Am 30. März jährt sich der Geburtstag der Pazifistin, Feministin und religiösen Sozialistin Clara Ragaz-Nadig zum 150. Mal. Teil II des Beitrags von Geneva Moser über das Leben dieser beeindruckenden Frau.
Hoffnung trotz «Weltbrand»
Leonhard und Clara Ragaz erlebten eine grosse Zäsur, die ihr Leben unwiderruflich prägen und ihm eine neue Ausrichtung geben sollte: Der erste Weltkrieg. Die Worte, die beide für den ersten Weltkrieg finden, sind «Weltuntergang», «Weltkatastrophe», «Weltgewitter», «Weltbrand» und «Weltwende». Leonhard schrieb später, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, in den Neuen Wegen: «Ich habe in den furchtbaren Tagen des August 1914 ein Gelübde getan, diesem Kampf gegen den Krieg mein künftiges Leben zu widmen, und gedenke es zu halten.»
Pazifismus
Der Pazifismus führte das bisherige feministische und sozialistische Engagement Claras weiter: Vom Krieg waren in der Schweiz insbesondere jene Teile der Bevölkerung betroffen, für die sich Clara auch bisher eingesetzt hatte: Durch die Inflation, durch Massenentlassungen, durch private Profiteure der Waffenindustrie und die Mobilisation von Soldaten für den Grenzschutz kamen insbesondere Arbeiter*innen und deren Familien, also besonders die Frauen aus den unteren Schichten, in eine finanzielle und persönliche Notlage.[1] Feminismus und Sozialismus ohne Pazifismus waren für Clara Ragaz nicht mehr möglich.[2]
Aus ihren Briefen aus dieser Zeit spricht eine Frau, die sich vom Krieg zum Widerstand aufgerufen sieht und mit aller Kraft an der Hoffnung festhält. Sie schrieb im September 1914 an ihre Freundin Emma Pieczynska-Reichenbach:
«Wir leiden schwer; vor allem verzehrt sich mein Mann fast in Kummer um das Schicksal Frankreichs und manchmal will es wohl beinahe scheinen, als ob nur Lüge, Anmassung, Rohheit und Gewalt herrschen sollten, aber dann findet man doch immer wieder Menschen, die mit einem leiden und mit einem sich empören und jeder einzelne davon ist eigentlich doch eine Gewähr dafür, dass noch etwas Anderes da ist und dass wir einfach nicht aufhören dürfen zu hoffen, denn jeder, der die Zuversicht auf den Sieg des Guten aufrecht erhält, hilft zu diesem Siege mit.»[3]
In Clara Ragaz brannte die Frage, was sie selbst und was die Frauen zum Frieden beitragen können.[4] Vom 28. April bis 1. Mai 1915 tagte in Den Haag die Internationale Frauenkonferenz unter der Leitung der US-amerikanischen Sozialreformerin Jane Addams, zu der 1126 Delegierte aus 12 Ländern anreisten. Es ist bitter zu sehen, dass der Kongress 1915 bereits Themen anprangerte, die auch heute noch virulent sind, beispielweise die Tatsache, dass sexualisierte Gewalt eine «Begleiterscheinung jedes Krieges» ist. Die Resolutionen dieser Konferenz für einen gerechten und dauernden Frieden lesen sich aktuell: Beispielsweise die Forderung, dass keine territorialen Änderungen ohne Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Bevölkerung erfolgen dürfen. Die Teilnehmerinnen brachten in Delegationen die an der Konferenz verabschiedeten Resolutionen zu den Regierungen der jeweiligen Länder und versuchten so die Bereitschaft zu Friedensverhandlungen zu stärken.
Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit
Clara nahm an dieser Konferenz zwar nicht teil, aber mit dieser Konferenz nimmt die internationale Vernetzung von Frauen für den Frieden, an der sie sich federführend beteiligen wird, Fahrt auf. Direktes Resultat der Konferenz in Den Haag ist die Gründung eines internationalen Frauenkomitees für dauerhaften Frieden, welches später den Namen Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit (kurz IFFF, englisch: Women’s International League for Peace and Freedom, kurz WILPF) tragen wird. Clara Ragaz präsidierte den von ihr mitgegründeten Schweizer Zweig der IFFF von 1915 bis 1946 und war Co-Präsidentin der gesamten IFFF von 1929 bis 1946.
