Seit zehn Jahren ist unwiderruflich klar: Sexueller Missbrauch im Raum der Kirchen gehört zum Alltag. Barbara Haslbeck reflektiert über Schwieriges und Gelingendes in der zehnjährigen Arbeit von und mit Betroffenen.
Seit zehn Jahren ist unwiderruflich klar: Sexueller Missbrauch im Raum der Kirchen gehört zum Alltag. Entschädigungszahlungen, Aufdeckung derjenigen, die vertuscht haben, die Diskussionen um Macht in der Kirche, Pflichtzölibat und Homosexualität, die Rolle der Frauen – große Themen stehen heute, zehn Jahre später, hoch oben im kirchlichen und gesellschaftlichen Diskurs und das ist gut so. Was beschäftigt Betroffene, die sich über die Initiative Gottessuche vernetzen? Gottessuche ist eine ökumenische Initiative, die Betroffene vernetzt und begleitet, zum allergrößten Teil Frauen. Einiges ist schwierig geblieben und manches hat sich in den zehn Jahren zum Positiven entwickelt.
Nach wie vor: Opferklischees
Der Großteil der Frauen, die sich bei Gottessuche vernetzen, spricht im Alltag nicht über den erlebten Missbrauch. Dahinter steht der Wunsch, dass sie nicht in eine Schublade einsortiert werden wollen. Nach wie vor existieren in den Köpfen vieler Menschen Opferklischees. Inzwischen ist zwar klar, dass mit und nicht überOpfer gesprochen werden soll. Die Rede vom „Opfer“ wurde abgelöst von der Rede von den „Betroffenen“. Das ist gut, weil niemand nur und schon gar nicht für immer Opfer ist. Dennoch: Betroffene erleben in vielen Variationen, wie sie als gebrochen, nicht belastbar, hysterisch, unberechenbar und hasserfüllt angenommen werden. Etwa zitiert Erzbischof Dr. Nikola Eterović, Apostolischer Nuntius in Deutschland, in einer Ansprache vor den Bischöfen in Lingen im März 2019 den Papst: „Das Übel, das ihnen [den Opfern] widerfahren ist, lässt in ihnen unheilbare Wunden zurück, die sich auch in Form von Hass und selbstzerstörerischen Tendenzen zeigen.“[1] Dieses Bild bestimmt über weite Strecken die Wahrnehmung von Betroffenen bei Kirchenverantwortlichen und Kirchenvolk: Sie seien unheilbar verletzt, empfänden Hass auf die Kirche und wirken selbstzerstörerisch.
Nach wie vor: Vertrauen ist gebrochen
Mein „täglich Brot“ bei Gottessuche ist es, in Kontakt mit Menschen zu sein, die mutig, beharrlich und im Geist Jesu ihr Leben trotz Missbrauchserfahrungen meistern wollen. Diejenigen, die Missbrauch im Raum der Kirche erlitten haben, stehen seit 2010 besonders vor der Herausforderung, nicht nur individuell damit umzugehen, sondern sich auch mit der Institution auseinander zu setzen, in der der Missbrauch möglich war. Leider kenne ich diesbezüglich wenige „Erfolgsgeschichten“. Das Vertrauen ist so tief gebrochen. Betroffene treffen erfreulicherweise immer wieder auf traumasensible Kirchenleute, die sie stärken und ernst nehmen. Gleichzeitig kommen beständig Nachrichten von Kirchenvertretern, die die vorsichtige Annäherung und das sich anbahnende Vertrauen schädigen. So etwa schrieb eine Betroffene:
„Ich habe von den Aussagen des Bischofs gelesen, dass der Zölibat nicht den Ausschlag gibt für den sexuellen Missbrauch, den nur die Medien und der mainstream aufschaukeln. Ich ärgerte mich und überlegte, ihm meine Geschichte zu schicken, damit er versteht, was unreife Männer hinter dem Schutzschild Zölibat anrichten können.“
Für Betroffene sind die allgegenwärtigen Grabenkämpfe um die Ursachenanalyse von Missbrauch in der Kirche verwirrend, ärgerlich und sie triggern immer neu. Um neues Vertrauen in eine Kirche wachsen zu lassen, in der das Wohl von Schutzbefohlenen an erster Stelle steht, sind diese Diskussionen völlig ungeeignet. Übrigens: Die Erfahrung, dass der Schutz der Institution vor die Parteilichkeit mit den Opfern gestellt wird, ist konfessionsübergreifend – das legen die Erfahrungen bei Gottessuche nahe.
