Das Jahr 1968 hat die Kirchen verändert. Politik traf auf Gemeinden, Gottesdienste, Katholikentag und Theologie. Anselm Weyer erinnert an ein turbulentes Kirchenjahr und an die neuen Gehversuche zeitgenössischen Glaubens, die bis heute nachwirken.
Nicht mit einem Pauken-, dafür aber einem Krückenschlag begann das Kirchenjahr 1968 in Deutschland. In das Orgelvorspiel des Weihnachtsgottesdienstes in der prall gefüllten Berliner Gedächtniskirche platzten 1967 acht Studierende und protestierten mit Plakaten und Parolen gegen den Vietnamkrieg. Es kam zu Tumulten innerhalb der Gemeinde. Einige Kirchgänger boxten die Eindringlinge Richtung Ausgang und zerstörten ihre Plakate – darunter eines mit dem Matthäus-Vers „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Tumulte im Weihnachtsgottesdienst
Im entstehenden Chaos erklomm Rudi Dutschke, der bis dahin unauffällig in der zweiten Reihe gesessen und mit der Aktion eigentlich gar nichts zu tun hatte, die Kanzel. Weiter als „Liebe Brüder und Schwestern…“ kam er allerdings nicht, denn dann wurde auch er angegriffen. Dutschke rettete sich zunächst mit einem kühnen Sprung von der zwei Meter hohen Kanzel, bevor ihn doch die Krücke eines Gottesdienstbesuchers niederstreckte. Mit einer 3,5 Zentimeter großen Platzwunde kam der „rote Rudi“ ins Krankenhaus, während man in der schließlich fortgeführten Mitternachtsmette in der Gedächtniskirche Frieden auf Erden feierte. Die Politik hatte 1968 in Deutschland wieder massiv Einzug in die Kirche gehalten. Sie war aber nicht nur ein externer Störfaktor. Aus der Mitte der Gemeinde, von der Basis, wurde sie in kirchliche Gremien und auch in den Gottesdienst getragen. Die Zahl der Menschen, die Kirche nicht nur konsumieren, sondern auch als einfaches Gemeindeglied aktiv gestalten wollten, wuchs.
Die Politik hatte 1968 in Deutschland wieder massiv Einzug in die Kirche gehalten.
Gegen Politik in der Kirche wehrten sich 1968 viele vehement – vielleicht verständlich, war es doch gerade einmal 23 Jahre her, dass die Tagespolitik die Arbeit der Kirche sehr maßgeblich beeinflusst hatte. Die Bekennende Kirche etwa war ja erst notwendig geworden, weil es mit den „Deutschen Christen“ noch eine andere, zahlenmäßig weitaus stärkere Strömung in der Kirche gab, die eben nicht unpolitisch war, sondern Adolf Hitler als Befreier des deutschen Volkes verherrlichte. Nach dem Krieg plädierten deshalb viele gerade in der evangelischen Kirche für eine Rückbesinnung auf Luthers Zwei-Reiche-Lehre und die strikte Trennung von Thron und Altar.
Irritiert wurde gerade von den Kirchenoffiziellen zur Kenntnis genommen, dass junge Pfarrer (Pfarrerinnen gab es damals immer noch kaum) zwar im Gottesdienst gerne auf den Talar verzichteten, um sich auf Augenhöhe mit der Gemeinde zu begeben, andererseits aber zunehmend Talar bei Demonstrationen trugen, um dort als Pfarrer erkennbar zu sein. Da hätten sich viele aus den kirchlichen Führungsgremien mehr öffentliche Neutralität in Fragen der Politik gewünscht und versuchten auch, dies in Disziplinarverfahren durchzusetzen.
„Können sich Christen wirklich in entscheidenden Fragen Neutralität erlauben?“
„Können sich Christen wirklich in entscheidenden Fragen Neutralität erlauben?“ fragte dagegen Dorothee Sölle und sprach damit vielen jungen Theologinnen und Theologen aus der Seele, die ebenfalls meinten, dass der neutrale Pilatus doch wahrlich kein Vorbild für Christen sein könne. „Theologisches Nachdenken ohne politische Konsequenzen kommt einer Heuchelei gleich“, postulierte deshalb Sölle: „Jeder theologische Satz muss auch ein politischer sein“. Die Bergpredigt enthalte „unaufgebbare Forderungen an uns alle“. Gott wolle, dass wir Leid nicht als gottgegeben hinnehmen, sondern etwas dagegen unternehmen. Sölle schlussfolgert, „dass Glaube und Politik untrennbar sind; dass das Evangelium kritisch und entwerfend auf gesellschaftliche Zustände wirken muss“.