Kinderstubenmoral in Kriegszeiten
In ihrem Vortrag Die Frau und der Friede, gehalten im Mai 1915 an der Generalversammlung des Schweizerischen Verbandes für Frauenstimmrecht in Biel, drückte Clara Ragaz ihre Enttäuschung über die wachsende Kriegsbegeisterung in der Schweiz, aber auch über so manche ungenügende pazifistische Haltung aus. Dass Frauen in diesen ersten Kriegsmonaten Grosses geleistet haben, stand für Clara ausser Frage. Aber, so ihre Kritik, die bürgerlichen Frauenorganisationen hätten zwar die Not des Krieges durch ihr wohltätiges Tun gemildert, aber eben auch den Krieg nie grundsätzlich in Frage gestellt und mit patriotischem Stolz den Nationalismus gestützt. Mit grossem rhetorischem Geschick bringt sie den Ausschluss der Frauen aus der politischen Sphäre, eine ausbeuterische Wirtschaftsordnung und die Unterwerfung der Frauen unter einen männlich geprägten Wertekanon als kriegsfördernde Faktoren auf den Punkt. Frauen, davon ist Clara Ragaz überzeugt, hätten den Ersten Weltkrieg auch dann nicht verhindern können, wenn sie die Rechte zur politischen Partizipation gehabt hätten. Noch heute gilt: Frauen zu Entscheidungsmacht zu verschaffen, verändert die Welt noch nicht zum Guten – vielmehr braucht es einen Wertewandel.
Kinderstube
Schlüsselbegriff in diesem Vortrag ist der Begriff der «Kinderstube». Frauen spielten in der häuslichen Sphäre eine «vielgeschätzte» Rolle: Sie gestalteten die Kinderstube und vermittelten den Kindern Werte wie «Güte, Freundlichkeit, Liebe, Grossmut». Diese den Frauen zugeschrieben Attribute seien aber im öffentlichen Leben der erwachsenen Kinder plötzlichen nutzlos, denn «das männliche Ideal sei Mut, Tapferkeit, Trotz, so wurden wir von Jugend auf gelehrt und das weibliche Ideal, Sanftmut, Hingebung, Milde. Gut, es sei so. Ich will das heute nicht weiter untersuchen. Aber warum soll denn die Welt, die aus Männern und Frauen zusammengesetzt ist, nur das Gepräge der männlichen Tugenden haben und sollen bloss Mut, Tapferkeit, Trotz gelten?»[5] Clara Ragaz folgert, dass Frauen diese weiblich konnotierten Tugenden in den öffentlichen Bereich tragen können müssten. Die Kinderstubenmoral müsste zur Lebensmoral werden.
Wirtschaft ist Care
Damit benennt Clara Ragaz einen Schlüssel in der Friedensförderung, den auch die heutige feministische Friedenspolitik als solchen sieht: Care[6]. Die weltweit mehrheitlich von Frauen geleistete Sorgearbeit und Fürsorge sowie ihre Rahmenbedingungen spielen eine zentrale Rolle in der Friedensförderung. Überall da wo soziale Sicherheit besteht, «braucht es keinen Krieg». Dennoch werden auch heute noch Milliarden in eine durch Waffengewalt abgestützte Sicherheit investiert statt in die Bedingungen, unter denen Care-Arbeit geleistet wird. Die nicht monetarisierbare Care-Arbeit bespielt nach wie vor einen Nebenschauplatz, wenn es um grössere Finanzentscheide geht. Schon damals bringt es Clara Ragaz auf den Punkt: «Wir müssen um eine Wirtschaftsordnung kämpfen, die Brot und Land, Macht und Recht wieder gleichmässiger verteilt.»[7] Was heute unter dem Stichwort «Wirtschaft ist Care» diskutiert wird[8], hat sie damals benannt: Eine zukunftsfähige Wirtschaftsordnung muss Care in den Mittelpunkt stellen.
Ein nicht ganz so romantischer Epilog: Der «grosse Theologe» und «die Frau von …»
Clara Ragaz hielt feministisch-pazifistische Vorträge, reiste zu internationalen Kongressen, organisierte den Internationalen Frauenfriedenskongress 1919 in Zürich, verhandelte mit Staatspräsidenten, schrieb Petitionen, übersetzte pazifistische und feministische Werke und belebte den Gartenhof in Zürich – bis zu ihrem Tod 1957. Ein Leben für den Frieden, welches hier nur bruchstückhaft erzählt werden kann. Angetrieben von einer unermüdlichen Hoffnung, ein kleines Stück neuen Himmel und neue Erde zu verwirklichen, ein «kleines Inselchen der Menschlichkeit», wie sie an ihre Freundin Emma Pieczynska-Reichenbach schrieb.
