Es gibt keine Antwort auf die Frage des Leidens, auch nicht aus dem Glauben. Wie sich damit dennoch glauben lässt, und was vom echten Atheismus zu lernen ist, erörtet Fulbert Steffensky.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Mein Gott, des Tages rufe ich, doch du antwortest nicht, und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe.
So beten wir mit dem 22. Psalm. Wissen wir, was wir beten? Wissen wir, dass wir die alte Anklage gegen Gott erheben? Unsere Verkündigung wird langweilig, wenn wir Gott zu früh verteidigen, wie die Freunde Hiobs es getan haben. Als dieser in sein grosses Unglück gestürzt ist; als ihm Hab und Gut und die Kinder genommen wurden, haben die Freunde gesagt: „Die Weisheit Gottes ist grösser als der Himmel… Was kannst du wissen? Wenn er dahinfährt und Gericht hält, wer will’s ihm wehren?“ (Hiob 11, 8) Die Freunde verteidigen Gott, indem sie Hiob seiner Sünden anklagen, die sie für den Grund seines Unglücks nennen. Gott tut niemandem Unrecht, sagen sie. Du wirst deine geheime Schuld haben, dass du so bestraft wirst. Merkwürdiger Weise tadelt Gott die Freunde wegen ihrer frommen Welterklärungen. Er will nicht verteidigt und erklärt werden.
Vielleicht sind gerade religiöse Menschen lösungsversessen und leiden unter Erklärungszwängen. Ich glaube nicht, dass wir eine Lösung finden. Ich glaube nicht, dass wir eine Erklärung finden für all die Leiden der Hiobs, für ihre eitrigen Wunden, mit denen sie bedeckt sind „von den Fusssohlen an bis auf den Scheitel“. Ich möchte Hiobs Frau verstehen lernen: „Sage Gott ab und stirb!“ sagt sie. Ich möchte den Atheismus verstehen lernen. Der Grund des Lebens ist gut, singen und sagen wir. Der Grund des Lebens ist Sprache und Gehör. Aber wo hört denn einer? Sind unsere Gebete mehr als ein Monolog? Im besten Fall eine Art monologischer Selbstvergewisserung; eine psychologische Methode, das große Misstrauen in die Welt und in das Leben auszutricksen?
Das Schweigen Gottes ist die grosse Einrede gegen das Weltvertrauen
Gott hat alles schön gemacht, heisst es im Buch Kohelet (3, 11). Hat er auch alles gut gemacht? Es ist nicht leicht, Gott zu loben. Das Schweigen Gottes ist die große Einrede gegen das Weltvertrauen, gegen die Behauptung der Güte des Seinsgrundes, die alle Betenden aufstellen, indem sie beten. Gottvertrauen macht „theodizee-empfindlich“ (J.B.Metz), es zwingt zur Erklärung dessen, was das Vertrauen in Frage stellt. Der Glaube, der nicht blind ist wird aufs tiefste irritiert durch das Schweigen Gottes, und so lehrt er eine der wichtigen Fragen zu stellen: Wo bist Du, Gott? Sei endlich Gott! Er verlangt von Gott, Gott zu werden. Wir sind es gewohnt, dass Gott die Frage stellt „Wo bist du Mensch?“, und es gehört zu unserer Humanität, sie zu hören. Die Frage „Wo bis du, Gott?“ ist der atheistische Schatten des Glaubens selber. Der ernsthafte Glaube und der ernsthafte Atheismus sind nahe Geschwister, sowie die banalen Welterklärungskünstler und die schmerzfreien Gottesleugner nahe Kumpels sind.
Wir sollten es aufgeben, Gott zu verteidigen.
