Der Feldzug Putins gegen die Ukraine macht sprachlos. Die Bibel kennt eine Sprachform für Entsetzen und Überforderung: die Klage. Christina Kumpmann sondiert deren Möglichkeiten und Grenzen.
„Was in der Ukraine passiert ist, während Sie geschlafen haben“ überschrieb der Focus seine Zusammenfassung der letzten Stunden am Morgen des 25. Februar 2022. So simpel und fast technisch der Titel klingt, so emotional ist er aufgeladen. Im Osten Europas findet ein Krieg statt und andernorts wird geschlafen – hier nicht im übertragenen Sinne, sondern in seiner Alltäglichkeit gemeint. Der Titel drückt die Spannung aus zwischen dem weitgehend gewohnt verlaufenden Leben in Deutschland und den Vorgängen in der Ukraine. Dass eine einzelne Person so die Regeln des Zusammenlebens – und zwar im globalen Maßstab – verachtet, macht fassungslos. Und es konfrontiert mit der Erkenntnis, dass das Kategorien und Handlungsmöglichkeiten sprengt.
Die Klage ist in der Bibel die Sprachform, die dem Entsetzen und der Überforderung Ausdruck verleiht. Sie widersteht damit der Kapitulation vor dem Treiben der Lebensfeinde, vor dem die Opfer zu verstummen drohen.
Sowohl mit der Klage an sich als auch speziell mit den Sammlungen der Klagepsalmen tun sich Bibelleser:innen meist schwer. Doch diese „schwierigen“ Texte bieten eine Widerstandspotenzial, das angesichts der Gefahr auch liturgischer Sprachlosigkeit dringend zu heben ist.
Das ewige Klischee
Die (Klage-)Psalmen fallen in das „ewige Klischee“ (Erich Zenger) der vielgestaltigen Zuordnung von Altem versus Neuem Testament anhand von Schlagworten wie Gewalt/Hass vs. Liebe/Frieden etc. Dieses Klischee ist nicht nur sachlich falsch und mit Blick auf den damit begründbaren Antijudaismus gefährlich[1], sondern auch denkfaul, weil es sich der Herausforderung dieser Texte entzieht (übrigens auch der entsprechend „schwierigen“ Texte im Neuen Testament).
Klage ist nicht Nörgelei, sondern ernsthaftes Auseinandersetzen mit dem, was in der Welt schiefläuft. Klage ist zielgerichtet und konfrontiert Gott. Die Klage hält verantwortlich: einerseits jene, die die Umwelt der Beter:innen so lebensfeindlich gestalten; andererseits Gott, der als Schöpfer und Garant für Gerechtigkeit für den Zustand der Welt in (Mit-)Verantwortung genommen wird. Der zuweilen zerstörerische Lauf der Welt wird nicht klaglos hingenommen.
Die Ernsthaftigkeit und Passion, mit der in der Klage mit Gott um Gerechtigkeit gerungen wird, ist vielen fremd und Klage wird als irgendwie unangemessen aufgefasst.
Die Dramatik der Welt
Kritisiert wird zum einen der Inhalt; es stört oder irritiert, dass die Bibel so spricht.
Wer allerdings meint, die Bibel solle (nur) „schöne“ Texte enthalten, sucht eine harmlose Weltfremdheit, die zum Glück unbiblisch ist. Die Dramatik der Klage entspricht der Dramatik der Lebenserfahrungen, die hier literarisch bearbeitet und in der psalmischen Gebetsform in die Gottesbeziehung getragen werden. Der bekannte Satz, die Psalmen seien „Zu wahr, um schön zu sein“, ist ergänzbar um das Eingeständnis, dass unsere anderen Gebete „zu schön, um wahr zu sein“ sind.[2]
Die Kritik an den Texten ist fehlgeleitet, denn – um noch einmal Erich Zenger zu zitieren – nicht sie sind der Skandal, sondern die Menschen und ihre Welt; weil die Welt so ist, braucht es diese Texte, die den Menschen den Spiegel vorhalten und auch Gott damit konfrontieren.
Ross und Reiter
Der Eindruck der Gewalttätigkeit der Klagepsalmen wird durch eine für uns eher ungewohnte Formulierungsweise verstärkt: Während wir zu abstrakter Gebetssprache neigen, sprechen die Psalmen konkret und personell; sie benennen Ross und Reiter. Wir sind gewohnt, in Gebeten von „der Ungerechtigkeit“, „der Unterdrückung“ oder „dem Krieg“ zu sprechen, die enden sollen. Dagegen beschwören die Psalmen Gottes aktives rettendes Eingreifen gegen „die Ungerechten“, „die Unterdrückerin“ oder „den Kriegstreiber“.[3]
Die Vielfalt der Benennungen dieser „Feinde“ zeigt, wie umfassend das Leben als bedroht erlebt werden kann. Sie sprechen vom Bösen nicht abstrakt, sondern in seinen konkreten Erscheinungsformen – wie nach dem häufig Bertolt Brecht zugeschriebenen Zitat: „Das Böse hat einen Namen, eine Adresse und eine Telefonnummer.“
Selbstverständlich ist die Welt komplex, und es gibt Unrechtsstrukturen, für die nicht Einzelne verantwortlich sind; das wissen auch die Psalmen und abstrahieren durch Typisierung. Allerdings steht die uns eher geläufige abstrakte Redeweise in der Gefahr, Verantwortungen zu verschleiern: In der Psalmensprache würde nicht „der Klimawandel“ beklagt, sondern die Profiteure benannt und gegen jene, die ihren rücksichtlosen Lebensstil als Recht ansehen, die Gerechtigkeit Gottes angerufen.
