An „1968“ schieden und scheiden sich die Geister. 50 Jahre danach blickt Heinz-Günther Stobbe auf die Jahre zwischen Protest, Aufbruch, Emanzipation und Gewalt zurück.
Es muss zu Beginn des Theologiestudiums gewesen sein, als ich nach zwei Lehrveranstaltungen am Vormittag auf dem Weg zum Mittagessen im Priesterseminar vor dem Überqueren einer Straße mit anderen Passanten warten musste, weil eine Anti-Vietnam-Demonstration vorbeizog, organisiert vermutlich im Zusammenhang mit dem in Berlin stattfindenden Vietnam-Tribunal. An der Spitze des Zuges lief ein bärtiger Hüne, auf den Schultern ein kleiner Junge. Die am Straßenrand Wartenden schauten teilnahmslos oder interessiert zu, einige aber empört oder ausgesprochen feindselig. Am folgenden Tag erschien ein Zeitungsbericht, der sich aufgebracht und in fast gehässiger Form ereiferte – nicht, wohlgemerkt, über die Barbarei des Krieges, in dem gerade der Vietcong seine große und ungeheuer verlustreiche Tet-Offensive eröffnet hatte, sondern über den Missbrauch kleiner Kinder zu politischen Zwecken. Das war, so meine ich, meine erste und ziemlich folgenlose Berührung mit den „68ern“, jener inzwischen mythisch verklärten Generation. Geblieben war lediglich ein befremdetes Erstaunen über die Heftigkeit der Reaktion, die eine harmlose und gänzlich gewaltfreie Demonstration auszulösen vermochte.
Erinnerungen: Meine erste und ziemlich folgenlose Berührung mit den „68ern“
An der Hochschule und im Seminar hörte und spürte man recht wenig vom anwachsenden studentischen Protest und dem Krieg im fernen Asien. Uns Theologiestudierende beschäftigte vor allem das Zweite Vatikanische Konzil, das seine mehrjährige Arbeit Ende 1965 abgeschlossen hatte. Ein erstes Echo der einsetzenden Veränderungen in der Kirche bestand in der Möglichkeit, nach dem vierten Semester ein Studienjahr außerhalb des Priesterseminars zu verbringen. Ich entschied mich, nach Tübingen zu gehen, vor allem wegen Hans Küng, dem neben Karl Rahner bekanntesten Konzilstheologen. Dort brodelte die Studentenbewegung, zahlreiche, meist linksgerichtete Gruppen, plakatierten politische Parolen, schütteten einen mit einer Flut hektographierter Flugblätter zu und hielten ständig Versammlungen ab oder demonstrierten auf der Hauptstraße zwischen den Universitätsgebäuden.
Dem aus dem Weg zu gehen, hätte eiserne Disziplin oder stoischen Gleichmut erfordert. An beidem mangelte es mir, obgleich ich trotz allem ein eifriger Student war. Es wurde eine aufregende, turbulente und zugleich lehrreiche Zeit. Neben das Studium nachkonziliarer und evangelischer Theologie trat jetzt die Auseinandersetzung mit marxistischem Gedankengut, das mir eine neue Welt erschloss.
Nachkonziliare und evangelische Theologie – und Marxismus
Ich kannte zwar die Staatsideologie der DDR seit meiner Kindheit dank der jährlichen Verwandtenbesuche, doch weder die Familie noch das Erleben des DDR-Alltags hatten bei mir irgendeine Begeisterung geweckt. Im Gegenteil, diese Erfahrungen machten mich für immer immun gegen die Versuchung, den Marxismus als Heilswahrheit zu betrachten. Für mich bot er, wie für die Befreiungstheologie Lateinamerikas, in erster Linie ein analytisches Instrumentarium, das auf einer bleibend wichtigen Einsicht beruhte: Es ist für das Verständnis von Gesellschaft und Politik unverzichtbar, wirtschaftliche Prozesse und Interessen zu verstehen. Davon hatte ich im Theologiestudium bislang nichts gehört, immerhin aber lenkte die Pastoralkonstitution „Über die Kirche in der Welt von heute“ (“Gaudium et spes“) des Vatikanum II die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung wirtschaftlicher Gerechtigkeit im Rahmen einer erneuerten katholischen Soziallehre.
