostituierten vorwirft (Lk 15,30), sondern predigt auch aus ausdrücklich: „Wahrlich, ich sage euch, dass die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes!“ (Mt 21,31).
Männer haben es aber schwerer. In der Bergpredigt lehrt er: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“ (Mt 5,28). Und dann sagt er zweimal: „Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.“ (Mt 5,29–30 – aber in diesem Fall nimmt er nur Bezug auf „Auge“ und „Hand“!). Er erzählt aber auch von Männern, „die sich selbst kastriert haben um des Himmelreiches willen.“ Er schließt mit dem vielleicht etwas ungeschickten Aufruf ab: „Wer es fassen kann, der fasse es!“ (Mt 19,12)
Jesus nimmt auch Bezug auf ehelichen Sex: Er scherzt über einen Eingeladenen, der mit seiner Braut so beschäftigt ist, dass er zum Abendessen nicht kommen kann (Lk 14,20). Und die Sadduzäer stellen eine Frage an ihn, in der ehelicher Sex mindestens impliziert ist: Wenn eine Frau mehrmals verwitwet ist, wer darf im Jenseits mit ihr schlafen? (Mk 12,18–23 par.) Jesu Antwort lautet: Wenn die Toten auferstehen, werden sie wie Engel in den Himmeln. Fazit: kein Sex im Himmel!
Erotische Aufführung
Nicht so keusch sind die „Bösen“ in den Evangelien, wie zum Beispiel die königliche Tochter, die vor Herodes tanzt. Dieses Mädchen muss noch unverheiratet gewesen sein, um vor Gästen tanzen zu dürfen, also vermutlich zwischen 11 und 16 Jahre alt. Sie tanzt gut, und „gefiel dem Herodes“. Der erregte König vergisst sich und verspricht ihr „alles bis zur Hälfte meines Reiches“ (Mk 6,22–23). Der arme Täufer, der sich gegen die Verkupplung des Königs mit seiner Schwägerin geäußert hatte (Mk 6,18), wird wegen dieser erotischen Aufführung enthauptet.
Es gibt noch einen anderen Jüngling, der erwähnenswert ist. Als Jesus im Garten verhaftet wird, heißt es: „Ein junger Mann, der ein Leinenhemd um den bloßen Leib geworfen hatte, folgte ihm, und sie ergriffen ihn. Er aber ließ das Leinenhemd fahren und floh nackt.“ (Mk 14,51–52). Könnte es sich um denselben Jüngling handeln, den die Frauen am Sonntagmorgen im Grab vorfinden, nun aber „bekleidet mit einem weißen Gewand“ (Mk 16,5)? Dieser geheimnisvolle junge Mann ist ebenso anonym wie der Lieblingsjünger im Johannesevangelium und scheint anhand der Garten- und Grabszenen eine enge Beziehung zu Jesus zu genießen.
Es gibt also tatsächlich sexuelle Spannung in und zwischen den Zeilen der neutestamentlichen Evangelien. Das Johannesevangelium zeigt das ziemlich explizit, mit dem Wort „fleischgeworden“, mit dem Bräutigammotiv und in der engen Beziehung Jesu mit Maria von Bethanien und dem Lieblingsjünger. Doch auch in den anderen Evangelien ist Sex ein wiederkehrendes Thema: man trifft auf sündige Frauen, Huren, Kastrierte, eine erotische Tänzerin und Jünglinge. Evangelien stellen einen Jesus dar, der mit Menschen intim und ungehörig umgehen kann, und der sich vor Körperkontakt oder Gerede über Sex nicht scheut. Manchmal bedarf Jesus eines Jugendschutzvermerks.
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Dr. Andrew Doole ist Assistent für neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Universität Innsbruck.
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