Hildegund Keul begleitet eine afghanische Muslima und ihre Tochter in eine christliche Kinderweihnachtsfeier.
„Möchten Sie an Weihnachten mit den beiden vielleicht mal zur Kirche gehen?“ So fragt mich unsere Übersetzerin im Dezember 2014. Seit zehn Wochen lebt „meine“ Flüchtlingsfamilie in unserem Haus zur Miete, eine zwanzigjährige Frau aus Afghanistan mit ihrer kleinen Tochter. Ich zögere. Ist das nicht zu übergriffig? Ganz anderes Frau Nazari, meine Mieterin. Ihr Gesicht strahlt auf. Alles ist besser, als dieses Zuhausesitzen, sich einsam fühlen, grübeln. Außerdem interessiert sie die Kirche. Sie ist Muslima und will erfahren, wo sie hier eigentlich gelandet ist. Wie sieht eine katholische Kirche von innen aus?
Licht, Wärme und Geborgenheit
Also laufen wir drei an Heiligabend los. Die Kinderkrippe am Nachmittag eignet sich am besten, zweifellos. Wir betreten die weihnachtlich geschmückte Kirche. Im Alltag wirkt sie eher düster, aber heute strahlt sie Licht, Wärme und Geborgenheit aus. Mit leuchtenden Augen schauen sich die beiden alles an. Wir gehen nach vorne zur Krippe. Die kleine Elena greift sofort nach einem Schaf und zeigt es ihrer Mutter. Mit Händen und Füßen erkläre ich, worum es an Weihnachten geht. Aber zum Glück ist es auch zu sehen: in der Mitte ein neugeborenes Kind, Mutter und Vater schauen es liebevoll an. Menschen kommen, Hirtinnen und Hirten, um ihre Glückwünsche zu bringen. Auch Tiere bevölkern die Krippe. Engel musizieren und halten ihre schützende Hand über diese besondere Geburt.
Dann beginnt die Krippenfeier. Als ein Lied angestimmt wird und die ersten Töne durch den Raum schweben, horcht Elena auf. Sie liebt Musik. Was sie da hört, gefällt ihr ganz außerordentlich. Als sie dann noch merkt, dass sie mitsingen darf, wirft sie ihre Arme hoch und jubelt. Fantastische Wörter auf Farsi, eine ganz spezielle, nur für diesen Gesang kreierte Melodie begleitet ihr Weihnachtslied in Kindersprache.
Auch Elena wurde auf der Flucht geboren
Am Altar und in den Bänken ist alles in Bewegung. Wie gut, dass so viele Kinder hier sind. So fällt es nicht auf, dass Frau Nazari und ich uns zu verständigen suchen. Jesus wurde draußen geboren, eine Outdoor-Geburt sozusagen. Die kleine Familie muss fliehen, sofort, Hals über Kopf. Auch Elena wurde auf der Flucht geboren, vor zwei Jahren im Iran. Aber ihr Vater, der musste zurückbleiben in der Türkei. Er ist schwer krank und muss regelmäßig ans Dialyse-Gerät. Keine Aussicht, dass er bald wieder zu ihnen stößt.
Die Bedrängnis der Geburt Jesu, keine Herberge zu bekommen und fliehen zu müssen, das alles rückt existenziell nah. Mit Herodes sind Waffen im Spiel, wahrlich keine Idylle. Über ihre eigene Flucht ist Frau Nazari mit der Heiligen Familie verbunden, ganz anders als ich, das muss ich mir eingestehen. Natürlich gibt es Differenzen. Sie betet dieses Kind nicht an. Aber Gott – glauben wir nicht alle, dass es nur einen gibt?, fragt sie mich. Beim Rausgehen begegnen wir einer Nachbarin mit ihren Kindern. Händeschütteln, strahlende Gesichter, fröhliches Winken.
Zuhause bei Kaffee und Kuchen gibt es Geschenke für die beiden, Weihnachtsgeschenke für alle! Dann erzähle ich, dass in wenigen Tagen die „Drei heiligen Könige“ vor der Tür stehen werden, Kinder in fröhlichen Gewändern, die uns Lieder singen und das Haus segnen. Eine weitere biblische Weihnachtsgeschichte: Sterndeuter brechen zur Krippe auf. Und woher kommen sie? Aus dem Morgenland, aus dem Osten, ganz aus der Nähe jenes Landes, aus dem unsere junge Familie stammt.