Nach wie vor: Der tiefe Graben
Der tiefe Graben zwischen Betroffenen und der Institution wird derzeit auch deutlich an der Diskussion um die Einrichtung eines Betroffenenrates bei der Deutschen Bischofskonferenz. Viele Betroffene erwarten davon eine Feigenblattfunktion und nehmen deshalb Abstand von einer Interessensbekundung. Es wird sich zeigen müssen, ob der Beirat als Expertengremium konstituiert wird, wie es in eindrucksvoller Weise beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen sexuellen Kindesmissbrauchs umgesetzt wurde.
Neu: Betroffene wagen sich aus der Deckung
In den letzten zwei Jahren melden sich immer öfter Frauen, die ehren- oder hauptamtlich in einer Großkirche arbeiten und sich als Betroffene zu erkennen geben. Vielfach mit dem Nachsatz: „Das darf bei mir in der Arbeit keiner wissen, aber ich will mich vernetzen.“ Hier ist ein Damm gebrochen. Betroffene sind nicht „die Anderen“ weit draußen in den Gossen der Welt, sondern mitten unter uns. Bei Gottessuche planen wir Treffen von Frauen, die sich nicht nur im virtuellen Raum per Email verbinden, sondern mit anderen in realem Austausch sein wollen. Da bündelt sich Kraft. Einen Vorgeschmack davon gab es Ende September 2019 bei einer Tagung in Siegburg, bei der über 120 Frauen, davon viele Betroffene, über Gewalt in Kirche und Orden ins Gespräch kamen.
Nachdem in den ersten Jahren der Aufdeckung von Missbrauch in Kirchen medial vor allem Männer als Betroffene präsent waren, sind nun auch die Stimmen der Frauen zu hören. Für Personen, die Missbrauch in Pfarrgemeinden und anderen kleinen kirchlichen Einheiten erlebten, ist die Vernetzung mit anderen Betroffenen eine wichtige Unterstützung.
Neu: Betroffene erleben beherzte Solidarität
Gottesdienstbesucher*innen verlassen unter lautstarkem Protest eine Kirche, in der der Prediger die Vergebung gegenüber kirchlichen Missbrauchstätern einforderte – so geschah es im Sommer 2019 im Bistum Münster. Die Nachricht zu diesem Vorgang elektrisierte viele Betroffene. Das Thema Vergebung gehört zu den Dauerbrennern in der Begleitung von Betroffenen. Kaum eine/r, die nicht damit konfrontiert wird, ihrer vermeintlichen Christenpflicht zur Vergebung gegenüber dem Täter nachkommen zu müssen. Dass hier Menschen offen Widerstand leisteten und sich solidarisch an die Seite Betroffener stellten, ermutigte viele.
Neu: Die Qualität in der Seelsorge steigt
Während jahrelang alle Fortbildungsangebote für Seelsorger*innen zum Thema Missbrauch mangels Interesse abgesagt werden mussten, steigt seit etwa fünf Jahren die Nachfrage nach Veranstaltungen. Das Thema ist im Bereich der Hochschulen, in der Ausbildungsphase, in Präventionsschulungen angekommen. Selbst in Gemeinschaften, in denen ich gar nicht damit gerechnet hätte, gibt es immer wieder seelsorgliche Naturtalente, die für Betroffene eine traumasensible Begleitung ermöglichen. Manche Bistümer sind klug genug, die Namen dieser fähigen Personen auch öffentlich bekannt zu machen.
Neu: Betroffene ausdrücklich erwünscht
Vor vier Jahren wandte sich eine Ordensfrau, die in ihrer Gemeinschaft die Formationsphase verantwortet, an Gottessuche und wollte sich vernetzen. Am Schluss eines intensiven Austausches stand der Satz: „Wenn die Gruppe einen Ort sucht, sind Sie in unserem Gästehaus herzlich willkommen.“ Daraus entstand ein wertvoller Ort für Gruppentreffen und auch für Einzelpersonen, die sich Begleitung wünschen. Was für eine Verheißung: Dazugehören dürfen, erwünscht sein und ernst genommen werden. Das sind Orte, die Betroffene brauchen.
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Dr. Barbara Haslbeck arbeitet als katholische Theologin im Bereich der Fort- und Weiterbildung von pastoralem Personal und engagiert sich bei GottesSuche.
Bild: Pixabay
[1] https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/grusswort-von-erzbischof-dr-nikola-eterovic-apostolischer-nuntius-in-deutschland-zur-fruehjahrs-vol/detail/