Juliane Link versetzt sich unter den Eindrücken der Coronapandemie in die Perspektive von Maria Magdalena und erzählt die Geschichte vom Tod Jesu und von seiner Auferstehung neu. Der Abstand von 1,5 Metern wird zum Sinnbild für die Gleichzeitigkeit von emotionaler Nähe und dem Wissen um eine unüberwindbare Distanz.
Ich war so verwirrt. So traurig und übermüdet. Und doch war es unmöglich zu schlafen, ich weiß nicht, wieviele Stunden ich wach lag und dachte, dass kein Mensch auf Dauer ohne Schlaf sein kann. Du wirst den Verstand verlieren, wenn du nicht bald zur Ruhe kommst. Aber wenn ich mich hinlegte, wurde der Schmerz so groß, dass ich nicht einschlafen konnte. Ich sagte mir: Es wird besser werden mit der Zeit, ich habe schon viele Schmerzen gehabt. Ich kenne das. Vielleicht nicht in diesem Ausmaß, aber den Schmerz an sich kenne ich. Ich weiß, dass es mir hilft etwas zu tun. Der Schmerz lässt nach, wenn ich etwas tue mit meinen Händen oder wenn ich gehe, ich muss mich bewegen. Ich muss gehen, ich muss dorthin gehen, wo sein Körper liegt. Ich muss den Bildern etwas entgegen setzten.
Den grausamen Bildern von demselben Körper am Kreuz, von seinem Blut, den offenen Wunden, dem Schweiß, seiner Nacktheit, dem Gequälten in seinem Gesicht. Man kann nicht Abschied nehmen an einem solchen Ort, nicht während jemand hingerichtet wird. Ein Abschied braucht Würde und Intimität. Ich kann nicht ertragen, dass Menschen Menschen töten, ich konnte es nie. Aber dass sie ihn töten, dass ich es mit ansehen muss, dass ich keine Wahl habe, das übersteigt alles.
Weggehen wäre schon zuviel gewesen.
Ich konnte damals bei der Hinrichtung auch nicht weggehen. Andere konnten gehen, sich abwenden, aber ich war unfähig irgendetwas zu tun, Weggehen wäre schon zuviel gewesen. Mein Körper war so schwer, jeder Schritt kam mir vor wie eine unendliche Anstrengung. Ich bin bis zum Ende geblieben. Am frühen Nachmittag – ich glaube er hat immer noch geatmet – geschah es mir einfach, ich wollte nicht näher kommen, mein Körper war unbeweglich, aber etwas hat ihn versetzt und plötzlich stand ich dort unter dem Pfosten, an den sie den Balken genagelt hatten. Es war der Balken, an dem er starb, mühsam starb, einen zähen Tod.
Wenn ich die Augen schließe, bin ich wieder dort, unter dem Kreuz. Der Pfosten ist hoch. Seine Füße, weit über meinem Kopf. Ich bin klein. Wie weit war der Abstand zwischen mir und ihm? Ich schätze: 1,5 Meter.
Was heißt der Tod eines Menschen für all die anderen, die es auch hätte treffen können?
An diesem Morgen, als ich wieder nicht schlafen konnte, bin zum Grab gelaufen. Es war noch dunkel. Ich konnte nicht länger im Haus sein, die anderen haben sich in ihre Häusern zurückgezogen, wir hatten alle Angst, wir wussten nicht genau, was mit uns passieren würde, die Ereignisse hatten sich überschlagen und mehrere von uns waren tot. Wir sind im Haus geblieben, um uns zu schützen. Was heißt der Tod eines Menschen für all die anderen, die es auch hätte treffen können? Wieviele von uns werden sterben? Jeder hat sich im Stillen diese Frage gestellt.
Auch ich habe diese große Unsicherheit gespürt, diese anhaltende Anspannung, diese Ungewissheit. Aber an diesem Morgen habe ich es nicht mehr ausgehalten. Ich habe es nicht mehr ausgehalten in einem geschlossenen Raum. Ich musste handeln. Es ging nicht anders. Es ist gefährlich für eine Frau um diese Uhrzeit das Haus zu verlassen. Du lieferst dich der Dunkelheit aus. Überall können Hände sein, die es nicht gut meinen, Hände von Männern, die an nichts glauben, außer an Gewalt.
