Am 30. März jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag der Pazifistin, Feministin und religiösen Sozialistin Clara Ragaz-Nadig. Geneva Moser zeichnet das Leben dieser beeindruckenden Frau nach. (Teil I)
Auf Fotos ist ihr Blick meist direkt, fast stechend. Sie scheint genau zu schauen. Der Ausdruck ist ernst, oft müde, aber auch gütig: Clara Ragaz-Nadig (1874-1957).
Ihr Name ist mir in meiner Arbeit als Co-Redaktionsleiterin der schweizerischen religiös-sozialen Zeitschrift Neue Wege – 1906 von Claras Mann, Leonhard Ragaz, mitgegründet – immer wieder begegnet. «Clara» gehört dort zum Inventar. Inzwischen bin ich begeistert: Eine Auseinandersetzung mit dieser Pionierin des feministischen Pazifismus, der Frauenbewegung, des Religiösen Sozialismus und der Sozialen Arbeit lohnt sich. Dieser Text soll dazu einladen.
Ein (fast) romantischer Prolog:
«Das verehrte und geliebte Fräulein» und «der liebe Herr Pfarrer»
Clara Nadig, 1874 in eine bürgerliche Churer[1] Familie geboren, ist Lehrerin mit Berufserfahrungen in Frankreich, England und im Engadin, als sie 1894 den Theologen und Churer Stadtpfarrer Leonhard Ragaz aus dem Graubündner Dorf Tamins kennenlernt. Sie gibt die Sonntagsschule und vertreibt ein Missionsblatt und hat so mit dem Herrn Pfarrer zu tun. Er wiederum verliebt sich in sie, braucht aber rund sechs Jahre, bis er um ihre Hand anhält. Sie zögert und antwortet auf seinen Antrag mit den Worten:
«Ich möchte, sie [die Antwort] könnte anders lauten, aber ich habe nicht den Mut zu einem Ja. Sie sagen freilich, dass Sie mich nur so wollen, wie ich bin, aber Sie kennen mich nicht! Ich weiss es besser, um Sie glücklich zu machen, um Ihnen das zu sein, was Sie von einer Frau verlangen müssen u. dürfen, müsste ich eine ganz andere werden. Und ob ich das könnte? Ich wage nicht Ihr u. mein Glück aufs Spiel zu setzen, um die Frage zu entscheiden.»[2]
Sie führt an, dass ihr Herz eher «Freundschaft» für ihn empfinde, statt «tiefe Liebe» und dass sie für den fordernden Pfarrhaushalt nicht geeignet sei. Über die Gründe, warum sie sich später doch zu einem Ja durchringt, können wir nur spekulieren. Sie schreibt im April 1901 nach einem intensiven Briefwechsel mit dem «lieben Herrn Pfarrer», ganz ohne Begründung, dass es vielleicht «doch Frühling werden könne zwischen den beiden» – ob sich durch den Briefwechsel doch eine «tiefe Liebe» entwickelte? Oder ob ihre Schwester Eva oder ihre Eltern der jungen, engagierten Frau zugeredet haben, dass dieser ebenfalls umtriebige und intelligente Pfarrer schon zu ihr passen würde? Auf jeden Fall bestellt sie ihn mit einem Brief am 19. April «um 8 ins hintere Wohnzimmer» … Danach geht alles schnell. Im Oktober desselben Jahres heiratet das Paar in der Churer Regulakirche.
Die beiden – in Leonhards Worten ist er eher «Gemütsmensch» und sie «Verstandsfrau» – werden schnell zu einem Powercouple, das bis heute beeindruckt: Clara Ragaz wird mit Leonhard Ragaz zusammen während mehrerer Jahrzehnte die Bewegung des Religiösen Sozialismus prägen und die Gesellschaft mit ihrem internationalen Engagement in der Frauenfriedensbewegung, für das Recht der Frauen auf politische Partizipation und für die Rechte der Arbeiter*innen wesentlich beeinflussen. Leonhard und Clara zogen zwei Kinder gross, die sich ihr Leben lang ebenfalls sozialpolitisch engagierten. Und Clara hat als eigenständige Denkerin und Aktivistin viel mehr als den klassischen «Pfarrhaushalt» bewältigt. Schauen wir uns einige ihrer Tätigkeitsfelder an: Bildungsräume, Arbeiter*innensolidarität und feministischer Pazifismus.
