Am 24. August 1943 starb Simone Weil. Zum 80. Todestag führt Thomas Sojer, Mitbegründer des „Simone Weil Denkkollektivs“ in Berlin, in das Denken von Simone Weil ein.
Dienstag, 24. August 1943. Der alliierte Luftkrieg ist in vollem Gange. In Osteuropa läuft die sowjetische Sommeroffensive. Und eine Frau wünscht sich nichts sehnlicher als selbst an der Front zu stehen. Nicht als Soldatin, sondern als Frontkrankenschwester. Dafür kämpft sie seit Kriegsbeginn und schafft es sogar, dass Charles de Gaulle sich persönlich mit ihren Plänen zur medizinischen Versorgung befasst. De Gaulle lehnt sofort ab, angeblich mit den Worten: „Mais elle est folle!“ (Aber sie ist doch verrückt!)
Als Todesursache wird bei ihr Herzversagen festgestellt, bedingt durch massive Unterernährung.
Heute vor 80. Jahren stirbt Simone Weil im Alter von 34 Jahren. Nicht an der Front, nicht im Einsatz für Verwundete und bei der Begleitung Sterbender, sondern in einem gutbürgerlichen Krankenhaus in der englischen Grafschaft Kent. Eine letzte Demütigung für die stolze Parisienne, die vor der Gestapo nach Afrika und in die USA geflohen war, bevor sie über Großbritannien wieder nach Frankreich zurückkehren wollte. Als Todesursache wird bei ihr Herzversagen festgestellt, bedingt durch massive Unterernährung. Beinahe eintausend Publikationen befassen sich seitdem mit der Frage, was Simone Weil dazu motiviert hat, ihr Leben auf diese Weise und zu diesem Zeitpunkt zu beenden. War es Selbstmord? Ein religiöses Sühneopfer? Eine psychische Erkrankung? Ein politisches Zeugnis bedingungsloser Solidarität? Ein Versehen?
Heute wird eine der beiden Anorektikerin genannt, der andere ein Held.
Mariana Alessandri macht 2019 mit ihrer Glosse in der New York Times einen bemerkenswerten Vergleich: Den amerikanischen Gewerkschafter César Chávez (1927–1993) und Simone Weil (1909–1943) verbindet, dass beide ihre Körper aus politischen und spirituellen Überzeugungen bis an die Grenze des Todes hungerten. Heute wird eine der beiden Anorektikerin genannt, der andere ein Held. Chávez hat überlebt, Weil ist am Hunger gestorben. 1
öffentlichkeitswirksame Umprägung, weg von der linksradikalen Provokateurin hin zur Heiligen.
Das Bild der fanatischen Anorektikerin passt auch ins Motiv der Mystikerin. Eine konservativ-katholische Gruppe rund um Weils Freund Gustave Thibon beginnt kurz nach ihrem Tod eine öffentlichkeitswirksame Umprägung, weg von der linksradikalen Provokateurin hin zur Heiligen. Indes streiten sich die Granden der Nouvelle théologie darum, ob Weils Denken mit dem Katholizismus überhaupt in Einklang zu bringen sei. 2 Es werden Beweise vorgelegt, dass Weil noch am Totenbett von einer katholischen Freundin die Nottaufe empfing.
1947 stellt Thibon aus ihren privaten Notizen die viel gefeierte Aphorismensammlung „Schwerkraft und Gnade“ zusammen, arbeitet aber mit Blick auf Weils jüdische Abstammung stark tendenziös. Das posthume Debutwerk zeichnet fragmentarisch die Umrisse einer sturen, katholisch glaubenden Französin, die sich nicht taufen lassen will und die jüdische Religion verachtet. Im Nachkriegsfrankreich schafft es Simone Weil damit zum religiösen Star. Sie findet Verehrer bis in die höchsten Kreise des Vatikans. Zum Beispiel bittet der Nuntius von Paris, Angelo Roncalli, der spätere Johannes XXIII., Weils Eltern darum, im Zimmer ihrer Tochter beten zu dürfen. Teile von Weils privaten Aufzeichnungen werden von katholischen Freunden im Original an Paul VI. gesendet, der sie dankend entgegennimmt. Die Texte ruhen bis heute im Vatikanischen Apostolischen Archiv.
