Die Fußball-WM wirft ihre Schatten voraus. Sie wird in einem Land stattfinden, von dessen Erdgasreserven Deutschland künftig abhängig sein wird. Eva Maria Daganato über Moderne Sklaverei in Qatar.
Wenngleich das Jahr 2010 nicht das erfolgreichste für die deutsche Nationalmannschaft war, so war es dennoch ein entscheidendes Jahr – nicht nur für die globale Fußballwelt. Am 02.12.2010 wurde die Entscheidung der FIFA über den Ausrichter der Weltmeisterschaft 2022 verkündet: Qatar! 12 Jahre später, am 21. November 2022 soll angepfiffen werden – sofern die Fußball-WM nicht boykottiert wird.
Internationale Menschenrechtsorganisationen beobachten Qatar, nicht erst seit der WM-Vergabe, und decken häufig Menschenrechtsverletzungen auf, stoßen auf Moderne Sklaverei. Meinungs- und Pressefreiheit, Religionsfreiheit, Frauenrechte, das Recht auf freie sexuelle Orientierung werden stark eingeschränkt, Gefangene werden gefoltert und misshandelt, Hausangestellte ausgebeutet und sexuell missbraucht.
Keine Sklaven, never ever (Franz Beckenbauer)
Der ehemalige deutsche Fußballspieler Franz Beckenbauer machte sich daher ein, seiner Meinung nach, realistisches Bild von den Arbeitsbedingungen auf den WM-Baustellen:
„Ich habe noch nicht einen einzigen Sklaven in Katar gesehen, also die laufen alle frei rum, weder in Ketten gefesselt und auch mit irgendwelcher Büßerkappe am Kopf, also das habe ich noch nicht gesehen. […] Also, ich habe mir vom arabischen Raum […] ein anderes Bild gemacht und ich glaube, mein Bild ist realistischer.“[1]
Dies zeigt die vorherrschende Vorstellung von Sklaverei: Afrikaner:innen wurden angekettet auf Schiffen nach Amerika verschleppt und mit Peitschenhieben zur Arbeit auf Baumwollplantagen gezwungen.
Diese und weitere Bilder löst der Begriff „Sklaverei“ in den Köpfen der meisten aus. Die „Alte“ Sklaverei wurde offiziell abgeschafft: Das Ende des Amerikanischen Bürgerkrieges 1865 markierte auch das Ende der legalen Sklaverei in den Industrienationen. Als letztes Land schaffte Mauretanien im Jahr 1980 die Sklaverei ab, wodurch nun diese weltweit verboten ist.
Illegale Realitäten
Dennoch lebten laut Global Slavery Index[2] (GSI) im Jahr 2018 40,3 Millionen Menschen weltweit in Moderner Sklaverei, davon 167 000 in Deutschland. Der GSI zählt Menschenhandel zum Zweck der Arbeit, sklavereiähnliche Praxen (z.B. Schuldknechtschaft), Zwangsheirat, Verkauf oder Ausbeutung von Kindern, sowie Zwangsarbeit (Arbeit, zu der eine Person mittels Sanktionsdrohungen gezwungen wird) zu Moderner Sklaverei.
Wir sind heutzutage nicht mehr mit der Situation konfrontiert, dass ein Mensch einen anderen rechtlich zu seinem Eigentum zählt und ihn dadurch legal besitzt, jedoch üben Menschen über andere Menschen Kontrolle aus. Wenn diese Kontrolle dem Besitz gleichbedeutend ist, ist dies Sklaverei.[3] Um die Schwelle der Sklaverei zu erreichen, muss die Kontrolle überwältigend sein: Einer Person wird die Handlungsfähigkeit genommen, die persönliche Freiheit wird ihr entzogen. In die Sklaverei gezwungen zu werden, bedeutet die Kontrolle über sich selbst, über den eigenen Körper zu verlieren. Moderne Sklaverei ist durch Brutalität und Grausamkeit gekennzeichnet: Menschen werden durch Gewalt kontrolliert, besitzen keinerlei Freiheiten, ihnen wird der freie Wille genommen, vorangetrieben und geprägt durch wirtschaftliche Ausbeutung. Moderne Sklaverei bildet den Endpunkt einer schrecklichen Skala der menschlichen Ausbeutung.
