„Homosexualität und katholische Kirche“ war über lange Zeit kaum moraltheologisch verhandelbar; zumindest nicht für eine Moraltheologie, die nicht mit dem Rücken zur Wirklichkeit sprechen wollte. Mit Papst Franziskus hat Tauwetter begonnen.
Im Kontext des Prozesses der Familiensynoden 2014 und 2015 liegt seit diesem Sommer ein Buch vor, das sich aus verschiedenen theologischen und sozialwissenschaftlichen Perspektiven der Frage der Wahrnehmung und Bewertung von Homosexualität in der Kirche stellt. Der Titel rekurriert auf eine Äusserung von Papst Franziskus: Wer bin ich, ihn zu verurteilen? Franziskus meint eine homosexuelle Person, die Gott sucht. Auch wenn Franziskus‘ Äusserung noch keine Änderung der Lehre der Kirche über Homosexualität darstellt, so ist die damit zum Ausdruck gebrachte Wahrnehmung homosexueller Menschen ebenso wie die damit verbundene Haltung ihnen gegenüber Zeichen eines Wandels. Das Verhältnis von Homosexualität und katholischer Kirche ist in Bewegung. Das ist es zwar in vielen Teilen der Welt und der Weltkirche schon lange – nun ist es aber auch „ganz oben“ in Bewegung geraten.
Der Herausgeber des Buches, Stephan Goertz, katholischer Theologe und Professor für Moraltheologie in Mainz, kann als einer der soziologisch informiertesten deutschsprachigen Moraltheologen gelten. Diesen Grundzug einer über die Welt und ihre Wirklichkeiten informierten Theologie teilen die Autoren und Autorinnen des Bandes.
Levitikus, Paulus und wir
Grossartig sind die Einstiegsbeiträge aus alt- und neutestamentlicher Sicht. Thomas Hieke zerlegt die vermeintlich homosexuellenfeindlichen Aussagen aus den Büchern des Ersten Testaments. Zugleich skizziert er, was die uralten Texte uns noch immer sagen könnten. Eine Abwertung von Homosexualität im heutigen westlichen Verständnis durch das Alte Testament gehört nicht dazu.
Michael Theobald nimmt im anschliessenden Beitrag die paulinischen Textstellen aufs Korn, die in der kirchlichen Tradition als Begründung der Verurteilung von Homosexualität herangezogen werden. Wollte man Paulus wirklich in die Gegenwart übertragen, müsste man nach Theobald zu einer vorbehaltlosen Annahme von Schwulen und Lesben in der Kirche gelangen.
Mehr sehen und dann erst urteilen
Dass die Auseinandersetzung mit Homosexualität in der Theologie keineswegs selbstverständlich ist, macht die blosse Existenz der zwei folgenden Beiträge deutlich. Für den kirchlich-theologischen Diskurs ist es noch immer notwendig, überhaupt schon die Realität von Homosexualität zu schildern und in ihrer „Normalität“ darzustellen. Die Feststellung der Wirklichkeit ist eben Voraussetzung des Umgangs mit ihr. Im hier vorgestellten Band finden sich daher eine sexualmedizinische wie eine sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „Wirklichkeit Homosexualität“.
Nach diesen humanwissenschaftlichen Wirklichkeitsfeststellungen folgt Magnus Striet mit einem Beitrag aus systematisch-theologischer Perspektive. Nach einer Kritik an den verkürzten und verkürzenden theologischen Begründungen der Ablehnung und Verurteilung von Homosexualität in der kirchlichen Lehre kommt er auf sein Hauptargument. Striet zeigt die Problematik von Versuchen, aus einer irgendwie definierten Wesensnatur des Menschen Normen ableiten zu wollen. Die Problematik ist eine doppelte, da zum einen eben diese Natur gar nicht eindeutig benennbar ist und zum anderen die Freiheit des Menschen mit der Fixierung auf normative Naturvorgaben aus dem Blick gerät. In der Bezugnahme auf ein ohnehin fragwürdiges Natur-Konzept neigt die Kirche nämlich zu dem Fehler, Normen aus der Natur ableiten zu wollen, was der Freiheit des Menschen bei moralischen Fragen den Boden entzieht. Hier wiederum sind das Gottesbild und damit auch die Grundstruktur des Glaubens thematisiert. Die Konsequenz der Vorstellung eines Gottes, der von den Menschen einen Lebensvollzug nach den Vorgaben der „Natur“ verlangt, besteht nämlich darin, dass eine so gedachter Gott die Freiheit der Menschen und ihre Personwürde nicht achten würde. Geht man jedoch von einem Gott aus, der eben diese Freiheit und Würde achtet, müssen gerade Freiheit und Würde als zentrale und entscheidende Achsen einer moraltheologischen Würdigung homosexueller Liebe und homosexueller Partnerschaften gesehen werden.
