Michael Schindler berichtet von Erfahrungen mit „Straßenexerzitien“ und den Ergebnissen seiner pastoraltheologischen Forschung.
1. Überraschende Erfahrungen
„Na, die müssen doch verrückt sein, Exerzitien in der Großstadt, in Lärm und Verkehr und Tausenden von Menschen. Das ist das Letzte, was mir passieren könnte. Für meine Exerzitien brauche ich Stille, eine ruhige Kapelle und möglichst viel Natur!“ 1 So der Ausruf von Franziska Passek, als sie das erste Mal von den „Exerzitien auf der Straße“ hörte.
Wer sich darauf einlässt, wie es dann auch Franziska tat, wird entdecken, dass es sich dabei tatsächlich um eine geistliche Übung handelt, aber womöglich anders als erwartet.
…diese Begegnung, nicht gemacht und nicht so gewollt, einfach geschenkt…
So war es z.B. bei Andreas. Bei seinen ersten Straßenexerzitien hatte er die feste Absicht, Kontakt mit Armen von der Straße aufzunehmen, doch all diese Versuche scheiterten kläglich. Schließlich ging er einfach in eine Kirche und hatte dort das Gefühl, Gott sage ihm: „Du wolltest hier irgendwie dich darauf einlassen und all das, aber du hast auch Sachen, die dich gerade beschäftigen. Dafür haben wir jetzt Zeit und dafür bin ich jetzt da.“ „Und das war gut und befreiend“, so Andreas. Erstaunlicherweise lernte er gerade in dieser Kirche, die er in der Folge öfter aufsuchte, einen Obdachlosen kennen, der diese beaufsichtigte und ihn einlud, mit ihm eine Gulaschsuppe zu essen: „Und dann hatte ich sozusagen diese Begegnung, die dann nicht gemacht war und nicht so gewollt, und dann bekam man (…) einfach geschenkt, und dieses gemeinsame Essen mit Detlev, von ihm zum Essen eingeladen werden, hat auch noch mal eine besondere Bedeutung für mich.“
„Exerzitien auf der Straße“ – ganz anders als herkömmliche Exerzitien und auch ganz anders als die Vorstellungen von Exerzitien auf der Straße!
2. Geschichte der Straßenexerzitien
Der narrative Einstieg ist hier nicht nur ein Schmankerl, um die Lesefreude zu steigern, sondern gehört zum Wesenskern dieser Exerzitienform. Auch ihre Genese kann nur erzählt werden: Ausgangspunkt war im Jahr 1996 der Wunsch des jungen Jesuiten Ludger, nach seinem Theologiestudium in Exerzitien die Frage zu klären, ob er ein Jahr lang in einem Hospiz arbeiten solle. Und diese Exerzitien wollte Ludger bei seinem Mitbruder Christian Herwartz, einem Arbeiterpriester, in dessen Wohngemeinschaft in Berlin-Kreuzberg machen. Herwartz war zur Zeit der Anfrage als Staplerfahrer und Lagerist tätig. Er wehrte das Ansinnen zunächst ab, gab aber dann doch nach, wie er im Folgenden erzählt:
„Hier ist keine Ruhe, viele Menschen leben auf engem Raum zusammen, jeder Tag ist voller Überraschungen, wir haben keine Kapelle oder stillen Raum in der Wohnung, und außerdem habe ich noch nie jemanden in Exerzitien begleitet. Er ließ sich von meinen Worten nicht abschrecken und kam.“ 2
Ein privilegierter Ort für Exerzitien
Ludger wohnte in der Kommunität, war tagsüber auf den Straßen des Stadtteils unterwegs und erzählte abends seinem Mitbruder Christian, nachdem dieser aus der Fabrik heimgekehrt war, von dem, was er dort erlebt hatte. Die Erfahrungen in den täglichen Begleitgesprächen mit seinem Mitbruder ließen Herwartz entdecken „an welch privilegiertem Ort für Exerzitien“ 3 er wohnte. Daraus entwickelte sich eine weitere Einzelbegleitung, ein erster Pilotkurs mit Ordensleuten und seitdem eine gewachsene Anzahl von unterschiedlichen Kursen im Jahr, nicht mehr nur in Deutschland, sondern in anderen europäischen Ländern und vereinzelt auch in Übersee. Es lässt sich von einer regelrechten „Straßenexerzitienbewegung“ sprechen, die nach wie vor als Graswurzelbewegung ohne kirchliche Sach- oder Personalmittel auskommt. (Vgl. www.strassenexerzitien.de)
3. Praxis der Straßenexerzitien
Das grundlegende Setting ist einfach: Untergebracht sind die Übenden in einfachen Unterkünften, so dass die Schwelle zur Straße geringer ist und die Exerzitien, und das ist ein Alleinstellungsmerkmal, kostenfrei angeboten werden können. Wer mitmacht erklärt sich bereit, sich auf die Straße zu begeben. Wobei zu dieser allgemein der öffentlich zugängliche Raum, also auch Parks oder Gebetsräume hinzugehören und in einer Kleingruppe am Abend von den eigenen Erlebnissen zu erzählen und anderen aufmerksam zuzuhören. Alles andere, das gemeinsame Essen, die angebotenen Gebete und Gottesdienste, sind nicht verbindlich.