Die Würde der Untröstlichkeit ist die der ernsthaften Atheisten. Sie kommen nicht darüber hinweg, was dem Leben angetan wurde. Sie sind fähig, das Augenlicht der Blinden zu vermissen, den aufrechten Gang der Lahmen und die Sprache des Verstummten. Sie lassen sich nicht trösten über allem, was dem Leben angetan wurde, und weigern sich ein Ganzes zu nennen. In Psalm 91 heißt es: „Fallen auch tausend zu deiner Linken und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es dich doch nicht treffen.“ Dieser Vers ist nicht nur ein Trost, er ist eine tiefe Irritation, mit der der Glaube leben muss und für die er keine Lösung hat. Was ist mit den stürzenden Tausenden und Zehntausenden? Wir Theologen sagen manchmal mit leichter Zunge: Gott hört und hilft auf eine andere Weise, als wir es erwarten und als wir es uns vorstellen. Aber die Menschen in den Flüchtlingslagern wollen nicht auf eine höhere Weise erhört werden. Sie wollen befreit werden von den Demütigungen, vom Hunger, von den Vergewaltigungen und vom barbarischen Tod. Wir sagen: Gott erfüllt unsere Bitten, indem er sie zurechtrückt; indem er sie transformiert und sie nach seinem eigenen größeren Willen formt. Aber die Gedemütigten haben einen Anspruch auf die Freiheit von ihrer Qual, weil sie Menschen sind und weil sie gedemütigt sind. Wir sollten es aufgeben, Gott zu verteidigen. Es genügt, wenn wir ihn loben durch allen Schmerz und durch alles Nichtverstehen hindurch. Das Leben geht nicht auf, auch für den Glaubenden nicht. Gott hat uns gelehrt, groß vom Menschen zu denken, Söhne und Töchter nennt er uns. Je größer wir vom Menschen zu denken gelernt haben, umso weniger ist zu erklären, wiedergutzumachen, darüber hinwegzutrösten, was ihm angetan wird. Das ist die Würde der Untröstlichkeit.
Die Würde der Untröstlichkeit.
Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Diese Frage stellt an Karfreitag nicht irgendeiner. Der Gottverlassene ist der, in dem die Christen das Antlitz Gottes selber erkennen. Man erzählt sich dies und das über Götter: sie seien stark und nichts könnte sie verwunden; sie lebten im unzerstörbarer Seligkeit; sie seien souverän, den Menschen geneigt und öfter noch feindselig gegen sie. Aber was ist bewundernswert an der Stärke der Starken und an der Seligkeit der Unverwundbaren? Das ist der natürliche und erwartbare Lauf der Dinge.
Es gibt eine andere Erzählung über Gott. Es wird erzählt, er sei unter der Maske des Mannes aus Nazareth als Verwundbarer durch die Welt gelaufen – wie wir selbst; er sei anfällig gewesen für Schmerzen und Ohnmacht – wie wir selbst; er sei den Schlägen und dem Tod nicht ausgewichen – wie wir selber; er sei am Kreuz gestorben mit einem verzweifelten Schrei auf den Lippen. Das ist nicht der natürliche Lauf der Dinge, dass ein Starker auf seine Stärke verzichtet und dass er Teilhaber des Menschenschicksals wird.
Der zu rasche Glaube kann die Verwunderung vertreiben.
Ich wollte, wir würden einmal unseren Glauben an diese alte Geschichte und an den verlorengegangenen Gott vergessen. Ich wollte, dass wir uns einfach verwundern über das, was da erzählt wird. Ich wollte, man könnte die Geschichte zunächst von ganzem Herzen unglaublich und unglaubhaft finden. Der zu rasche Glaube kann die Verwunderung vertreiben. Der bedenkenlose und unverzögerte Glaube kann suggerieren, dies sei eine selbstverständliche und natürliche Geschichte. Glauben kann man später. Erst sollte man sich die Augen reiben über der unwahrscheinlichen Erzählung; über der Geschichte der Würde und der Schönheit Gottes. Götter, die nicht bluten können, sind nicht zu bewundern. Die Starken, die gierig auf ihrer Stärke bestehen, sind nicht schön, sie sind gewöhnlich, wie alle Kraftprotze. Wer die fremden Schmerzen nicht zu seinen eigenen machen kann, ist nicht schön, er ist wie alle anderen. Diese Geschichte des verlorenen Gottes schön zu finden, ist vermutlich die erste und nicht überspringbare Stufe dazu, sie zu glauben, sich in sie zu stürzen und sie nicht mehr loszulassen.