Politische Theologie
Diese Position wurde von Kirchgängerinnen und Kirchgängern rund um das Jahr 1968 verwirklicht. In Köln etwa hatte sich in Reaktion auf das 2. Vatikanische Konzil an der katholischen Kirche Neu St. Alban eine Gruppe gebildet, die sich nicht nur mit Politischer Theologie auseinandersetzte, sondern dies auch noch über die Konfessionsgrenzen hinweg tat – und das zu Zeiten, als Ehen zwischen protestantischen und katholischen Partnern noch als „Mischehen“ diffamiert und teils mit Sanktionen belegt wurden. Diese Gruppe, darunter Dorothee Sölle, organisierte im Anschluss an den Gottesdienst am dritten Advent 1967 ein Gespräch über den Vietnamkrieg und was man tun könne, um ihn zu beenden. Weil das Generalvikariat letztlich verbot, dass der Kirchraum Schauplatz politischer Diskussionen würde, diskutierten 150 Kirchenbesucher dann eben trotz winterlicher Kälte etwa eine Stunde lang medial begleitet vor der Kirchentür. Von der Resonanz ermutigt, lud die Gruppe an Karfreitag 1968 zu einem Schweigemarsch ein, der in einem Gottesdienst auf dem Kölner Neumarkt gipfelte. Etwa 2000 Menschen kamen. Beliebtes Fotomotiv war ein Plakat mit der Aufschrift „Vietnam ist Golgatha“.
Katholikentag 1968 zwischen „Humanae vitae“, Vietnamkrieg und Prager Frühling
Im September 1968 dann war Katholikentag in Essen, auf dem unter anderem etliche junge Christinnen und Christen mit Spruchbändern und Plakaten für eine Öffnung der katholischen Kirche eintraten. Papst Paul VI. hatte da gerade erst für Aufruhr gesorgt, indem er, gegen die Mehrheitsmeinung einer zu diesem Thema einberufenen Kommission, am 25. Juli in seiner Enzyklika „Humanae vitae“ den Gläubigen den Gebrauch künstlicher empfängnisverhütender Mittel untersagt, also „jede Handlung, die entweder vor, während oder nach dem Geschlechtsakt eigens dazu dienen soll, die Fortpflanzung zu verhindern – ob als Zweck oder als Mittel.“
Obwohl Kardinal Julius Döpfner, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und einer der Vizepräsidenten jener päpstlichen Kommission, die eine andere Entscheidung empfohlen hatte, auf einer Sondersitzung der Bischöfe in Königstein im Taunus schnell noch ein relativierendes „Wort zur seelsorglichen Lage nach Erscheinen der Enzyklika Humanae vitae“ formulieren ließ, war die Empörung über die als veraltet empfundene Sexualethik der katholischen Kirche groß. Während der Vietnamkrieg oder der Prager Frühling brennende aktuelle Themen sind, beschäftigt sich der Papst abschlägig mit modernen Verhütungsmitteln?