Wo begegnet ein brennender Dornbusch?
Drei Phasen prägen die Exerzitien, die jeweils durch unterschiedliche biblische Texte gekennzeichnet sind: Die erste Phase, analog zur Frage nach dem Prinzip und Fundament bei Ignatius, dient dem Erspüren der eigenen Sehnsucht und der Entdeckung eines persönlichen Gottesnamens für diese Zeit, auf den sich die Sehnsucht ausrichtet. In der Hauptphase geht es mit der Geschichte vom brennenden Dornbusch als Gebrauchsanleitung darum, Gottes Gegenwart im Alltäglichen zu entdecken: Wo begegnet ein brennender Dornbusch? Wo fühlt sich der Exerzitant oder die Exerzitantin eingeladen, im übertragenen Sinn oder tatsächlich, die Schuhe der eigenen Distanzierung abzulegen? Wo ist heiliger Boden zu entdecken? Die abschließende Phase ist mit der Brille der Erzählung von den Emmausjüngern eine Relecture der Geschehnisse auf dem Weg zurück in den Alltag.
4. Empirische Entdeckungen
Bezüglich der inneren Haltung lässt sich Erstaunliches entdecken: In einer empirischen Analyse wurde nämlich deutlich, dass die geistliche Haltung, die als fruchtbar für das Unterwegssein auf der Straße empfunden wird, als eine achtsame und kontemplative charakterisiert werden kann und damit eine überraschende Nähe zu kontemplativen Exerzitien aufweist: Dazu gehört die Konzentration auf die eigene Wahrnehmung, eine gelassene Absichtslosigkeit und die Bereitschaft, von der Wirklichkeit eine Botschaft für das eigene Leben zu hören. Begegnungen mit Menschen können dazu gehören, aber werden nur dann als fruchtbar erlebt, wenn die Übenden sie nicht zu machen versuchen, sondern gewissermaßen in gelassener Aufmerksamkeit geschehen lassen. Mit der Brille der biblischen Dornbuscherzählung können auch scheinbar banale Begegnungen mit Menschen, Orten, Dingen über sich hinaus verweisen und als Spuren Gottes verstanden werden.
5. Das Innen im Außen
In der Darstellung der Praxis klang schon durch, dass diese Straßenexerzitien nicht eine säkularisierte Form von Exerzitien darstellen, und dass es sich auch nicht einfach um eine Art urban-spätmoderner Aktualisierung einer alten Tradition handelt. Was ist dann die spezifische theologische Qualität, die diese Exerzitien als eine Heterotopie spirituellen Übens erscheinen lassen?
Straße ist kein religiöser Innenraum.
