Im Anschluss an die Tagung des „Nachwuchsnetzwerks Dogmatik und Fundamentaltheologie“ skizziert Christian Kern eine topologische Theologie der Nacht.
Im Raum der Nacht
Die Nacht kann bisweilen stockfinster sein. Es gibt Nächte, die von einem nahezu undurchdringlichen Dunkel erfüllt sind. Nachts auf einem Waldweg beispielsweise, wenn die Sterne hinter einer Wolkendecke verborgen sind und der Mond noch nicht aufgegangen ist; oder nachts in einem Kellerraum, wenn die Eisentür zufällt und das elektrische Licht noch nicht angeschaltet ist. Man sieht dann die Hand vor Augen nicht mehr. Die Sicht wird schwarz.
Die Erfahrung einer solchen dunklen Nacht ist allerdings nur auf den ersten Blick eine sinnenreduzierte Erfahrung. Das Sehen wird zwar ausgeschaltet, aber die anderen Sinne werden um so mehr aktiviert. Man beginnt, in die Dunkelheit hinein zu lauschen. Der eigene Atem wird hörbar; vielleicht sogar das Herz, dessen Frequenz sich erhöht hat und dessen Schlag kräftiger geworden ist. Füße und Hände tasten sich vorsichtig voran. Der Geruchsinn intensiviert sich. Die Erfahrung der Nacht bewirkt eine Art „sensual turn“. Sie lenkt die Aufmerksamkeit vom Sehen weg auf die anderen Sinne. Sie steigert die Eigenwahrnehmung – die Wahrnehmung des Körpers und der Emotionen –, sie steigert die Außenwahrnehmung – die Wahrnehmung der Umwelt und dessen, was sich dort gerade nicht zeigt und nicht sichtbar wird.
Erfahrung des Raumes
Die Erfahrung der dunklen Nacht ist deshalb eine Erfahrung des Raumes. Sie lenkt die Aufmerksamkeit einerseits in den eigenen emotionalen Innenraum, andererseits in den Außenraum, auf das hin, was sich gerade nicht zeigt. Die Nacht intensiviert und extensiviert in diesem Sinn die Selbst- und Fremdwahrnehmung. Menschen in der Nacht oszillieren zwischen Innen und Außen.
Daher rührt wohl auch das Unbehagen an der dunklen Nacht. Die Nacht schärft die Sinne und weckt zugleich das Gefühl der Unsicherheit. Die Dinge sind nicht mehr so einfach verfügbar und greifbar wie am Tage. Im Oszillieren der Nacht wird man sich seiner eigenen Ausgesetztheit und Verletzbarkeit gewahrer, die auf die Grenzen des Handhabbaren im Dunklen verweisen. In der Nacht entsteht ein Problem mit der Macht. In ihrer Mitte lauert die Ohnmacht. Meist bleibt sie leise und unscheinbar. Sie kauert ruhig in der Ecke des Kellerraumes. Aber wenn der Schalter auch nach längerem Suchen nicht gefunden wird, erhebt sie sich. Sie tritt heran. Sie greift nach dem Rücken. Und erst beim Drücken des Schalters lässt sie sich abschütteln und löst sich in Licht auf.