In den 1950er Jahren relativiert Albert Camus, der bei Gallimard Paris die „Collection Espoir“ herausgibt, das Image der katholischen Mystikerin und verlegt schwerpunktmäßig ihre politischen, poetischen und dramatischen Werke. Mit der internationalen Rezeption und den laufenden Erstveröffentlichungen aus Weils privatem Schriftennachlass bilden sich bald widersprüchliche und streitende Lager. Einmal erscheint am Cover einer Übersetzung eine Simone Weil in Uniform und mit Gewehr im Arm, eine Soldatin im Spanischen Bürgerkrieg. Dergestalte Bildsprache markiert in der Regel die linkspolitischen und syndikalistischen Schriften. Ein anderes Mal ziert ein unschuldiges 14-jähriges Mädchen den Buchdeckel. Meist befinden sich hinter letzterem Sujet Weils spirituelle Texte.
Sie war Mittelschullehrerin für Mädchen und mit Haut und Haaren Pädagogin.
Nicht selten klingt mit dem Namen Simone Weil ein Stereotyp einer zerrissenen, selbstzerstörerischen Persönlichkeit mit: Problemmensch, Einzelgängerin, Anorektikerin, Narzisstin, Schmerzensfrau. Eine Simone Weil, die täglich bis in die frühen Morgenstunden in Pariser, Marseiller und New Yorker Cafés die politischen Debatten aufheizte, wohl auch nicht immer nur wenig Alkohol trank, offenkundig und leidenschaftlich Kettenraucherin war, wahrscheinlich – wie sie selbst andeutet – manchmal wild tanzte und nicht zuletzt immer wieder in heftige Liebesaffären verstrickt war, passt schwer ins populär gewordene Bild der schmerzerfüllten Asketin. Ebenso wenig bekannt ist eine Simone Weil, die es nie lange ohne Menschen um sich herum aushalten konnte, Freundschaft für das mit Abstand Allerwichtigste im Leben hielt und von ihren Zeitgenoss:innen als völlig verrückte und liebenswürdige Querulantin erinnert wird. Auch Weils tatsächlicher Beruf wird in der Regel verschwiegen oder nur als Randnotiz erwähnt: Sie war Mittelschullehrerin für Mädchen und mit Haut und Haaren Pädagogin, wurde ständig strafversetzt und galt als unfähig, sich an einen Lehrplan zu halten.
„Wichtigster Teil des Unterrichts = lehren, was erkennen (im wissenschaftlichen Sinn) ist. Nurses.“
Ihre Denktagebücher, die 18-bändigen Cahiers, beginnt die Lehrerin mit dem Wort ‚pédagogie :‘ und setzt dann hinter diesem Doppelpunkt an mit einem welterschütternden philosophischen Œuvre, das nichts, was bis dahin in der abendländischen Ideengeschichte als ‚Denken‘ galt, so stehen lässt. Die letzten, vielleicht heute vor 80 Jahren, von ihr niedergeschriebenen Worte lauten schließlich: „Wichtigster Teil des Unterrichts = lehren, was erkennen (im wissenschaftlichen Sinn) ist. Nurses.“ 3 Es ist der pädagogische Eros dieser jungen Lehrerin, der verhinderten Frontkrankenschwester, und wild tanzenden Parisienne, der sie dazu antreibt, zwischen den Fabriksmaschinen in bildungsfernen Arbeiterinnen das Feuer für Poesie zu wecken, auf Fischkuttern oder im Weinberg arbeitenden Händen das Schreiben beizubringen.
Unbedingte Verantwortung, sich in den Dienst dieser Schule der Aufmerksamkeit zu stellen.