Kurz gesagt lässt sich dies am Begriff „Exerzitien auf der Straße“ verdeutlichen. „Exerzitien“ als eine spirituelle Übung, ja als ausdrückliches „Gott Suchen und Finden in allen Dingen“ (Ignatius) ist Ausdruck des Kerns christlicher Religion. Und in der Tat lässt sich zeigen, dass die Straßenexerzitien tatsächlich Exerzitien sind, was am Anfang gar nicht so klar war. Sie finden nun „auf der Straße“ statt, die Raum und Medium für Vieles ist, für Konsum, Freizeit, als Passage und Verkehrsraum, für politische Äußerungen oder als Bühne für Straßenkultur. Kennzeichnend ist, dass Straße ein unkontrollierbarer Raum ist, wo man Fremden und Fremdem begegnen kann, die gar als gefährlich gelten kann. Doch eines ist Straße nicht: ein religiöser Innenraum, wenn sich auch sakrale Gebäude dort befinden sollten.
Wenn das profane Außen plötzlich einen religiösen Gehalt erfährt…
Mit einem Satz gesagt wird bei den Exerzitien auf der Straße, das Innerste, die Suche nach Gott, ins Außen verlagert. Die Erfahrungen zeigen, dass es immer wieder frappierend ist, wenn das profane Außen dann plötzlich einen religiösen Gehalt erfährt. Die Straße, die schon soziologisch als eine „Passage der Transzendenzen“ 4 beschrieben werden kann, weil sie mehr ist als ihre jeweiligen Funktionen, zeigt nun noch eine weitere Dimension: Biblisch gesprochen kann sie als „heiliger Boden“ erfahren werden. So wird sie zur „St. Viastrata“, und zwar nicht nur wie für den Flaneur oder die Touristin im Blick auf ihre angenehmen und schönen Seiten, sondern auch mit ihren Schattenseiten, dem Lärm und Gestank, den verlorenen Menschen und verwahrlosten Orten. Die scheinbar „gottlose“ Straße ließe sich so als eine Art Sakrament verstehen, d.h. als Zeichen und Wirkung der Gnade Gottes für das Leben des Exerzitanten.
Dass dies geschehen kann, braucht es zweierlei. Einerseits das Gehen auf die Straße mit der Intention der Gottsuche und dem hermeneutischen Schlüssel biblischer Geschichten bei gleichzeitiger Wahrung der oben genannten Absichtslosigkeit. Und andererseits die abendliche Erzähl- und Hörrunde als Resonanzraum, in dem die Erlebnisse zu entsprechend deutbaren Erfahrungen werden können. Allerdings, so warnt Kathrin, braucht es nicht unbedingt eine explizit religiöse Deutung, um mit Gott in Berührung zu sein: „Kann ich die Erfahrung nicht als dieses Unbegreifliche oder Überraschende einfach stehen lassen als das, was da ist? Und diese Überraschung: Reicht das nicht eigentlich schon, dass das auch eine Facette Gottes ist?“
Neuere Literatur:
Herwartz, Christian: Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße. (Ignatianische Impulse 51), Würzburg, 2011.
Christian Herwartz/Maria Jans-Wenstrup/Katharina Prinz/Elisabeth Tollkötter/Josef Freise (Hg.), Im Alltag der Straße Gottes Spuren suchen. Persönliche Begegnungen in Straßenexerzitien, Neukirchen 2016: Eine Sammlung von Erfahrungen und theologischen Reflexionen.
Schindler, Michael Johannes, Gott auf der Straße. Studie zu theologischen Entdeckungen bei den Straßenexerzitien, Münster 2016.
Bild: Andrea Stölzl
- Passek (2004): Exerzitien – einmal anders. In: Christian Herwartz (Hg.): Gastfreundschaft. 25 Jahre Wohngemeinschaft Naunynstraße. Berlin: Eigenverlag, S. 306–308, online verfügbar unter https://nacktesohlen.wordpress.com. ↩
- Christian Herwartz: Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße. Würzburg, 2006, S. 37. ↩
- Herwartz 2006, S. 37. ↩
- Diesen Ausdruck gebraucht Michael Ebertz (In: Hans-Jürgen Hohm (Hg.): Straße und Straßenkultur. Interdisziplinäre Beobachtungen eines öffentlichen Sozialraumes in der fortgeschrittenen Moderne. Konstanz: UVK, Univ.-Verl. Konstanz, 1997, S. 7). Er sieht die Quintessenz der in diesem Band gesammelten soziologischen Aufsätze zur Straße, dass diese auch in einer hoch differenzierten und funktionalisierten Gesellschaft als Sozialraum den Systemraum transzendiert. ↩