Wege und Umwege der kirchlichen Lehrentwicklung
Stephan Goertz rekonstruiert in seinem Beitrag die Geschichte der moraltheologischen Auseinandersetzungen mit Homosexualität, die erst im 19. Jahrhundert mit der „Entdeckung der Homosexualität“ begonnen hat. In dieser Geschichte spiegelt sich nicht zuletzt der starke Wandel wissenschaftlicher Blickweisen und Einschätzungen der Homosexualität wider. Insbesondere die Einschätzung von Homosexualität als Abweichung oder Krankheit und die Überwindung dieser Einschätzungen haben auch die Moraltheologie verändert. Dass das römische Lehramt sich überhaupt erst in jüngerer Zeit, nämlich seit 1975, explizit mit Homosexualität befasst hat, darf überraschen. Ebenso überrascht es, dass die kirchliche Lehre die Dimension der Personalität in menschlichen Liebesbeziehungen seit dem Zweiten Vatikanum für heterosexuelle Sexualpartner zentral gewichtet, während sie dies für homosexuelle Paare bislang nicht tut.
Stimmig im Anschluss an diese Beobachtung setzt sich der folgende Beitrag mit genau dieser Personalitätsdimension auseinander. Die Vorstellung einer für personale Beziehungen notwendigen und hinreichenden „heterosexuellen Komplementarität“ der Partner wird dekonstruiert. Damit ist einer Rückkehr des naturrechtlichen Denkansatzes durch die Hintertür der Personalitätskonzeption der Weg versperrt.
Diskurse und ideologische Formate
Zum Verständnis heutiger Diskurse über Homosexualität in den Kirchen trägt Michael Brinkschröder bei. Er zeichnet unterschiedliche Diskurse der Antihomosexualität im Christentum nach und ermöglicht es, heutige homophobe Äusserungen ideologisch und theologiegeschichtlich einzuordnen. Bezugnahmen auf kultische Reinheitsvorstellungen, apokalyptische Szenarien, naturrechtliches Ordnungsdenken und die Symbolik der Brautmystik lassen sich so ebenso wiederentdecken wir die Grundzüge des (homosexualitätsfreundlichen) liberalen theologischen Diskurses der jüngeren Zeit.
Partnerschaften, Ehe und Kinder
Gleich drei Beiträge widmen sich sozialethischen Fragestellungen vor allem im Blick auf die Frage der Bewertung homosexueller Partnerschaften und ihrer Anerkennungsformen. Josef Römelt lotet Spielräume zwischen der Gewissensfreiheit einerseits und einer humanökologischen Orientierung andererseits aus. Alberto Bondolfi trägt rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Perspektiven bei und Gerhard Marschütz stellt sich dem aktuell und emotional wohl am meisten herausfordernden Thema der gleichgeschlechtlichen Elternschaft. Seine instruktive Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Studien über die Relevanz von hetero- oder homosexuellen Elternpaaren für das Wohlergehen von Kindern ist hilfreich, um – wie sich zeigt unbegründeten – Ängsten um das Kindeswohl bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren sachlich qualifiziert zu begegnen.
Nochmal: Familiensynode
Den Schlussakzent des Buches setzt wiederum Michael Brinkschröder mit einem Ausblick auf die Familiensynode im Oktober 2015. Seiner spannenden Rekonstruktion der Ereignisse der Synode 2014 folgen Szenarien über Kompromissmöglichkeiten der Synode 2015.
Kurz: Ein perspektivreiches, hochinformatives und zudem erfreulich gut lesbares Buch. Ein Muss (!) für alle, die in Kirche, Seelsorge, Religionsunterricht oder kirchlicher Jugendarbeit mit Fragen rund um Homosexualität konfrontiert sind.
Stephan Goertz (Hg.): „Wer bin ich, ihn zu verurteilen?“ Homosexualität und katholische Kirche (Katholizismus im Umbruch 3), Freiburg 2015