So erfreulich es ist, dass Simone Weil heute regelmäßig unter den „großen Namen“ der Gegenwartsphilosophie rangiert und damit international als wichtige Denkerin wahrgenommen wird, so sehr verschleiert die Etikette ‚Philosophin‘ die außerordentliche Bedeutung ihres Lehrerinnenberufs. Eigentlich wollte sie wie ihr Bruder André Weil Mathematikerin werden, machte als Jugendliche aber die bittere Erfahrung, vor verschlossenen Türen zu stehen, während ihr Bruder als international renommiertes Mathe-Genie gefeiert wurde. In einer Phase tiefer Verzweiflung kam sie zur lebenslangen Überzeugung, dass doch jedes Wesen mit völlig unterschiedlichen intellektuellen und sozio-ökonomischen Voraussetzungen und mit je individueller Situiertheit von sich aus dieselbe innere Haltung einnehmen könnte, nämlich seine Aufmerksamkeit so einzusetzen, dass sich einem die Wahrheit seines Lebens ganz und restlos zeigen werden wird. Für Simone Weil kommt jeder Bildungsarbeit, im formalen und informalen Kontext, die unbedingte Verantwortung zu, sich in den Dienst dieser Schule der Aufmerksamkeit zu stellen.4 Dafür wurde Weil Lehrerin und trat für eine neue Politik der Aufmerksamkeit ein, ging auf die Straße, in die Fabrik und auf das Schlachtfeld.
Glaube verlernt sich so im Atheismus und findet dahinter eine neue Tiefe jenseits aller Dualismen.
In ähnlicher Weise lassen sich Weils Gebrauch und Einsatz vermeintlich theologischer oder religiöser Begriffe, Konzepte und Sprachwelten in ihren privaten Notizen und persönlichen Briefen neu lesen, wenn darin der pulsierende pädagogische Eros erkannt und ernstgenommen wird. Heruntergebrochen auf eine einzige kurze Formel könnte Weils eigene allmähliche und sorgfältige Hinwendung zu religiösen Körperübungen und heiligen Texten als eine individuelle Lernerfahrung der Aufmerksamkeit beschrieben werden. Ausschlaggebend ist, dass es Simone Weil nicht um das intellektuelle Durchdringen oder die Vertiefung religiöser Inhalte geht, sondern dass sie in der jahrtausendealten Auseinandersetzung mit sakralen Texten und rituellen Performatiken eine Ressource des Lernens lebendig erfährt, die sich paradoxerweise vordergründig als ein ‚Verlernen‘ des Geglaubten manifestiert. Diese Form des Lernens ‚verlernt‘, bzw. wie Weil sagt ‚ne pas lire‘ (nicht lesen), die illusorischen Sicherheiten der eigenen Subjektivität und bejaht damit die offene Verwundbarkeit, die jedem menschlichen Leben als Schwellenexistenz zwischen Himmel und Erde eignet. Die Pädagogik des sich voreinander radikal Entblößens ist für Simone Weil die Voraussetzung für den alles entscheidenden Kontakt mit der Wahrheit des je eigenen Lebens: Glaube verlernt sich so im Atheismus und findet dahinter eine neue Tiefe jenseits aller Dualismen, so auch Glückseligkeit im extremen Schmerz, Schönheit in der äußersten Entstellung. So verlangt die wild tanzende Parisienne schließlich auch vom Leben selbst, sich zu ‚verlernen‘, um im Sterben anders zu leben:
„Ich mag sterben, das Universum dauert fort. Das ist kein Trost für mich, wenn ich etwas anderes bin als das Universum. Ist jedoch das Universum meiner Seele wie ein anderer Leib, dann hört mein Tod auf, für mich von größerer Bedeutung zu sein als der eines Unbekannten. Ebenso meine Leiden. – Simone Weil“ 5
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Autor: Thomas Sojer lebt in Hohenems (Vorarlberg) und arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Katholisch-Theologischen Fakultät Erfurt. 2019 gründete er zusammen mit Max Walther (Bauhaus Uni Weimar) und Martina Bengert (HU Berlin) das Simone Weil Denkkollektiv mit Sitz in Berlin. Das Denkkollektiv widmet sich der transdisziplinären und künstlerischen Vermittlung von Simone Weils Denken: www.simoneweil-denkkollektiv.de
Beitragsbild: (c) Simone Weil Denkkollektiv
- Mariana Alessandri, The Gender Politics of Fasting, The New York Times (14. 1. 2019): https://www.nytimes.com/2019/01/14/opinion/fasting-gender-politics.html ↩
- Joseph-Marie Perrin (Hg.) Réponses aux questions de Simone Weil. Aubier 1964. ↩
- Simone Weil: Cahiers: Aufzeichnungen. Band 4. Übersetzt und kommentiert von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Hanser 1998, 353. ↩
- Elisabeth Pernkopf, Warten können. ↩
- Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, hg. u. komm. v. Charlotte Bohn, Matthes & Seitz 2021, 153. ↩