Was passiert, wenn eine Innenstadtkirche sich öffnet und im Stadtteil auf neue Weise aktiv wird, das beschreiben Andréas Hofstetter-Straka und Paul Kugler: Kreativität dringt in alle Ritzen.
Sonntagabend, Ende Mai, gegen Mitternacht in der Stuttgarter Innenstadt. Die offenen Türen der Marienkirche lassen die Geräusche eines frühsommerlichen Abends in die Kirche. Innen bewegen sich 15 Paare zu Klängen von Franz Schubert: „Ave Maria“. „Silent Night“ – ein Angebot einer Tango-Schule aus dem Stadtviertel. Die letzten Töne verklingen und es ist absolut ruhig, die Paare verharren in ihrer letzten Bewegung. Erst als ein Gong ertönt, Bewegung, Beifall, Ende der Anspannung und auf den Gesichtern ein Berührt sein vom gerade Erlebten.
Tango in der Kirche
Eine kurze Zeit zuvor: Ein älteres Gemeindemitglied geht Richtung Ausgang. Sie ist seit einer Stunde stille Beobachterin des Geschehens in ihrer Kirche. An der Kirchentür ergibt sich ein kurzes Gespräch: „Wissen Sie, früher sind mein Mann und ich jeden Sonntagabend zum Tanzen gegangen, als er noch lebte.“ Sie fährt fort: „Und wissen Sie, jetzt war er da!“
Solche Erfahrungen der Begegnung, des Sich-Öffnens und der Überschreitung machen wir in St. Maria seit wir die Kirchentüren geöffnet haben. Seit Ende Mai diesen Jahres ist St Maria offen für Neues. „Wir haben einen Raum – haben Sie eine Idee?“ Unter diesem Motto haben wir die Türen für einen Partizipationsprozess geöffnet.
Vorgeschichte
In der Kirche wird es ernst, wenn der Verputz auf die Bänke der Gottesdienstbesucher herunterfällt. So ist es in St. Maria vor 2 Jahren geschehen. Es war klar, dass die Renovierung der Kirche nicht weiter aufgeschoben werden kann.
St. Maria liegt in der Stuttgarter Innenstadt. Sie ist eine große, den öffentlichen Raum bestimmende, neugotische Kirche, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Nach schweren Kriegszerstörungen wurde sie in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiederaufgebaut.
Viel frequentierter Platz unterschiedlicher Nutzungen
Um die Kirche herum haben in den vergangenen Jahren viele Entwicklungen stattgefunden, die den Ort zu einem viel frequentierten Platz unterschiedlicher Nutzungen machen. Viele Menschen kommen täglich an der Kirche vorbei. Für viele ist sie auch ein Ruhepol im Getriebe der Stadt.
Nach Gesprächen mit der Diözese, konnten zu Beginn des Jahres die Bänke ausgebaut werden, um die verputzten Flächen mit Hilfe von Gerüsten zu untersuchen und die akuten Gefahren zu beseitigen. Damit wurde die Kirche zum Provisorium! Wir feiern weiterhin hier die Gottesdienste. In der Kirche ist ein großer Freiraum entstanden, der in vielfältiger Form genutzt werden kann.
Bänke ausgebaut, es entstand viel Platz.
Es ist klar, dass St. Maria, allein als Gottesdienstraum für die Gemeinde, zu groß ist. Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Überlegungen, für weitere Nutzungen. Allerdings wurden die verschiedenen Vorschläge verworfen.
Seit Februar 2016 trifft sich regelmäßig eine Gruppe aus Vertretern der Gemeinde und Mitarbeitern des Stadtdekanates[1]. In dieser Gruppe wurde die Idee formuliert, die Nutzung durch eine große Beteiligung der Menschen zu suchen, die um die Kirche herum arbeiten und leben, die Interesse an diesem Bauwerk und seiner weiteren Entwicklung haben.
Konkretisierungsphase
Als einen großen Glücksfall stellte sich der Kontakt zu den Frauen und Männern des Vereins „Stadtlücken“ heraus. Junge Menschen, die sich um ungenutzte Stadträume kümmern. Im Oktober 2016 führen sie direkt vor der Marienkirche unter der Paulinenbrücke ihre erste öffentliche Aktion durch: „Wo ist der Österreichische Platz?“[2]. Eine erste Kooperation zwischen Stadtlücken und der Kirchengemeinde findet in dieser Phase statt. Anfang 2017 steigen sie in die Prozess- und Planungsgruppe ein und befeuern uns. Ein Partizipations- und Ausstellungskonzept entsteht.
