Christian Bauer (Innsbruck) kommentiert tagesaktuell die US-Präsidentschaftswahlen: Woher weht heute der Wind?
„We are all in shock here! Thanks for the invitation to offer a commentary on these events. But I will have to take a pass. There is much to say, of course. But there is also plenty to reflect upon and not to rush to judgment and to speak.” Diese Worte schrieb ein befreundeter US-Theologe gestern auf meine Bitte, für Feinschwarz einen aktuellen Kurzkommentar zur dortigen Präsidentschaftswahl zu verfassen. Seine Antwort ist zu wichtig, um sie nicht mit anderen zu teilen. Die kosmopolitisch gebildeten, habituell weltoffenen Eliten der westlich geprägten Gesellschaften sollten dieses überraschende Wahlergebnis erst einmal in aller Ruhe analysieren. Es an sich heranlassen, politische Erstreflexe aussetzen, tief durchatmen und – sich zunächst einmal selbst hinterfragen.
Es wird schon nicht passieren.
Eine Denkpause also, nicht nur für die transatlantische Linke. Denn es gibt ja einige überraschende Gemeinsamkeiten der beiden wohl wichtigsten politischen Ereignisse dieses Jahres, von BREXIT und TRUMP. Eine erschreckende ist der fehlende Einsatz vieler politischer Gegnerinnen und Gegner von beiden, die vermeintliche Sicherheit vieler kritischer Geister: Soweit kann es hier bei uns doch gar nicht kommen. Es wird schon nicht passieren. Und dann, am Ende des Tages, das böse Erwachen: Es ist eben doch geschehen – und wir befinden uns unversehens in einer anderen Welt: This is not my country anymore.
Denkpause und Mitgefühl
Die erforderliche Denkpause könnte sich zwei berühmte Wahlkampfsaussagen des ansonsten sicherlich nicht fehlerlosen Bill Clinton zu Herzen nehmen. Die eine („It’s the economy, stupid!“, gegen die politische Prioritäten von George Bush senior gerichtet), ist dabei gegenwartsbezogen zu transformieren: It’s the culture, stupid! Es geht um Kultur, um die Art und Weise unseres alltäglichen Zusammenlebens. Und um ein Gefühl der Entwurzelung im eigenen Land, das viele Menschen gegenwärtig haben, die der kulturelle, soziale und ökonomische Transformationsdruck einer weltweiten Globalisierung überfordert.
Der Titel einer lokalgeschichtlichen Ausstellung in Salzburg hat das Problem vor kurzem auf den Punkt gebracht: „Dahoam im Wandel“. Im permanenten Wandel daheim zu sein, oder heideggerisierend ausgedrückt: eine Existenz im Offenen zu führen – das ist für viele Menschen von heute eine gewaltige Herausforderung. Und zwar nicht nur im Rust Belt der USA. Und auch nicht nur bei den wenig Gebildeten und Benachteiligten, sondern auch unter den Gebildeten und Bessergestellten.
Misericordia
Insbesondere eine Linke, die sich seit jeher der Arbeiterklasse verbunden weiß, sollte darauf mit einem genauen Hinhören reagieren. Es kann ja nicht sein, dass sich demagogische Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten wie die österreichische FPÖ als „die neue Arbeiterpartei“ (H. C. Strache) gerieren. Hier wird ein zweiter Slogan des ebenfalls begabten Populisten Bill Clinton wieder neu aktuell: „I can feel your pain“. Papst Franziskus würde vermutlich Barmherzigkeit („misericordia“) dazu sagen. Es geht darum, ein Herz („cor“) für alle jene zu haben, die in der Misere („miseria“) sitzen – und zwar für die „Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et spes 1).
Diskurshoheit und Gegenmacht
Jeden Morgen, wenn ich mein Fahrrad aufschließe, sehe ich es. Ungebeten dringt es in meine persönliche Lebenswelt ein – das Zeichen der Identitären. Gelb-schwarz klebt es da am Verkehrsschild vor unserem Haus. Signale der großen Politik, mitten in den kleinen Ritualen meines Alltags. Und jeden Morgen die gleiche Erinnerung: Wir leben in einer gefährdeten Welt. Unsere offene Gesellschaft ist bedroht – ein markantes „Zeichen der Zeit“ (GS 4), das es im „Licht des Evangeliums“ (GS 4) zu deuten gilt.
Intellektuelle der Neuen Rechten wie die genannten Identitären, die eine mit Carl Schmitt, Antonio Gramsci und anderen aufgemotzten Rassismus der Rettung eines vermeintlich homogen christlichen Abendlandes vertreten, sind die geheimen Ideengeberinnen und Ideengeber des parlamentarischen Rechtspopulismus. Sie verstehen sich als die ‚1968er’ des 21. Jahrhunderts, rufen eine neue ‚außerparlamentarische Opposition’ ins Leben und möchten die gesellschaftliche Diskurshoheit übernehmen. Sie könnten auch jene Worte für sich reklamieren, mit denen Hillary Clinton 1969 als junge, hoffnungsfrohe Absolventin des Wellesley College die nationale Bühne der USA betrat: „We feel that for too long our leaders have viewed politics as the art of the possible. And the challenge now is to practice politics as the art of making what appears to be impossible possible.”
Das Undenkbare wird möglich.
Es scheint sich etwas zu drehen in der Welt, scheinbar Undenkbares wie BREXIT und TRUMP wird möglich – und ein wind of change weht, der allen Freundinnen und Freunden einer offenen Gesellschaft eisig ins Gesicht bläst. Damit daraus kein apokalyptischer Feuersturm wird, braucht es die mikropolitische Gegenmacht aller „Menschen guten Willens“ (GS 22). Hillary Clinton hatte 1969 ja so recht: „Fear is always with us, but we just don’t have time for it. Not now.”