Sklaverei bedeutet, die Kontrolle über sich selbst, über den eigenen Körper zu verlieren
„Moderne“ kennzeichnet eine neue Ära der Sklaverei, die sich der Illegalität anpasste; neue Formen entstehen, doch die Strukturen bleiben gleich. Sklaverei ist ein unverändert lukratives Geschäft, mit dem aktuellen Unterschied, dass einzelne Sklav:innen so billig und austauschbar sind wie nie zuvor.[4] Der Großteil von Sklavereien konzentriert sich auf Rohstoffgewinnung, einfache Verarbeitungsschritte oder Dienstleistungen. Wieviel sie ihrem Körper zumuten können, können Sklav:innen nicht selbst entscheiden, und so müssen viele an die Grenze des Machbaren gehen.
Tote auf WM-Baustellen
Unter genau solchen Umständen wurden bereits sechs der acht geplanten, voll klimatisierten Fußballstadien von 30-40 000 Arbeitsmigrant:innen in Qatar gebaut. Internationale Menschenrechtsorganisationen prangern seit Jahren die verheerenden Arbeitsbedingungen, den mangelnden Arbeitsschutz und die unmenschlichen Unterkünfte an: Löhne fallen geringer aus als vereinbart oder werden gar nicht ausbezahlt, die Unterbringung erfolgt in überfüllten Räumen mit geringer Ausstattung. Bei bis zu 50 Grad im Schatten ist die körperliche Belastung der Arbeit mit nur wenig Pausen unzumutbar.[5] Seit der WM-Vergabe sollen laut der britischen Zeitung „Guardian“ mindestens 6 500 Arbeitsmigrant:innen gestorben sein.[6]
Die qatarische Regierung beschloss im Jahr 2018 einige Reformen. Amnesty International deckte 2021 jedoch auf, dass diese nur sporadisch oder gar nicht umgesetzt wurden[7]: Das Kafala-System wurde theoretisch abgeschafft und ein Mindestlohn eingeführt. In der Praxis besteht das Kafala-System weiterhin, folglich besteht für Arbeiter:innen keine Möglichkeit, den Job frei zu wechseln. Denn dafür benötigen Arbeiter:innen eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“. Diese wird vom:von der aktuellen Arbeitgeber:in ausgestellt, somit muss diese:r einem Stellenwechsel zustimmen. Darauf wird bereits in Stellenanzeigen als formale Anforderung hingewiesen. Arbeiter:innen bezahlen für die Ausstellung eines solchen Dokuments zum Teil das 5-15fache eines Monatsgehalts an ihre:n aktuelle:n Arbeitgeber:in.
Nach wie vor werden Löhne zu spät oder gar nicht ausbezahlt. Da die Pässe und persönliche Dokumente bereits nach der Ankunft im Land abgenommen werden, können sie nicht mehr nach Hause zurück. Dafür würde ihnen auch das Geld fehlen. So nehmen sie aufgrund von Hoffnungslosigkeit und Perspektivenlosigkeit ihr Schicksal hin.
Menschenrechtsverletzungen in Qatar
Dies sind mehr als genug Gründe, die gegen eine WM-Vergabe sprachen, und es ist nicht verwunderlich, dass viele über die Entscheidung der FIFA schockiert waren und Konsequenzen fordern. Potenzielle Austragungsländer müssen vor der Vergabe sportlicher, aber auch kultureller Großveranstaltungen auf die Einhaltung der Menschenrechte hin überprüft werden. Länder, die diese nicht einhalten, sollten keine Chance haben Gastgeber zu sein. Blickt man auf vergangene WM zurück, hätten wohl einige Länder einer Prüfung kaum standhalten können.
#boycottqatar2022
#boycottqatar2022 ist die wohl bekannteste deutsche Protestaktion, die sich gegen die Ausrichtung der WM in Qatar richtet. Die Initiative fordert nicht nur dazu auf, die WM nicht anzuschauen, sondern seinen Ärger auch durch Aktionen wie Turniere und Gegenveranstaltungen sichtbar zu machen. Durch das Ausbleiben spektakulärer Public Viewing Veranstaltungen und hoher TV-Zuschauerzahlen kann Druck auf die FIFA ausgeübt werden.