Nichts Zärtliches, keine Geste der Zuneigung war möglich.
Aber stärker als die Angst war der Wunsch etwas nachzuholen, das ausgelassen worden war. Ich wollte zu ihm, ich wollte seinem Köper all das zukommen lassen, was ich ihm nicht hatte geben dürfen, während er starb. Er ist keinen Tod gestorben, bei dem man ihm die Hand halten durfte. Ich durfte ihm keinen Schweiß von der Stirn tupfen. Ich durfte ihm nicht die Zunge benetzen, ihn nicht sanft am Arm berühren. Nichts Zärtliches, keine Geste der Zuneigung war möglich. Ich wollte seinen toten Körper salben und seine Wunden verbinden, bis mein Ekel verschwindet. Bis er nach Kräutern riecht und würdevoll da liegt und ich mich verabschieden kann. Meine Liebe braucht einen Ort, dachte ich, sein Körper wird stumm sein, aber vielleicht werde ich Frieden schließen, wenn ich seine Wunden versorge.
Berührung ist ein reziproker Prozess. Du kannst nicht berühren, ohne auch selbst berührt zu werden. Du kannst nicht berührt werden, ohne auch selbst zu berühren.
Als ich ans Grab kam, war der Stein zur Seite gerollt. Erst war ich erleichtert. Ich hätte den Stein alleine ja gar nicht bewegen können. Vielleicht gibt es jemanden, der mir heimlich hilft, dachte ich. Vielleicht gibt es doch so etwas wie Solidarität.
Wie kann das sein?
Aber das Grab war leer. Es war etwas seltsam hell – am Kopfende des Steins, auf dem sein Leichnam gelegen haben muss und noch etwas heller war es an der Stelle am Fußende. Der Abstand zwischen den beiden Helligkeiten betrug vielleicht 1,5 Meter. Ich sah Engel, aber ich dachte: ich habe nicht geschlafen seit vielleicht 60 Stunden und ich weiß nicht, wann ich etwas gegessen habe, ob überhaupt und auch andere haben Engel gesehen, als sie hungern mussten, es ist der Hunger, du wirst verrückt. Dann dachte ich, ich hätte mich im Grab getäuscht, es war noch so dunkel unter den Bäumen und ich erinnerte mich nur ungefähr an die Grabstätte. Bin ich hier falsch? Hat ihn jemand gestohlen? Wird mir das jetzt auch noch genommen? Dann wieder diese Engel: Er ist nicht hier. Wie kann das sein? Er ist nicht hier. Schlafe ich doch? Träume ich das alles nur? Ich weinte aus Verzweiflung und Verwirrung.
Ich lief ins Freie, ich wollte nach Spuren suchen, nach etwas, das Sinn macht.
Er kam mir seltsam bekannt vor…
Im Halbdunkeln sah ich zwischen den Bäumen von weitem einen Mann. Um diese Zeit, dachte ich, sind in einem Garten wie diesem nur Verbrecher und Gärtner. Ich vertraue in solchen Momenten immer auf mein Bauchgefühl: wenn du jetzt Angst kriegst, dann hau ab. Wenn du keine Angst kriegst, dann verlass dich darauf, dass du keine haben brauchst. Ich bekam keine Angst, aber ich konnte nicht aufhören zu weinen. Er sprach mich an. Ich versuchte ihm alles zu erklären. Ich dachte, vielleicht weiß er irgendwas. Er kam mir seltsam bekannt vor, aber mir fiel nicht ein, wo ich ihn schonmal… Es war auch zu dunkel und er war kaum näher gekommen.
Und dann hörte ich ihn plötzlich sagen: Maria. In dem Moment, in dem er meinem Namen sagte, verlor mein Körper einen Zentner Gewicht. Er hat meinen Namen gesagt wie früher. Früher ist nicht lange her, aber es war ein anderes Leben, in das ich nicht mehr zurückkann. Mein Leben ist gespalten in ein vor und nach der Kreuzigung. Es gibt diese Ereignisse im Leben, die dich in ein neues Zeitalter katapultieren und sobald du es begreifst, hat sich schon etwas unwiderruflich verändert. Ich erkannte seine Stimme erst, als er meinen Namen sagte. Und dann war ich schon losgelaufen auf ihn zu. Aber einen Augenblick später spürte ich einen erhöhten Luftwiderstand und hörte ihn sagen: Noli me tangere. Ich hielt an, noch in einiger Entfernung. Zwischen uns lagen in etwa 1,5 Meter. Halte mich nicht fest, sagte er, dabei hatte ich noch nicht einmal die Gelegenheit gehabt, ihn zu berühren. Aber ich verstand, was er meinte. Ich verstand, dass es ihm darum ging, dass ich loslasse. Dass ich meine Vorstellungen davon loslasse, wie es sein soll.