Licht ins Dunkel
Dieses Unbehagen führt Menschen dazu, die Nacht auszuleuchten. Die Nacht wird mancherorts hell wie der Tag. Gerade die Kulturen der Moderne haben in diesem Sinne viel Licht ins Dunkel gebracht. Nicht nur im physikalischen Sinn. Die Moderne hat die Körper ausgeleuchtet, in der Anatomie und Medizin (Bichat) sowie in der Radiologie (Röntgen). Sie hat das Denken kritisch erhellt und seine Möglichkeitsbedingungen beleuchtet, in der Klarheit distinkter Erkenntnis (Descartes) und der Aufklärung (Kant, siècle des lumières). Sie hat die Seelen ausgeleuchtet und ihre Triebkräfte gefasst, in der Psychologie (Freud). Sie hat die Welt als ganze sichtbar gemacht, in der Kartographie (Behaim). Sie hat die Städte ausgeleuchtet, in der Photologie (Swan/Edison). Den dunklen Weltraum hat sie ausgespäht und Licht aus fernen Welten eingefangen (Hubble). Und neuerdings durchleuchtet sie sogar die globale Kommunikation in einer Art submedialem Panoptikum (NSA). Auch die Kirche setzt mit Beginn der Moderne auf Erhellung und Sichtbarkeit (Bellarmins societas perfecta) und erstrahlt in goldüberzogenem, barockem Glanz. „Licht“ wird darin positiv konnotiert; auch in der Theologie. Licht gilt als sinnliche Erfahrungskategorie des Göttlichen (Lichtmystik). Es spielt eine immense Rolle in zentralen christlichen Riten (Osterkerze, Zuwendung zur aufgehenden Sonne am Ostermorgen). Es gilt auch als Offenbarungskategorie, in der sich Erkenntnis und Erfahrung Gottes verbinden (Psalm 139,12).
Im Schatten eines solchen Lichts hat es die Nacht schwer, gesehen zu werden. Sie wird ausgeleuchtet. Sie gilt mancherorts als gefährlich, und wer sich ihr verschreibt, gerät ins Zwielicht und Halbdunkel. „Nacht“ wird als Gegenstück des „Tags“ negativ konnotiert. Zwar gibt es Gegenbewegungen, gerade auch in der Theologie, die sich einer Lichtdominanz entgegenstellen und eine Art contre-conduite und contre-sensibilité entfalten. Die frühneuzeitliche Mystik gehört dazu (Johannes vom Kreuz); aber auch das Zweite Vatikanische Konzil, wenn es Christus als die eigentliche Quelle des Lichts (lumen gentium), die Kirche lediglich als Spiegel oder Mond erfasst, in dem das lumen Christi reflektiert und diffundiert. Dennoch bleibt Nacht kulturell und theologisch „obskur“.
In die Nacht hinaus
Es lohnt sich demgegenüber, sich theologisch in die Nacht hineinzubegeben. Nacht ist nicht nur eine tägliche Erfahrung aller Menschen, „Nacht“ taucht als sujet immer wieder heimlich, an zentralen Stellen in Spiritualität und Liturgie auf. Die Nacht ist vor allem ein Raum, in dem sich elementare Formen individuellen und sozialen Lebens von Menschen abspielen. Sie gibt Raum für die Liebe und die Lust, sie konfrontiert mit Angst und Einsamkeit, sie wird kreativ, weil sei Praktiken möglich macht, die am Tag keinen Ort finden. Wer in die Nacht hinausgeht, nähert sich dem Leben von einer sehr verborgenen, aber elementaren Seite her an. Menschen sind nicht nur Tagelöhner, sondern auch Nachtgestalten. Und Gott ist auch ein Nachtbewohner.
Vom 9. bis 11. März 2016 fand in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in Hohenheim die jährliche Tagung des „Nachwuchsnetzwerks für Dogmatik und Fundamentaltheologie“ statt. Die acht Vorträge der Tagung schlugen Zugänge zur Nachtthematik, die sich grob in drei Perspektiven ordnen lassen: Reflexionen zur „Dunkelheit des Selbst“, zur „Dunkelheit der Sprache“, zu „dunklen Figuren“ der neuzeitlichen Kultur. Ein vierter Zugang zeigte sich in den Diskussionen, die sich jeweils an die Vorträge anschlossen, sowie in den Präsentationen von Forschungsprojekten während der Tagung: ein Zugang zu den Nachtseiten Gottes über „dunkle Orte“ menschlichen Lebens.