Münster, seinerzeit das Mekka für die, die „politische Theologie“ studieren wollten
Nach zwei Semestern wechselte ich aus persönlichen Gründen von Tübingen nach Münster, seinerzeit das Mekka für alle, die „politische Theologie“, also bei J.B. Metz studieren wollten. Die Studentenrevolte dehnte sich weltweit aus und hatte inzwischen zugleich die universitäre Ausbildung erreicht. Man konnte zum Beispiel nie sicher sein, ob eine Lehrveranstaltung zu einem bestimmten Thema nicht gleich in der ersten Sitzung „umfunktioniert“ wurde und sich einem ganz anderen Gegenstand widmete. Viele der Professoren, die in ihrer hierarchischen Stellung oft den „Halbgöttern in Weiß“ an den Kliniken glichen, reagierten beleidigt oder hilflos, selten souverän und mit Humor.
Reaktionen der Professoren: beleidigt oder hilflos, selten souverän und mit Humor
Manche erinnerten sich der Praktiken brauner Burschenschaften im Dritten Reich. Wir Studierenden fühlten unsere Macht und genossen die rasante Erosion autoritärer Strukturen und das Bröckeln einer Ordnung, die festbetoniert schien, verteidigt von einer Übermacht alter Herren. Überall herrschte auf einmal die beflügelnde Überzeugung, die Welt verändern zu können und zwar durch uns, die junge Generation, die in zahlreichen Ländern aufbegehrte. Diese Vision einer tiefgreifenden Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse zog eine Politisierung vieler Lebensbereiche nach sich und das praktische Erproben alternativer Lebensformen. Die Kinderladen-Bewegung entstand, um die Eltern-Kind-Beziehung zu verändern. Vielleicht aber brachte nichts den Umbruch im Lebensgefühl besser zum Ausdruck als die Rockmusik. Sie begeisterte uns und verstörte unsere Eltern. In Bezug auf die Kirche offenbarte sich darin eine wachsende Entfremdung: Während wir uns an den revolutionären Klängen der Elektrogitarre von Jimi Hendrix berauschten, zog in manche Gottesdienste als Nonplusultra jugendnaher Liturgie die Klampfe ein. Nicht wenige der amerikanischen Protestsänger und besonders Protestsängerinnen – wie etwa Joan Baez – hatten ihre Wurzeln im Kirchengesang, hierzulande war das schlicht unvorstellbar.
Wachsende Entfremdung: Während wir uns an den revolutionären Klängen der Elektrogitarre von Jimi Hendrix berauschten, zog in manche Gottesdienste als Nonplusultra jugendnaher Liturgie die Klampfe ein.
Die Politische Theologie bewegte sich näher am Zeitgeist, ohne ihn einfach nur zu kopieren. Sie suchte das Gespräch mit dem Marxismus, unter anderem in der Paulus-Gesellschaft, und dann mit der Kritischen Theorie. Wir lasen Herbert Marcuse und Ernst Bloch, Jürgen Habermas und Marx, den „jungen“ natürlich. In den Bücherregalen sammelten sich die bunten Bändchen aus der edition suhrkamp und die weniger auffälligen aus der Reihe rororo-aktuell. Die Studentengemeinden bildeten in gewissem Maße die Vorhut der Umsetzung der gewonnenen wirklichen oder vermeintlichen Einsichten und gerieten schnell ins Visier kirchenamtlicher Kritik und Sanktionen, so auch der Bund der Deutschen Katholischen Jugend, dessen Verantwortliche innerkirchlich einen schweren Stand hatten. Es bildeten sich Priester-Solidaritäts-Gruppen und andere kirchenkritische Gruppierungen wie der Bensberger Kreis.
Auf der anderen Seite formierte sich auch Widerstand gegen umfassende Reformen in der Gesellschaft. Teile der Presse verschärften den Ton gegenüber den Studenten und es häuften sich gewalttätige Zwischenfälle bei Demonstrationen. Gewalt hatte die Studentenbewegung von früh an begleitet, in der Regel ausgeübt durch prügelnde Polizisten, gutgeheißen von Äußerungen seitens Schaulustiger, die unverhohlen nationalsozialistische Lager zurückwünschten, um das arbeitsfaule studentische Gesindel zur Ordnung zu erziehen. Der Tod von Benno Ohnesorg, von einem Polizisten erschossen, der kurz darauf vom Gericht freigesprochen wurde, sowie das Attentat auf Rudi Dutschke, lösten unter uns Studenten allgemeines Entsetzen aus und verstärkten das Empfinden, in einem durch und durch autoritären und reaktionären Staat zu leben.
Die studentischen Aktionsformen, die immer häufiger mit Gewalt einhergingen, erschienen uns als Gegengewalt legitim. Bei mir allerdings änderte sich das an einem einzigen Nachmittag.