Er sagte: Halte mich nicht fest. Er wollte, dass ich mich frei dafür entscheide, es nicht zu tun. Ich weiß heute, dass ich es auch nicht gekonnt hätte, hätte ich es versucht. Er wollte mich nicht abweisen, er wollte mir nur die Erfahrung ersparen, dass ich ihn nicht erreichen kann. In diesem Moment realisierte ich, dass alles, worauf es im Leben wirklich ankommt, unverfügbar ist. Er wollte, dass ich den Abstand einhalte, damit ich nicht scheitere an meinen unerfüllten Wünschen. Er wollte, dass ich einen Abschied habe, einen echten Abschied, aus dem ich etwas mitnehmen kann, etwas das mehr ist, als die Erfahrung von Verlust.
Für den Sprung muss es eine Distanz geben.
Und ich? Ich wollte ihn umarmen. Und zugleich wusste ich, dass es nicht mehr um mich ging, sondern um uns alle. Was mir jetzt geschieht, erlebe ich stellvertretend. Etwas will überspringen. Für den Sprung muss es eine Distanz geben. Ich bin genau am richtigen Punkt, nicht zu weit weg, nicht zu nah. Auch von Mose am Dornbusch forderte Gott nicht näher heran zu kommen. Ich muss aufhören mich irgendwo hinzubewegen, aufhören einzugreifen, ich muss stillhalten. Das alles blitzte auf, innerhalb von Sekunden.
Und ich spürte, während er noch mit mir redete, in meinem Körper eine nie gekannte Kraft. Etwas weitete sich. Ich weitete mich. Seine Gestalt begann sich aufzulösen, während in mir etwas Gestalt annahm. Da wusste ich, wer ich bin und was ich zu tun hatte.
Als er verschwunden war, hatte die Stille im Garten eine andere Qualität.
Als er verschwunden war, hatte die Stille im Garten eine andere Qualität. Die Sonne ging auf. Ich musste an die Geschichte denken, in der Gott in Eden den Menschen aus einem Klumpen Ton formte und ihm den Lebensatem einhauchte, mitten in einem Garten. Ich spürte meinen eigenen Atem und etwas von der Gegenwart Gottes. Für einen Moment war mir klar, dass diese Präsenz immer da gewesen ist, seit Adam und Eva, immer. Ich war ganz lebendig in dieser Gewissheit. Ich wusste nicht nur mit dem Verstand, sondern mit jeder einzelnen Zelle, dass es Gott gibt und, dass sich an Gott nichts ändert, egal wie sehr ich mich verändere, wie sehr mein Leben sich verändert oder das Schicksal der Menschheit. Sicher mich werden viele Dinge treffen und auf vieles werde ich nicht vorbereitet sein und keine Antwort wissen. Es wird keinen Sinn machen, ich werde hadern, ich werde Angst haben. Aber seine Gegenwart wird wieder Gestalt annehmen, irgendwann. Und bis dahin werde ich mich erinnern, an diesen Moment jetzt.
Hör auf den Garten festzuhalten.
Und wenn ich sterbe, vielleicht werde ich wieder hier stehen in diesem Garten vor diesem Gärtner und er wird nicht noli me tangere sagen. Er wird sagen: Maria, einmal habe ich dich gebeten, mich nicht festzuhalten und ich weiß, wieviel Kraft es dir gekostet hat. Und wie sehr du daran gewachsen bist. Und jetzt bitte ich dich: hör auf den Garten festzuhalten, die Luft, die du atmest und den Körper, den du bewohnst und dann komme näher. Und diese letzten Schritte werden leicht für mich sein, weil ich weiß: es ist nicht weit, es sind nur 1,5 Meter.
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Text: Juliane Link, Autorin, Kulturwissenschaftlerin, Referentin der Katholischen Studierendengemeinde Berlin.
Bild: unsplash, Tyler Mc Robert