Unsere Sprache zerbricht vor dieser Unsäglichkeit. Darum kann die Geschichte jenes maskierten Gottes nicht erklärt und aufgeschlüsselt werden. Man kann mit Erklärungen ihr Geheimnis entweihen, indem man es lüftet. Eine zweifelhafte Erklärung sagt, die Schuld der Menschen habe vor Gott nur gesühnt werden können durch das Blut und den Tod seines eigenen Sohnes. Nein, Blut nützt nichts. Kein Tod ist gut, der den Menschen gewaltsam aufgepresst wird, auch nicht der Tod jenes Gerechten.
Kein Tod ist gut, der den Menschen gewaltsam aufgepresst wird, auch nicht der Tod jenes Gerechten.
Gut ist kein Tod, das ist wahr. Aber gut ist die Güte. Gut ist die Leidenschaft jenes Gottes, versteckt in Christus, der dort sein will, wo das Leben geschändet wird; wo Menschen in ihrer Schwäche und Schuld ertrinken und wo der Tod sie zeichnet, ehe sie geboren sind. Ein geschwisterlicher Gott kann nur der sein, der in unsere eigene Endlichkeit gefallen ist. Gott hat sich nicht trennen lassen von unseren eigenen Schicksalen, wie die Liebe sich nicht trennen lässt vom Geschick der Geliebten. Er opfert sich mit seinem Leben und seinem Tod in unser Leben und in unseren Tod. Unser Versprechen ist die Solidarität Gottes, die er durchhält bis zum bitteren Ende, bis zum schmählichsten Tod am Galgen. Der verborgene Gott ist kenntlich geworden im Schicksal jenes Menschen aus Nazareth, er hat seine Maske gelüftet. Menschen lesen sich mit ihrer Schwäche, mit ihren eigenen Wunden und mit ihrer Schuld in die Vollkommenheit dieser Güte hinein. Sie singen ihre hilflosen Passions- und Osterlieder – ja, es lässt sich leichter davon singen als darüber reden. Sie stürzen sich in einen Anfang, der vor allen eigenen Anfängen gemacht ist mit dem Tod jenes Gerechten. Wir sind nicht gezwungen, nur die zu sein, die wir sind. Wir sind auch die, die gemeint sind mit jener nicht weichenden Güte. Dies ist das Unmöglichste, was dem Glauben zugemutet ist, und es ist das Tröstlichste. Ich kann nicht anders, ich glaube diesem Christus seinen Gott.
Unser Versprechen ist die Solidarität Gottes, die er durchhält bis zum bitteren Ende.
Wenn ich das Bild dieses Christus nicht hätte und wenn mir all die Hiobs dieser Erde; all die Verlassenen mit ihren Eiterbeulen und Fesseln, mit ihrem Hunger und mit ihrer Würdelosigkeit, mit ihren Schmerzen und mit ihren Toden gleichgültig wäre, dann würde ich mich wohl als Agnostiker bekennen. Ich wäre Zuschauer und würde mich des Urteils enthalten. Ich würde darauf verzichten, den Sinn oder den Unsinn eines Geschehens zu behaupten. Ich bliebe neutral. Wenn mir, was dem Leben angetan wird, nicht gleichgültig ist, dann habe ich nur zwei Möglichkeiten, die eine: die Empörung, Gott abzuschwören und die Güte des Weltgrundes zu leugnen. Die andere: der Glaube. Ich lasse mit ihm die Toten nicht allein, ich gebe die Hoffnung nicht auf, und sei es nur aus Trotz.
In einer alten jüdischen Chronik ist folgende Geschichte erzählt: Ein alter Jude, ein Emigrant aus Spanien, war mit seinen Kindern und mit seiner Frau auf der Flucht. Die Frau starb. Der Mann trug die Kinder weiter, bis er ohnmächtig niedersank. Als er aufwachte, fand er beide Söhne tot. In seinem Schmerz stand er auf und sprach: „Herr der Welten! Viel tust du, damit ich meinen Glauben aufgebe. Wisse aber, dass ich sogar den Himmelsbewohnern zum Trotz ein Jude bin und ein Jude sein werde. Da wird nichts nützen, was du auch über mich gebracht hast und noch über mich bringen magst.“ Dann raffte er ein wenig Staub und Gräser auf, bedeckte damit die toten Kinder und ging seines Weges, um eine bewohnte Stätte zu suchen.
Fulbert Steffensky war bis 1998 Professor für Religionspädagogik am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg. Er lebt heute in Luzern.
Bild: Dieter Schütz / pixelio.de