Politisches Nachtgebet
Da fand auf dem Kirchentag in Essen ein modernes Gottesdienstangebot jener skandalumwitterten Kölner Gruppe um Dorothee Sölle eher Sympathien. Basierend auf den vier Grundpfeilern Information, Meditation, Diskussion und Aktion, also politisch, demokratisch und aktivierend, sollten die drängenden gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart dezidiertes Thema der Liturgie sein. Die Organisatoren des Kirchentags wiesen diesem politischen Gottesdienst einen eher ungünstigen Termin um 23 Uhr zu – und damit war das Politische Nachtgebet geboren. Jesu Botschaft wurde auch politisch gedeutet, was nicht zuletzt im berühmten Credo von Dorothee Sölle formuliert wurde, das sie beim ersten Politischen Nachtgebet vortrug:
Ich glaube an Jesus Christus,
der aufersteht in unser Leben,
daß wir frei werden
von Vorurteilen und Anmaßung,
von Angst und Haß,
und seine Revolution weitertreiben
auf sein Reich hin.“
Um die Revolution weitertreiben zu können, auch im Gottesdienst, sollte das Politische Nachtgebet nach dem Willen der Kölner Gruppe kein singuläres Ereignis bei einem Kirchentag bleiben, sondern zu einer regelmäßigen Institution werden. Nachdem der Kölner Erzbischof Kardinal Frings verboten hatte, dass diese Gottesdienstform in der katholischen Kirche St. Peter gefeiert würde, zog die Veranstaltung spontan in die evangelische Antoniterkirche in der Kölner Schildergasse. Die Resonanz war erstaunlich. Bis in den Altarraum war die Kirche überfüllt, so dass diese monatlichen Gottesdienste ab Mai 1969 sogar an zwei aufeinanderfolgenden Abenden mit identischem Textbestand gefeiert wurden. Außerdem wurde die Idee in anderen Städten, auch außerhalb Deutschlands, kopiert.
„Revolutionäres Syndikat kirchlicher Arbeiter“
Während hier das liturgische Angebot erweitert wurde, engagierte man sich in Celle nicht nur als Christinnen und Christen politisch, sondern griff gleich die gesamte gegenwärtige Kirche als fehlgeleitete Institution an. Hier nämlich trafen sich im Oktober 1968 60 Studenten, Vikare und Pfarrer, um die „Gründung eines revolutionären Syndikats kirchlicher Arbeiter“ vorzubereiten. Die existierende Amtskirche kritisierten sie als Stabilisator einer Gesellschaft im Stadium des Spätkapitalismus, weil sie Leid und Frustration zwar therapeutisch behandele, ohne allerdings die Ursachen zu bekämpfen.
Ob man mit den jeweiligen Aktionen und Projekten übereinstimmt oder nicht, beeindruckend ist doch auf jeden Fall das Maß an ehrenamtlichem Engagement der Beteiligten. Die Kirche wurde nicht nur kritisiert, sondern als Gemeinschaft verstanden, an der man selbst teilhat und die, wie die Welt an sich, verändert werden kann.
Ich glaube an Gott
der die Welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein Ding, das immer so bleiben muß,
der nicht nach ewigen Gesetzen regiert,
die unabänderlich gelten,
nicht nach natürlichen Ordnungen
von Armen und Reichen,
Sachverständigen und Uniformierten,
Herrschenden und Ausgelieferten
heißt es im Credo von Dorothee Sölle. Verstanden wurde dies als Auftrag an jedes Individuum, nicht nur an die sogenannten Herrschenden, so dass beim Wunsch nach Veränderung nicht primär auf Gremien geschielt, sondern auch gerne das eigene Spiegelbild als erster Ansprechpartner gewählt werden sollte.
Was 1968 in die Kirche getragen wurde, blieb nicht folgenlos.
Was 1968 in die Kirche getragen wurde, blieb nicht folgenlos. Die Möglichkeiten der Liturgie und übrigens auch der Kirchenmusik wurden um etliche Varianten erweitert, so dass etwa Hip-Hop-Gottesdienste und andere Neuerungen als legitime Fortführung der damals eingeführten Beat- und Jazzgottesdienste gelten können. Die großen Kirchen scheuen sich nicht mehr, in gesellschaftspolitischen Fragen auch durchaus konkret das Wort zu ergreifen und somit als Korrektiv zu wirken. So weit geht es, dass Fulbert Steffensky, einer der Gründer des Politischen Nachtgebets, inzwischen die Gefahr anmahnt, die 1968er könnten zu erfolgreich gewesen sein, so dass die Kirche „in der Heutigkeit ersticken“, dass sie „ihre Fremdheit und ihre gegenwartskritische Kraft verlieren“ könnten.
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Dr. Anselm Weyer ist Literaturwissenschaftler und Autor des Buches „Liturgie von links. Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche“ (Greven Verlag 2016).
Bild: Dorothee Sölle in der überfüllten Antoniterkirche in Köln beim Politischen Nachtgebet; copyright Oswald Kettenberger; mit freundlicher Erlaubnis von Oswald Kettenberger