Dass Clara Ragaz als heterosexuell verheiratete Frau und Mutter zweier Kinder ein derart reiches Wirken entfalten konnte, ist aussergewöhnlich und eine emanzipatorische Leistung. In ihrem Umfeld finden sich denn auch bemerkenswert viele Frauen, die unverheiratet oder getrennt blieben und in einer Lebens- und wohl oft auch Liebesgemeinschaft mit einer anderen Frau standen. Sie konnten sich so ohne eheliche Verpflichtungen die nötigen Freiräume für ihr sozialpolitisches oder berufliches Engagement schaffen.[9]
Doppelbelastung von Care- und Lohnarbeit
Dass Clara Ragaz innerhalb ihrer Ehe immer ihre eigenen Wirkungsfelder entwickeln konnte, ist wohl auch auf die Eheideale von Leonhard und Clara zurückzuführen: Waren sie doch beide davon überzeugt, dass die Liebe dort am besten gedeihen könne, wo sich Eheleute auf Augenhöhe und ebenbürtig begegnen.[10] Nichtsdestotrotz muss wohl auch Clara die Doppelbelastung von Care- und Lohnarbeit in ihrer Ehe gespürt haben. Nicht selten gibt es in den Briefen zwischen den Eheleuten Ragaz Passagen, in denen Leonhard seine Frau um Haushaltsdinge – gebügelte Hemden, Krägen usw. – bittet, ganz selbstverständlich scheint sie für deren Bestellung zuständig zu sein. Die Erschöpfung ist regelmässig Thema in den Briefen Claras: Die Tage sind chronisch zu kurz und werden in die Nacht ausgedehnt. Es ist auch davon auszugehen, dass einige der Meriten des grossen Theologen Ragaz zumindest teilweise Clara zuzuschreiben sind. Ein kleines solches Beispiel zeigt Filmemacherin Tula Roy auf: Clara schreibt in einem Brief an Leonhard, wie sie ein Manifest von niemand Geringerem als Leo Trotzki ins Deutsche übersetzt hatte. In der Autobiografie Leonhards ist er es dann plötzlich selbst, der die Übersetzung geleistet hatte …[11]
So ist es denn auch kein Zufall, sondern eher ein weiteres typisches Beispiel der zuweilen androzentrischen Geschichtsschreibung, dass ich im heutigen Stadtbild von Zürich zwar ein winziges Weglein mit dem Namen «Leonhard-Ragaz-Weg» finde, aber keinerlei Zeichen von Clara Ragaz-Nadig. Immer noch und ungebrochen scheint Clara Ragaz-Nadig, diese grosse Pazifistin, Feministin und religiöse Sozialistin in die Geschichte eingeschrieben zu sein als «Frau von …». Hoffentlich ändert dieses Jubiläumsjahr 2024 – 150 Jahre Clara Ragaz-Nadig – daran so einiges!
Geneva Moser, *1988, ist seit 2018 Co-Redaktionsleiterin der Zeitschrift Neue Wege und tätig in der Hochschulseelsorge in Bern. Sie hat Philosophie, Gender Studies und literarisches Schreiben studiert.
Die Zeitschrift Neue Wege lädt 2024 unter dem Titel hoffen.kämpfen.lieben – 150 Jahre Clara Ragaz zur Auseinandersetzung mit Clara Ragaz-Nadigs Wirken ein.
[1] Ausführlich zum historischen Kontext: Isabella Wohlgemuth: Clara Ragaz Nadig und der feministische Pazifismus. Lizenziatsarbeit, Zürich 1991.
[2] Ursula Vock: Clara Ragaz-Nadig und die pazifistische Frauenbewegung. Proseminararbeit, Zürich 1988. S.19
[3] Schweizerisches Staatsarchiv Zürich, Clara Ragaz an Emma Pieczynska-Reichenbach, 03.09.1914
[4] https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=frb-001%3A1916%3A0%3A%3A62
[5] Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6/1915
[6] Annemarie Sancar: Kinderstubenmoral in Kriegszeiten. In: Neue Wege 1/2024
[7] Clara Ragaz: Die Frau und der Friede. In: Neue Wege 6.1915, S. 204–254, hier S. 253.
[8] Vgl. auch den am 8. März 2024 auf feinschwarz.net erschienenen Beitrag von Ina Praetorius.
[9] Einige Beispiele: Gertrud Rüegg, die der Familie Ragaz das Haus an der Gartenhofstrasse vermittelte, lebte mit Milly Grob; Emma Pieczynska-Reichenbach lebte mit Helene von Mülinen; die geflüchteten deutschen Sozialistinnen Anita Augsburg und Lida Gustava Heymann waren offen ein Paar; Berti Wicke, IFFF-Nachfolgerin von Clara Ragaz, lebte 50 Jahre mit Helen Kremos zusammen; Claras Tochter Christine Ragaz blieb unverheiratet, und ihr Nachruf nennt ihre «getreue Freundin Annemarie Sauter» …
[10] Gerber/Matthieu/Ragaz/Ragaz/Staudinger: Ein sozialistisches Programm. Olten 1920.
[11] Tula Roy: Auf den Spuren von Clara Ragaz. In: Neue Wege 91/1997
Bildquellen: Sozarch_5160-F