Räume für «Arbeit und Bildung»
Clara Nadig und ihre drei Schwestern stammten aus bürgerlichem Haus, erlernten aber untypischerweise und unstandesgemäss alle einen Beruf. Clara absolvierte das Lehrerinnenseminar und fiel als schnelle Denkerin auf. Die Prägung als Pädagogin bleibt denn auch ein wesentlicher Zug von Clara Ragaz und zieht sich wie ein roter Faden durch ihr bewegtes Leben. Leonhard und Clara Ragaz erkannten früh, dass mangelnde Bildungschancen ein Grund für Armutsbetroffenheit sind, und sie versuchten Räume zu schaffen, in denen sich Arbeiter*innen weiterbilden und auch vernetzen, organisieren und gegenseitig stärken konnten. Eingebettet war diese Praxis in die Grundstimmung des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts, nach der sich die Menschheit stetig weiterentwickle. Bildung als emanzipatorische Kraft kann als Grundpfeiler des Religiösen Sozialismus bezeichnet werden.
Gartenhofstrasse 7 in Zürich
Zentraler Ort der Arbeiter*innenbildung war das Haus an der Gartenhofstrasse 7 in Zürich[3]. Leonhard Ragaz gab 1921 seine Theologieprofessur an der Universität Zürich auf und die Familie siedelte 1922 vom reichen Zürichberg ins Arbeiter*innenquartier Aussersihl an die Gartenhofstrasse um, inspiriert von der angelsächsischen Idee des Settlements: Diejenige Bevölkerungsschicht, die im Besitz von Bildung, Wohlstand, Freizeit und anderer sozialer Vorteile sei, soll diese zum Wohl der Benachteiligten einsetzen. Dies in Form von Nachbarschaftshilfe, Volkshochschule und sozialer Unterstützung. Am Londoner Vorbild, dem Settlement «Browning-Hall», erlebten Clara und Leonhard Ragaz Aktivitäten wie unentgeltliche Rechtshilfe, Vorlesungen der Volksuniversität, Konzerte, Sonntagsschulen für Kinder und für Erwachsene sowie Gottesdienste. An der Gartenhofstrasse 7 gibt Leonhard Ragaz also fortan Andachten, beide halten Vorträge, Kurse und leiten Diskussionsabende, bieten Menschen in Not praktische Unterstützung an oder laden Geflüchtete zu einer Weihnachtsfeier ein.
«Der Gartenhof» ist heute im Besitz der Wogeno Zürich, der Genossenschaft selbstverwalteter Häuser, ist aber weiterhin nebst Wohnhaus auch Sitz verschiedener Friedensorganisationen. Auch mit der Zeitschrift Neue Wege sind wir regelmässig für Sitzungen im Saal im Erdgeschoss. Ein Schild an der Tür, «bei Nacht hier klingeln», erzählt von der Geschichte des Hauses als Anlaufstelle in Not. Im Oktober 2024 wird eine Tafel eingeweiht werden, die an das Wirken der Familie Ragaz in diesem Haus erinnert.
Volksbildungshaus Casoja in Lenzerheide
Ein weiterer Bildungsort, den Clara und Leonhard Ragaz gestalteten, war das Volksbildungshaus Casoja in Lenzerheide im Kanton Graubünden. In der Bergluft und der idyllischen Natur sollten sich junge Arbeiterinnen aus der Stadt zu günstigen Konditionen «körperlich erholen» und «geistige Anregung» erhalten[4]. Die Kurse trugen Titel wie: «Hauswirtschaftliche Grundlagen», «Einführung in die Frauenbewegung», aber auch «Rhythmische Übungen» und «Botanische Exkursionen». Die Referent*innen lebten mit den Mädchen im Haus und der Haushalt wurde gemeinsam bestellt. Im Zentrum standen das Gemeinschaftsgefühl und das soziale Miteinander.