Die studentischen Aktionsformen, die immer häufiger mit Gewalt einhergingen, erschienen uns als Gegengewalt legitim. Bei mir allerdings änderte sich das an einem einzigen Nachmittag. In Münster stand irgendein öffentliches Ereignis bevor, das ich vergessen habe. Die Polizei hatte den Domplatz abgeriegelt, an dessen Westseite einer der größten Hörsäle gelegen war, in dem sich Hunderte von Studierenden versammelten. Einem studentischen Redner gelang es innerhalb einer Viertelstunde, die Versammlung gegen „die Bullen da draußen“ aufzuhetzen, diese drängte aus dem Gebäude und stürzte sich in den „Straßenkampf“, in dem dann einiges Blut floss. Ich merkte verstört, wie viel Kraft es mich kostete, mich dem Sog der aufgeputschten Menge zu entziehen. Dieses Geschehen war `sozialistisch´ und `links´ motiviert, auf mich wirkte es schlicht faschistisch.
Die Gewalt veränderte die Situation grundlegend, die Revolution begann, ihren Charme zu verlieren und allmählich ein düsteres Gesicht zu zeigen. Nach dem Zauber des legendären Rock-Festivals von Woodstock, bei dem Massen von jungen Menschen im Schlamm und allgemeinem Liebestaumel zu versinken drohten, folgte die Bluttat von Altamont, als Hells Angels vor der Bühne der Rolling Stones einen schwarzen Jugendlichen erstachen. In Deutschland kam nach dem Kaufhausbrand von Frankfurt, der noch als „Gewalt gegen Sachen“ durchgehen mochte, der Deutsche Herbst mit seiner Serie kaltschnäuziger Morde.
Der Deutsche Herbst mit seiner Serie kaltschnäuziger Morde
Sie entlarvte die RAF endgültig als Killerbande, die sich mit einer zunehmend zynischen Phraseologie zu rechtfertigen suchte. Doch das überzeugte immer weniger, die Solidarität mit der „Stadtguerilla“ im studentischen und intellektuellen Milieu brach weg, die letzten Reste von Verständnis in der Gesellschaft schmolzen dahin. Die 68er-Bewegung hatte ihren Zenit überschritten, sie verschied nicht mit einem großen Knall, sie verlief sich, sickerte aber auch in Kirche und Gesellschaft ein.
Die Mehrzahl der RAF-Mitglieder war tot oder abgetaucht oder saß im Gefängnis, der überwiegende Teil der Bewegung normalisierte sein Lebensgefühl und einige machten auf dem „langen Marsch durch die Institutionen“ (R. Dutschke) politische Karriere, allen voran Joschka Fischer, der vom Frankfurter Hausbesetzer und Straßenkämpfer zum deutschen Außenminister aufstieg.
Viele bemühten sich, in ihrem Lebensbereich einigen Einsichten und Grundsätzen der Gegenkultur treu zu bleiben. Die TheologInnen unter ihnen zählten meist in der sich anbahnenden innerkirchlichen Auseinandersetzung über den nachkonziliaren Kurs zu denen, die sich weiter dem reformerischen Impuls des Konzils verpflichtet wussten. Denn ohne diese befreiende Erfahrung hätte sicherlich eine große Anzahl von ihnen die Kirche verlassen. Die Verhältnisse, von denen wir einen historischen Augenblick lang glauben konnten, wir könnten sie zum Tanzen bringen, erwiesen sich als zählebig, auch, weil sie flexibler waren, als wir gedacht hatten. Sie wandelten sich, aber manchmal nur im Rhythmus einer Springprozession: Zwei Schritte vor, einer zurück.
Junge Menschen von heute werden sich zu wehren wissen, wenn die Verhältnisse auch sie zu ersticken drohen. Das hoffe ich wenigstens.
Inzwischen sind wir, die 1968 zu den Jungen zählten, selbst alt geworden. Mir persönlich fällt es manchmal schwer, mir bewusst zu machen, dass jene Zeit des Aufbruchs und Umbruchs bereits ein halbes Jahrhundert zurück liegt. Junge Menschen von heute können sich die Welt vor 68 nicht mehr vorstellen und wissen nicht, dass nicht wenige Freiräume, die sie selbstverständlich nutzen, damals erstritten, ja erkämpft wurden. Das ist nicht schlimm, sondern einfach der normale Lauf der Dinge. Sie werden sich zu wehren wissen, wenn die Verhältnisse auch sie zu ersticken drohen. Das hoffe ich wenigstens. Ich für mich meide nach Möglichkeit nostalgische Träume nach rückwärts, aber gelegentlich, das gebe ich zu, trauere ich dem Gefühl einer intensiven Lebendigkeit nach, das mir seither abhandengekommen ist.
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Prof. i.R. Dr. Heinz-Günther Stobbe war Professor für Systematische Theologie und theologische Friedensforschung an der Uni Siegen.
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