Ideenboxen: Wird jemand reagieren?
Ende März wird der Entwurf für eine Ideenbox vorgestellt. Wenn wir uns Ideen schenken lassen wollen, dann müssen wir zuvor etwas geben. Die 70 Boxen mit Sticker der Marienkirche, Plänen und Erklärung, Teebeutel und USB-Stick werden an einem Freitag im Pfarrbüro von den Stadtlücken zusammengebaut. 65 Boxen gehen an eine im Vorfeld festgelegte Gruppe von Frauen und Männern. Noch sind wir unsicher, wird jemand reagieren, bekommen wir eine Resonanz?
In einem Brief an den Kirchengemeinderat formulieren wir: „Partizipation ist ja nicht die erste Assoziation, die einem einfällt, wenn man an die römisch-katholische Kirche denkt. Aber dies genau ist die Wette und das Wagnis, die wir als Mariengemeinde eingehen wollen. Andere zu befragen, was sie sich mit und in der Marienkirche vorstellen können. Zu hören, wahrzunehmen und wertzuschätzen was Anderen einfällt, was sie sich wünschen. Vielleicht ganz Neues, vielleicht auch Verstörendes, oder gar provokant Skandalisierendes und trotzdem in allem das Wohlwollen für unsere Kirche zu entdecken. Mit anderen Menschen trotz bleibender Verschiedenheit Gemeinsamkeiten finden und in diesem Suchprozess bleiben[3]. Dass sich nicht alles, oder nur manches realisieren wird, ist eine erwachsene Haltung, die wir allen zutrauen.“[4]
„Know How“ vom Stadtlücken e.V.
Gleichzeitig legen die Stadtlücken uns ein Konzept für eine Ausstellung und den eigentlichen Partizipationsprozess vor und bieten ihre Mitarbeit für den Aufbau an. Eine kleine Kunstaktion, als Aufmerker vor der Kirche, Ausstellungswände im gleichen Material, wie der provisorische Holzboden, einen zwölfteiligen runden Tisch, St. Maria Hocker, einen Web-und Facebook-Auftritt und vor allem ein Kommunikationsdesign. Die sehr schematischen Umrisse der Marienkirche als DIN A 0 Plakat und Postkarte mit dem Slogan „St. Maria als“ und der leeren Mitte. Und vor allem offene Türen.[5]
Die Aktionsphase
Die Aktionsphase war vom 20.05 – 03.06.2017 geplant. Ihr voraus geht ein Pressegespräch mit verschiedenen Vertretern der regionalen Presse, dem Stadtdekan Dr Hermes, Vertretern der Stadtlücken und der Gemeinde. Zu diesem Zeitpunkt sind schon 29 Boxen zurückgekommen. Weitere werden in den nächsten Tagen folgen. Wir sind überwältig über die Zahl und die Qualität.
Für die Eröffnung am Samstag ist am Abend eine Veranstaltung mit Laurenz Theinert und zwei Elektronik-Musikern geplant.[6] Die Planung der weiteren Veranstaltungen entsteht in den wenigen Tagen vor oder während der Aktionsphase. Die Kirche ist täglich ab 12:00 Uhr geöffnet. Am runden Tisch mit den Din A 0 Plakaten, Farbstiften und Schere entsteht eine Kreativwerkstatt und im Eingangsbereich kann mit Acrylfarben großflächig gemalt werden.
„Wissen Sie wir waren noch nie in einem christlichen Gotteshaus.“
Die Menschen kommen, lassen sich ein, lassen uns Ideen. Während der Öffnungszeiten ist immer ein Vertreter/eine Vertreterin aus der Gemeinde präsent. Wie oft hören wir den Satz: „Ich bin schon so oft an der Kirche vorbeigelaufen, aber sie war immer geschlossen“. Und unsere Antwort lautet: „Nein, nicht geschlossen, aber die Türen waren zu“!