Feier der Inkarnation öffnet einen bedeutsamen Diskursraum
Dieses Weihnachtserlebnis an Heiligabend hat mich lange bewegt. Wer kann Weihnachten feiern? Wer ist wie mit der Krippe verbunden, jenem überraschenden Ort der Gottesgeburt? Man könnte natürlich die Differenzen herausstellen und sagen: wer vor diesem Kind nicht niederkniet, braucht dieses Fest nicht zu feiern. Aber eine solch exklusive Haltung wird Weihnachten nicht gerecht. Es ist die Feier der Inkarnation: Gott wird Mensch, wird geboren als winziges, höchst verletzliches Kind. Gott geht hinein in die konkreten sozialen und kulturellen, religiösen und politischen Herausforderungen, in denen Menschen leben. Gott verbindet sich als Mensch mit allen Menschen. „Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in der Menschwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.“ (GS 22)
Weihnachten in religionsverbindender Offenheit zu feiern, erscheint mir wichtig für die Zukunft von Kirche und Gesellschaft. Denn dieses Fest führt die christlichen Werte narrativ vor Augen. Auf existentiell zugängliche Weise erzählt es davon, wofür die Kirche, wofür Christinnen und Christen stehen. Menschen anderer Religion oder Konfession lädt es ein, diese Werte kennenzulernen – und sie in Beziehung zu setzen zu den eigenen Überzeugungen. Damit eröffnet es einen Diskursraum, der für die Zukunft christlicher Werte entscheidend ist. Die Kirche kann ihre eigenen Werte ins Spiel bringen, sie in Beziehung setzen, ihre humane Bedeutung herausstellen.
Im Kontext der aktuellen Migrationsdebatten erlangt die Rede vom christlichen Abendland und von den christlichen Werten eine besondere Bedeutung in der europäischen Politik. Ende 2014 schürten Demonstrationen in Deutschland die Angst vor dem Islam und hielten es für ein probates Mittel, mit Weihnachtsliedern gegen die muslimischen Flüchtlinge anzusingen. Als führende Politiker Ungarns, Estlands und der Slowakei 2015 die Aufnahme muslimischer Migranten verweigern wollten, sekundierte der ungarische Bischof László Kiss-Rigó dieses Ansinnen, indem er die Bewahrung christlicher Werte ins Feld führte. Sie alle wollten einen religiösen Sicherungsdiskurs etablieren, der lieber die muslimischen Flüchtlinge der Lebensgefahr preisgibt, als die eigene Werteordnung einer interreligiösen Debatte auszusetzen.
Im Kind macht sich Gott selbst verwundbar
Aber mit Weihnachten, dem Fest der Inkarnation, hat dies nichts zu tun. Denn in dem Kind in der Krippe macht sich Gott selbst verwundbar, nicht Andere. Und alle, die zur Krippe kommen, tun es Gott gleich. Maria und Josef, die Sterndeuter, die Hirtinnen und Hirten – sie alle zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre eigene Verwundbarkeit aufs Spiel setzen, um das verletzliche Leben eines Neugeborenen zu schützen. Sie agieren gerade nicht wie die Herbergsleute, die allein auf den Schutz eigener Ressourcen bedacht sind und daher lieber wegschauen. Sie agieren nicht wie der König Herodes, der zur Sicherung der eigenen Macht sogar bereit ist, andere Menschen zu töten.
Das Weihnachtsfest steht für die Notwendigkeit, um der Humanität willen die eigene Verwundbarkeit zu riskieren. Nur so können Nächstenliebe und vielleicht sogar die christliche Feindesliebe praktiziert werden: dass man etwas weggibt, obwohl man es später vielleicht selbst noch brauchen wird; dass man für umstrittene Herbergen einsteht, weil sie schutzbedürftigen Menschen Lebensraum eröffnen; dass man Grenzen durchlässig hält, obwohl man letztlich nicht weiß, wer hier alles Einlass findet. Wer muslimische Flüchtlinge aus Europa ausschließen will, um christliche Werte zu schützen, verletzt diese Werte. Gebraucht wird vielmehr der beharrliche Mut zur christlich-muslimischen Auseinandersetzung um das, wofür Europa steht und was christlich ist an diesem Abendland. In einer solchen Auseinandersetzung wird das Eigene infrage und zur Debatte gestellt. Aber dies eröffnet die Chance, dieses Eigene darzustellen und im Fremden sogar neu zu entdecken. Sicherungsstrategien, die andere Religionen aus dem Land und dem Diskurs ausschließen wollen, sichern unsere Werte nicht. Wer christliche Werte bewahren will, muss den gesellschaftlichen Diskurs riskieren. Das Weihnachtsfest bietet dazu eine unvergleichliche Chance.
Prof. Dr. Hildegund Keul
Bildquelle: http://www.jmberlin.de/weihnukka/img/weihnukka.jpg