Wir werden geprüft. Ein Rückblick auf das vergangene Jahr von Rainer Bucher.
Das „Rendezvous mit der Globalisierung“ (Schäuble), das die Flüchtlinge für uns arrangieren, hat Staat und Gesellschaft überrascht – obwohl die Globalisierung seit langem läuft. Dass sie nicht nur Internet, günstige Flüge in alle Welt und Welthandel bedeuten könnte, sondern auch, dass jene zu uns kommen, die woanders keine Perspektive haben, das war eigentlich absehbar.
„Rendezvous mit der Globalisierung“
Technologische und wirtschaftliche Entwicklungen verlassen den Horizont der sie begründenden Absichten und Hoffnungen immer schneller. Was wird uns als nächstes überraschen? Massive Verschiebungen der Mensch-/Maschine-Schnittstellen in Folge der Digitalisierung? Wer weiß es?
2015 war auch das Jahr der selbstbewussten Wiederkehr der semi-autoritären, illiberalen Demokratie, und dies eben nicht nur in Putins „gelenkter Demokratie“ oder Erdogans spät-osmanischer Sultansautokratie, also in Ländern, die es bislang kaum anders kannten. Nein, Länder, die berühmt waren für ihre Freiheitsaufstände wie Ungarn (1956) oder Polen (1989) beschädigen offen demokratische Prinzipien.
Wenn ein Abgeordneter der polnischen Regierungskoalition im Parlament vor kurzem unter großem Beifall behauptete: „Über dem Recht steht das Wohl des Volkes. ( …) Das Recht muss uns dienen! Das Recht, das nicht dem Volk dient, ist Rechtlosigkeit!“, dann wird genau jenes „symbolische Dispositiv der Demokratie“ (Helmut Dubiel) beschädigt, das Demokratie ausmacht.
Wiederkehr der semi-autoritären Demokratie
Denn in einer Demokratie ist die Stelle der Macht konstitutiv leer, sie wird nur temporär und reversibel besetzt. Hier aber wurde sie wieder occupiert, wurde eine Einheit von politischer Macht und Zivilgesellschaft unter spezifischen Vorzeichen („Volkswillen“) imaginiert. Das „Volk“ wird zum identitären Mythos und mit der eigenen Partei identifiziert. Das ist ein Königsweg, um scheinbar „demokratisch“ die Demokratie auszuhebeln. Dass man Demokratien ins Autoritäre abrutschen lassen kann, war immer klar, weil historisch zig-fach belegt; dass es vor der europäischen Haustüre geschieht, überrascht schmerzlich.
Und dann ist da die Erfahrung, dass unsere Gesellschaften unter der Herausforderung der Flüchtlinge offenbaren, was in ihnen steckt: positiv wie negativ; dass sich die Bevölkerung polarisiert, in jene, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden, und jene, die helfen, sie bewohnbar zu machen, dass Menschen, Nachbarn, sich als hasserfüllte Angstbürger zeigen, und andere, ebenfalls Nachbarn, als mitfühlende Mitmenschen.
Dieser Schnitt durch die Gesellschaft markiert, welche tiefen Verlust- und Identitätsängste verbreitet sind, aber auch, wie eine Mehrheit sich von ihnen nicht definieren lassen will. Die Maßlosigkeit des Hasses auf die „anderen“ könnte man aus der Geschichte kennen; erschrecken aber lässt sie, erlebt man sie erstmals so epidemisch und hautnah, doch.
… die Bevölkerung polarisiert sich in jene, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden, und jene, die helfen, sie bewohnbar zu machen.
Was gab Hoffnung? Natürlich jene, die halfen und helfen, die Kirchen auch, auch die katholische. Die Positionierung ihrer Repräsentanten (Papst Franziskus, die Kardinäle Schönborn, Marx und Woelki) war eindeutig. Und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angel Merkel hat beeindruckt: Ihre Ruhe, Klarheit und Unerschütterlichkeit verdienen höchsten Respekt.
Schließlich „Paris“, der IS, die Messerattacken in Israel, all der Terrorismus und all die bisweilen so hilflose „militärische Antwort“ darauf. Wie mit dieser Bedrohung zu Recht kommen?
Was gab Hoffnung?
Christen wissen von der Verwundbarkeit des Lebens: dass es in ihm keine letzte Sicherheit gibt, keine Erlösung von seiner Bedrohtheit durch Sünde, Tod und eigene Schuld – außer in Gott. Auf ihn aber kann man nur vertrauen: nicht mehr, nicht weniger.
Wie sagte Martin Walser kürzlich: „Was uns da passiert, das ist für mich eine Prüfung. (….) das alles hier wirkt so, als würde jetzt Europa geprüft auf seine Gültigkeit als humaner Kontinent.“ Er meinte damals die Flüchtlingssituation. Seine Worte gelten auch für die Versuchungen autoritärer Demokratie und angesichts des Terrorismus.
Gottvertrauen, darum können religiöse Menschen zu Beginn des neuen Jahres beten. Damit wir diese Prüfung bestehen, damit wir nicht beherrscht werden von Angst und verzehrender Sorge. Und dem, was 2016 auf uns zukommen wird, gewachsen sind.