«Soziale Frauenschule»
Während sich die Kurse in Casoja gezielt an junge Frauen aus dem Proletariat richteten, entstanden in Zürich die ersten organisierten Weiterbildungen für Frauen aus eher gut begüterten Kreisen, die sich hilfstätig engagierten: Mentona Moser, Maria Fierz und Marta von Meyenburg gründeten die «Soziale Frauenschule», später «Schule für Soziale Arbeit» und heute Studiengang Soziale Arbeit an der ZHAW. Die Schulleiterin Marta von Meyenburg hatte sich im Ausland, beispielsweise bei Alice Salomon in Berlin, Inspirationen geholt und gestaltete einen Lehrplan auf der Höhe ihrer Zeit. Clara Ragaz war bereits in den ersten Jahren an den Kursen in «Hilfstätigkeit für soziale Aufgaben» beteiligt und war zudem Vorstandsfrau der Schule. Aus ihren Berichten über diese Arbeit geht hervor, dass sie als wesentliche Faktoren für ein Gelingen der Sozialen Arbeit nicht nur «ein gutes Herz» ausmachte, sondern in erster Linie «technische Fertigkeiten, Kenntnisse der Methoden und der Grundlagen der verschiedenen Arbeitsgebiete, vor allem aber auch Erkenntnis ihrer Zusammenhänge und Erkenntnis der tieferliegenden Ursachen unserer sozialen Schäden und Missstände».[5] Damit bereitete sie einer Professionalisierung der Sozialen Arbeit den Weg.
Mehr als Liebestätigkeit
Obschon Clara Ragaz bürgerlicher Herkunft war, sensibilisierte sie der Generalstreik der Arbeiter*innen 1912 für die Anliegen des Proletariats. Sie setzte sich intensiv mit der Situation der Heimarbeiterinnen auseinander und kämpfte gegen die strukturellen Ursachen der Prostitution. 1913 trat sie in die Sozialdemokratische Partei ein und schrieb an ihre enge Freundin Emma Pieczynska-Reichenbach (1854-1927), die gemeinsam mit ihrer Lebensgefährtin Helene von Mülinen (1850-1924) in der Wegmühle bei Bern Gastgeberin eines frauenbewegten Treffpunktes war: «Ich bin überzeugt, dass die Gedanken des Sozialismus den Gedanken des Christentums am nächsten verwandt, ja aus ihm hervorgegangen sind.»[6]
Kampf um Gerechtigkeit
Auch Claras Mann hatte bereits 1903, als die Bauarbeiter streikten, von der Kanzel im Basler Münster gepredigt, dass Christ*innen sich für die Sache der Arbeiter*innen stark machen müssten. Nachfolge Christi sei es, auf der Seite der Schwachen zu stehen, denn Nächstenliebe sei mehr als Liebestätigkeit, nämlich Kampf um Gerechtigkeit. Die Arbeiterbewegung sei in ihrem Kampf gegen den Mammonismus, letztlich eine Bewegung voller «Drang nach mehr Freiheit, mehr Seele, mehr Persönlichkeit», sagte er in seiner berühmten Maurerstreikpredigt. Die christliche Ethik verstanden Leonhard und Clara aber auch als Korrektiv gegenüber einem Sozialismus, der zum autoritären System wird und zur Erreichung seiner Ziele vor Gewaltanwendung nicht zurückschreckt.
Der Sozialismus, den beide Zeit ihres Lebens vertraten, lässt sich auf den Begriff des Reich Gottes bringen, an dessen Verwirklichung die Menschen mit ihrem Bemühen mitwirken können.
Durchbruch des Gottesreiches
Diese Reich-Gottes-Theologie des Religiösen Sozialismus nimmt Ansätze der späteren Befreiungstheologie vorweg: Theologie als Stimme der Armen, die zum Aufstehen gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung ermutigt – Christ*in-Sein als ein Hinwirken auf eine gerechtere Welt, die noch nicht ist und doch schon hier und dort aufscheint. Nicht unbedingt alles, was kirchlich oder christlich daherkommt, ist ein solcher Durchbruch des Gottesreiches. Dieses Aufscheinen kann auch säkular oder atheistisch sein. Damit hatte der Religiöse Sozialismus in seiner Zeit eine Strahlkraft und begeisterte unterschiedliche Menschen.