Die Konkretion schafft eine Unmittelbarkeit, mit der die Not unausweichlich wird. Allerdings stellt sie auch die Frage, wie diese Texte je die Leser:innen bzw. Beter:innen angehen – und stoßen auf Unverständnis, wenn diesen die persönliche Identifikation nicht gelingt. Dazu drei Gedanken:
- Wer Worte der Tradition für sein Gebet nutzt, muss damit rechnen, dass sie nicht auf jede individuelle Situation passen; der Gewinn der Klage ist allerdings, dass diese Worte bereit gehalten werden für jene, die ohnehin in der Gefahr stehen, zu verstummen.
- Biblische Texte sind nicht neutral. Mit der Klage ergreift die Bibel Partei, und zwar so weit, dass es Texte gibt, die „im Munde der Opfer kontextuell legitim, aber im Munde der Täter eine Gotteslästerung sind“[4].
- Klagepsalmen sind nicht nur Ausdruck privater, persönlicher Reflektion eines Zwiegesprächs mit Gott, sondern auch die Einladung, sich zu solidarisieren. Der liturgische Vollzug dieser Solidarität ist mehr als ein Gedankenspiel.
Produktive Spannung
Ein weiteres Missverständnis gegenüber der Klage ist, dass sie in der Kommunikation mit Gott eine irgendwie unangemessene Sprachform sei. Diese Position schneidet allerdings die in der Klage benannten Realitäten aus der Gottesbeziehung aus, so dass ein wichtiger Beziehungsaspekt unausgesprochen oder unaussprechbar bleibt.[5] Selbstverständlich ist Klage nicht die einzige legitime Kommunikationshaltung. In den Psalmen bildet das Lob die Rückseite der Klage.
Anders als Klage ist Lob als Kommunikationsform in der Gottesbeziehung unhinterfragt – das katholische Gebets- und Gesangbuch trägt den Namen nicht zufällig. Doch die Vorstellung, Leben oder Beziehung könnte sich im Modus des Lobes erschöpfen, ist absurd. Wird dies als einzige „angemessene“ Haltung in der Gottesbeziehung begriffen, wird keine:r der Beteiligten ernstgenommen. Lob und Klage stehen nicht in Widerspruch zueinander, sondern bedingen sich: Nur wenn auch die Klage möglich ist, kann das Lob aufrichtig sein.
Oder wie Jürgen Bach sagt: „Es gereicht Gott zur Ehre, dass die Klage vor Gott, ja dass auch die Anklage Gottes möglich und zuweilen, gottlob, geboten ist.“[6]
[1] Zur ganzen Frage nach wie vor aktuell: Erich Zenger, Das Erste Testament. Die jüdische Bibel und die Christen, Patmos Verlag, Düsseldorf 1991.
[2] Für den zitierten Satz kann ich keine Quelle benennen; die Ergänzung kenne ich von Pater Andreas Werner aus Gerleve. Sie beinhalten eine Herausforderung an Theolog:innen und Pastorale, die Erich Zenger mal in folgende spitze Form brachte: „Die verbreitete pastorale Pose ‚Das können wir unserer Gemeinde nicht zumuten!‘ ist erfahrungsgemäß die Parole von Kirchenleuten, die ihren Gemeinden viel zu viel zumuten – freilich nicht gerade mit anspruchsvollen Gebetstexten.“ (Erich Zenger, Fluchpsalmen verstehen (Auslegung in zwei Bänden, Teil 4) Herder Verlag, Freiburg 2011, S. 739)
[3] So konkret die Psalmen benennen, stehen doch die Benannten je wieder für eine Handlungsweise; die Kritik richtet sich demnach an Personen aller Geschlechter.
[4] Erich Zenger, Der Gott der Bibel – ein gewalttätiger Gott? in: KatBl 119 (1994) S. 694
[5] Die Haltung, dass Menschen sich gegenüber Gott eine so kritische Haltung nicht erlauben dürften, ist nicht neu, sondern wird u.a. im Buch Ijob verhandelt. Die Gottesreden (Ijob 38-41) bilden mit dem Verweis auf die Schöpfermacht (und –verantwortung) den diskursiven Gegenpart zur Klage.
[6] Jürgen Ebach, Schriftstücke. Biblische Miniaturen, Güterloher Verlagshaus, Gütersloh 2011, S. 169.
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Dr. Christina Kumpmann ist Alttestamentlerin und am Institut für Katholische Theologie der RWTH Aachen tätig.
Bild: Günther Gumhold – pixelio.de
Zum Thema auch auf feinschwarz.net:
https://www.feinschwarz.net/nur-wer-klagt-hofft/