Topologie der Nacht
Es gibt Orte, für die Nacht konstitutiv ist. An ihnen spielt sich ein Leben ab, das die Nacht braucht, um sein zu können. Sie sind nicht nur individuelle Erfahrungen, sondern Orte, an denen sich soziales Leben in ganz unterschiedlichen Formen verdichtet. Zu ihnen gehören beispielsweise die Nachtclubs auf dem Hamburger Kiez; die Landestellen der Flüchtlinge an den Küsten Europas; die Straßen von Paris in der Terrornacht des November 2015; die Nachtwanderungen von Jugendgruppen auf Zeltlagern der Jugendverbände; die Diskotheken und Clubs in den Industrievierteln größerer Städte. Und viele mehr. An solchen „Orten der Nacht“ kann eine Topologie der Nacht ansetzen. Die Nacht ist für sie jeweils deshalb konstitutiv, weil sie mit der Spannung von Präsenz/Sichtbarkeit und Absenz/Verborgenheit arbeiten. Die Nacht verbirgt einerseits, aber sie hilft auch, zu fokussieren. Sie ermöglicht Hinterhalte, sie ermöglicht Aufenthalte, sie ermöglicht Transformationen.
Die Attentäter der Terrornacht von Paris beispielsweise benutzen die Dunkelheit der Nacht, um sich den Menschen zu nähern. Sie war ihr Hinterhalt, der es ihnen ermöglichte, unvorbereitete Menschen nieder zu schießen. Oder umgekehrt, positiv: Die Nachtwanderungen von Jugendgruppen benutzen die Nacht, um sich mit der Dunkelheit zu konfrontieren. Gemeinsam hält man das Unbehagen aus und rückt beim Gehen näher zusammen. Die Nacht wird darin zum Zusammenhalt, der es ermöglicht, individuell und sozial stärker zu werden. Die Nacht wird zum Ort für oder gegen das Leben.
Grundproblem der Nacht: Macht
An diesen Orten stößt man auf ein Grundproblem der Nacht: Macht. Die Erfahrung der dunklen Nacht, in der man nichts mehr sieht, konfrontiert mit der eigenen Ohnmacht. Zugleich zeigt sich dort, dass die Nacht so benutzt werden kann, dass die einen Macht über die andere gewinnen. Sie ermöglicht Strategien und Zugriffe. Die Nacht oszilliert zwischen Macht und Ohnmacht.
Für die Rede von Gott sind diese Orte interessant, weil es in ihnen jeweils um‘s Leben geht. Menschen entfalten ihr Leben oder ringen darum in Todesangst. Diese Orte sind von Gewicht, und man kann ihnen nicht wirklich ausweichen, wenn man nicht in einem „kulturellen Schlaf“ dahinschlummert. In ihnen stellt sich das Macht/Ohnmacht-Problem. Auch eine Rede von Gott, die sich mit den Nachtseiten des Lebens befasst, wird neu mit diesem Problem konfrontiert. Wie wird Gott von dorther besprochen? Wird er zur Größe, die den Zugriff auf die Nacht und damit auf Menschen legitimiert und trägt? Oder wird er zur Größe, die in der Ohnmacht der Menschen entgegenkommt, als tragender Grund für Schritte ins Unbekannte? Eine „Theologie der Nacht“ kann hier sprachfähig werden im Ringen um das Leben von Menschen in nächtlichen Situationen. Sie stellt sich deshalb kritisch allen Maßnahmen und Praktiken entgegen, welche die Nacht erhellen und durchsichtig machen wollen. Sie klärt ebenso darüber auf, wo Leben verdunkelt oder vertuscht wird. Sie hat Kritikpotential gegenüber Kulturen, Institutionen und Religionen, die sich zu „Wächtern über die Nacht der Menschen“ erheben (Foucault). Sie leistet vielmehr einem Glauben Vorschub, der mit der Nacht vertraut macht. Sie wird nicht zum Ort der Überwachung, sondern zum Raum, in den hinein man aufbricht, in einem Wagnis und mit einer Ahnung, dass dort eine Begegnung wartet, die Leben weckt. Keine Terrornacht, sondern eine Osternacht. Dort leuchtet die Nacht ein.
Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Schwarze_Quadrat