An einem Nachmittag steht eine türkische Familie in der Kirche. Der Vater bittet darum, den Kindern eine christliche Kirche zu erklären. „Wissen Sie wir waren noch nie in einem christlichen Gotteshaus. Wir würden niemals die Klinke herunterdrücken. Aber jetzt standen die Türen offen.“ Bei einer weiteren Begegnung, im Gespräch mit zwei Architekten, die sich schon über eine Stunde in der Kirche aufhalten, fällt der Satz: „Haben Sie es schon bemerkt, die Menschen verlassen die Kirche anders als sie hereinkommen sind.“ Eine große Überraschung erleben wir mit „foodwatchern“, die an Veranstaltungsabenden Lebensmittel in die Kirche bringen und dort verteilen; Brot, das sonst auf dem Müll landen würden.
Kirche als Mobilitätsstation
Während der Aktionsphase entwickelte sich an der Marienkirche eine Mobilitätsstation[7]. Über den ganzen Sommer hatten wir die Chance eine ehemalige Fahrlehrerin und Sozialarbeiterin jeweils von Donnerstag bis Sonntag mit E-bikes, Rikschas an der Kirche zu haben. Die besondere Attraktion war ein auf einem E-Bike montierter Tischkicker. Kicken und Menschen mit den Rikschas durch das Stadtviertel zu bringen war sehr schnell die Leidenschaft einer Gruppe von Jungen aus der naheliegenden Flüchtlingsunterkunft.
Höhepunkt dieser Aktionen war der Abschluss der „Critical mass“ am 04.08. mit ca. 1200 FahrradfahrerInnen in der Kirche und um die Kirche herum.
Reaktionen
Bunt glänzend, vielfältig, bedenkenswert, berührend und überraschend in ihrer Originalität und Zahl sind die Ideen, Einfälle und Vorschläge. Viele haben sich Zeit genommen, haben nachgedacht, entworfen, geklebt, gemalt und geschrieben. Wir sind begeistert und überwältigt.
Viele sind begeistert, wenigen sind wir zu weit gegangen.
Natürlich gab es auch kritische Stimmen. Das kann nicht anders sein. Eine Kirche ist ein Gebäude, das sich mit vielen Gefühlen verbindet[8] und eine bauliche Veränderung und sei es auch nur provisorisch löst Reaktionen aus. Wenigen sind wir zu weit gegangen, einige tun sich schwer mit der Sitzordnung in den liturgischen Feiern.
Fazit
Die positive Resonanz über die derzeitige Situation in der Kirche hat uns überrascht und beflügelt. Sie bestärkt uns in der Haltung auch weiterhin Frauen und Männer zu fragen und das offene Konzept zu erhalten. Wir hoffen, dass der Kirchenraum für vielfältige Veranstaltungen nutzbar bleibt. Die Erprobungsphase im Mai hat gezeigt, dass Viele ein großes Interesse haben, den Raum mit seiner besonderen Atmosphäre gemeinschaftlich zu nutzen[9].
[1] Zu unserem Prinzip der Gastfreundschaft gehört, dass wir solche Zusammenkünfte immer auch mit einem Essen begleiten bzw. beenden.
[2] https://www.facebook.com/events/1804563986422436/
[3] Hadwig Müller; Freigeben, Stuttgart 2013. Pastoral d‘engendrement S. 70 „… und eine Haltung der Empfänglichkeit für das Leben in jedem Menschen.“
[4] Brief an die KirchengemeinderätInnen der Südgemeinde Stuttgart vom 31.03.2017
[5] Die Marienkirche hat Richtung Innenstadt drei doppeltürige Eingangspforten. Nur die mittlere ist normalerweise aufgeschlossen. Eine Seitentür führt zur Tübingerstraße.
[6] Das ganze Programm findet sich unter: http://st-maria-als.de/. Hier werden ab Anfang November auch alle Ideen in elektronischer Form sichtbar sein.
[7] Die Mobilitätsschule ist ein Forschungsprojekt. http://nachhaltigmobil.schule/
[8] Rainer Bucher; Unaufdringliche Antreffbarkeit, ThPQ 165 (2017). S. 115 -122 hier besonders S. 119f
[9] Vielleicht ist das gemeint, wenn Bischof Franz-Josef Overbeck in einem Interview in der süddeutschen Zeitung am 19.09.2017 von Sympathisanten und Sympathisantinnen spricht.
Andréas Hofstetter-Straka arbeitet als Pastoralreferent in der Seelsorgereinheit Südgemeinden Stuttgart. Paul Kugler ist dort Leitender Pfarrer.
Ein erstes pastoraltheologisches „Working Paper“ vom Lehrstuhl für Praktische Theologie/Tübingen findet sich hier.
Bild: https://www.facebook.com/events/1804563986422436/