Allerdings gibt es auch die Befürchtung, dass ein Boykott nicht der richtige Weg sein könnte. Amnesty International beobachtete in den letzten Jahren Verbesserungen im Arbeitsrecht und der Unterbringung, wenn auch nur kleine. Es wird befürchtet, dass die qatarische Regierung durch den Verlust der WM jegliches Interesse an Veränderungen verlieren und bestehende Reformen rückgängig machen könnte. Die Menschen in Qatar, die unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten, hoffen auf internationale Solidarität und Aufmerksamkeit. Wirkungsvoll und laut muss auf weitere Verbesserungen gedrängt werden.
Um eine Absage der WM zu erreichen, müssten sich wohl mehrere bereits qualifizierte Nationalmannschaften gegen ihre Teilnahme entscheiden. Die deutsche Nationalmannschaft rühmt sich jedoch lediglich mit netter Symbolpolitik und lässt sich mit dem Schriftzug „humanrights“ auf ihren Trikots abbilden. Unter welchen Arbeitsbedingungen diese jedoch produziert wurden, steht auf einem anderen Blatt.
Arbeitsinspektionen durchführen, Arbeitsgerichte ausweiten, Gewerkschaften gründen
In diesem Jahr stellen wir uns wohl immer wieder die Frage, wie mit sportlichen Großveranstaltungen in Ländern, die die Menschenrechte verletzten, umgegangen werden sollte. Amnesty International fordert die qatarische Regierung zum Handeln auf: Es müssen Arbeitsinspektionen durchgeführt werden, um Verstöße gegen das Arbeitsrecht aufzudecken, nachzuverfolgen und zu ahnden. Hierfür müssen Arbeitsgerichte ausgeweitet werden. Zusätzlich muss es gestattet und möglich sein, Gewerkschaften zu gründen, sodass sich Arbeiter:innen organisieren und geschlossen für ihre Rechte eintreten können. Dies sind nur einige der Missstände und der Forderungen, an deren Umsetzung sich messen lässt, ob und inwieweit es Qatar mit den Reformen ernst meint.
Menschenrechtsverletzungen sind für Millionen von Menschen allgegenwärtig. Sklaverei gehört nicht der Vergangenheit an. Die WM-Baustellen in Qatar sind nur ein Beispiel unter vielen. Moderne Sklaverei findet oftmals im Verborgenen statt und betrifft uns bereits am Frühstückstisch. Um Moderne Sklaverei bekämpfen zu können, muss diese zunächst sichtbar gemacht und das Wissen darüber verbreitet werden. Es müssen Systeme und Strukturen betrachtet und Zusammenhänge verstanden werden, um so an den richtigen Schrauben zu drehen.
___________
Text: Eva Maria Daganato ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Praktische Theologie (kath.) an der Universität Tübingen.
Bild: Johannes Riquartz
__________
[1] Vgl.: Zdf heute journal, 25.11.2013, https://www.youtube.com/watch?v=EKFrMmhiQpY (17.03.2022).
Online Focus. DBG-Boss greift Beckenbauer wegen Katar-Verharmlosung an, http://www.focus.de/sport/fussball/wm-2014/wm-dgb-chef-sommer-kritisiert-beckenbauer_id_3443323.html (17.03.2022).
[2] https://www.globalslaveryindex.org/
[3] Vgl.: Allain, Jean, Neubestimmung eines alten Begriffs. Sklaverei und internationales Recht, in: Sklaverei; Aus Politik und Zeitgeschichte; 65. Jahrgang, 50-51; Bonn 2015, S. 24-28.
[4] Vgl.: Bales, Kevin; Cornell, Becky, Moderne Sklaverei, Hildesheim 2008, S. 10.
[5] Vg.: Arbeitsmigrant*innen droht weiterhin Ausbeutung, https://www.amnesty.ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/katar/dok/2021/noch-ein-jahr-bis-zur-fussball-wm-arbeitsmigrant-innen-droht-weiterhin-ausbeutung (17.03.2022).
[6] Revealed: 6,500 migrant workers have died in Qatar since World Cup awarded, https://www.theguardian.com/global-development/2021/feb/23/revealed-migrant-worker-deaths-qatar-fifa-world-cup-2022 (17.03.2022).
[7] Amnesty International, Reality Check 2021. A year to the 2022 world cup. The state of migrant workers´rights in Qatar, https://www.amnesty.ch/de/laender/naher-osten-nordafrika/katar/dok/2021/noch-ein-jahr-bis-zur-fussball-wm-arbeitsmigrant-innen-droht-weiterhin-ausbeutung/reality-check-2021-a-year-to-the-2022-world-cup.pdf (17.03.2022).