Den institutionalisierten Kirchen standen Leonhard und Clara Ragaz zunehmend kritischer gegenüber. Als Leonhard Ragaz 1921 seine Theologieprofessur aufgab, tat er dies auch mit der Begründung, für diese Kirche keine Pfarrer mehr ausbilden zu wollen. Damit gab die Familie nicht nur die materielle Sicherheit und den Beamtenstatus auf, sondern auch jegliche soziale und kulturelle Anerkennung in ihren Kreisen.
«Teppich weben und das Evangelium verkünden»
Clara Ragaz brachte ihr Vermögen in den Kauf des Hauses an der Gartenhofstrasse 7 ein und hatte als Übersetzerin und Dozentin ein eigenes Einkommen. Sie schrieb, angesichts der materiellen Sorgen, die mit dem Schritt an die Gartenhofstrasse 7 einhergingen, an ihre Freundin Emma:
«Nur möchte ich von mir aus lieber einen Broterwerb neben dieser Arbeit, weil mir dann immer Paulus als Vorbild vorschwebt: Teppich weben und das Evangelium verkünden, nicht nur das Evangelium verkünden und die andern für das Brot sorgen zu lassen.»[7]
Diese Äusserung ist vielsagend. Offenkundig war für Clara Ragaz die (körperlich fordernde und emotional intensive) Arbeit im Gartenhof in erster Linie Verkündigung des Evangeliums. Sie verstand sich als Botin einer Freudenbotschaft – und «webte» mit ihren Händen die Arbeit.
religiös-soziales Netzwerk
«Kirche» lebten Leonhard und Clara nach diesem Schritt auf alternativen Pfaden und als Grenzgänger*innen: Durch ihre sozialpolitische Arbeit, in freien Andachten, in der Lektüre, in der Natur und insbesondere in der Verwirklichung von Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Das religiös-soziale Netzwerk rund um Clara und Leonhard Ragaz war von Beginn an interkonfessionell und interreligiös. Verschiedene ihrer Verbündeten waren kirchenkritisch – aber religiös, ja fromm. Diese Art von kritischer und diakonischer Gemeinde, orientiert an der frühen Christ*innengemeinschaft, könnte heutige Fragen nach der Zukunft von Kirche inspirieren. Gleichzeitig hält sie einer säkularen Linken auch den Spiegel vor: Eine linke Auseinandersetzung mit Religion ist ungebrochen nötig – insbesondere in einer postmigrantischen Gesellschaft – und nicht damit erledigt, Religion zur Privatsache zu erklären.[8] Gerade im Hinblick auf die gemeinsam zu bewältigenden «Weltbrände» dieser Zeit.
Geneva Moser, *1988, ist seit 2018 Co-Redaktionsleiterin der Zeitschrift Neue Wege und tätig in der Hochschulseelsorge in Bern. Sie hat Philosophie, Gender Studies und literarisches Schreiben studiert.
Die Zeitschrift Neue Wege lädt 2024 unter dem Titel hoffen.kämpfen.lieben – 150 Jahre Clara Ragaz zur Auseinandersetzung mit Clara Ragaz-Nadigs Wirken ein.
[1] Hauptort des Ostschweizer Kantons Graubünden
[2] Staatsarchiv Zürich, Clara Ragaz an Leonhard Ragaz, 4.11.1900
[3] Ausführlich zur Geschichte dieses Hauses: Brassel/Epple/Weishaupt/Boesch: Haus Gartenhof in Zürich. Zürich 2019.
[4] Neue Wege 4.1923/S. 177
[5] Clara Ragaz in Neue Wege 1920/S.438-439
[6] Staatsarchiv Zürich, Clara Ragaz an Emma Pieczynska-Reichenbach, 4.10.1912
[7] Staatsarchiv Zürich, Clara Ragaz an Emma Pieczynska-Reichenbach, 20.08.1921
[8] Zur weiteren Lektüre rund um das Verhältnis von Sozialdemokratie und Religion:
https://neuewege.ch/neue-wege-1219-die-sp-und-die-religion?search=sp%20und%20religion
https://www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/VSA_Hildebrandt_Linke_Religion.pdf