Gedanken zum 80. Geburtstag von Papst Bergoglio. Von Kurt Appel.
Üblicherweise bezeichnet der 80. Geburtstag in der Katholischen Kirche das Datum, an dem Kardinäle ihr Papstwahlrecht verlieren und auch die – aus Sicht Roms – verdienstvollsten Bischöfe endgültig ihr Amt abgeben, das übliche Rücktrittsalter von 75 um fünf Jahre überschreitend. Bei Bergoglio erinnert nichts an dieses Ablaufdatum. Er steckt voller Energie und wirkt geistig viel jünger und offener als die meisten Bischöfe, Priester und Politiker, eingeschlossen auch jene, die biologisch um Jahrzehnte jünger sind als er. Deshalb hoffen viele, dass dieser Papst, der so unerwartet von weit her gekommen ist, noch einige Jahre an der Spitze der Katholischen Kirche bleibt. Eine kleine, aber einflussreiche Minderheit dagegen wünschte sich, dass dieser Papst den 80. Geburtstag zum Anlass nähme, um sein Amt niederzulegen.
… die einzige globale moralische Instanz unserer Zeit
Papst Franz – im Weiteren Franziskus genannt, dem pompösen sakralisierenden Sprachgebrauch des deutschsprachigen Katholizismus folgend – wird von vielen Gläubigen geliebt, nicht wenige sehen in ihm fast einen Heilsbringer. Viele Intellektuelle, christliche Würdenträger, Religionsvertreter, aber auch Agnostiker und Atheisten schätzen ihn, und man kann die Auffassung vertreten, dass er die einzige globale moralische Instanz unserer Zeit darstellt. Innerhalb der Kirche konnte er auch viele konservative Bischöfe und Priester für sich gewinnen, nicht wenige aus dieser Gruppe stehen ihm aber weiterhin sehr skeptisch gegenüber, manche halten ihn für einen Häretiker.
Die Katholische Kirche, in ihrer Geschichte marketingerprobt, neigt seit einiger Zeit dazu, ihre Päpste mit einem eingängigen Attribut zu belegen. Papst Johannes XXIII. war „Il Papa buono“, Johannes Paul II. der „Papst der Neuevangelisierung“, Benedikt XVI. der „Papst der Wahrheit“. Nur bei Paul VI., jenem großen und schüchternen Intellektuellen, der so gar nicht zu Vermarktungsstrategien passte, entglitt der kirchlichen PR diese Bemühung, und er wurde zum „Papst der Pille“.
Papst Franziskus wird mit dem Titel „Papst der Barmherzigkeit“ belegt. Diese Zuschreibung wird seinem Pontifikat gerecht, und päpstliche Schreiben, Katechesen und Homilien weisen darauf hin, dass sich der Papst selber als Zeuge der Barmherzigkeit Gottes versteht. Der Aufbruch, der mit der bewussten Hinwendung zu diesem zentralen Gottesnamen (Ex 34,6f.) der Bibel verbunden ist, liegt nicht nur in seinem enormen ökumenischen Potential – man denke an das muslimische Bekenntnis zum barmherzigen Gott –, sondern auch in einer Erneuerung der symbolischen Ordnungen der Katholischen Kirche. Die symbolischen Ordnungen einer Gemeinschaft bezeichnen deren sprachliche, kulturelle, ästhetische, ethische, affektive und erkenntnismäßige Ausprägungen.
Seit dem Barock entwarf sich die katholische Welt als schöner, bis ins Letzte geordneter, durch mannigfaltige Hierarchien abgesicherter Kosmos.
Die Katholische Kirche ist spätestens seit der Gegenreformation und dem damit verbundenen Barock durch ein gewaltiges ästhetisches Programm ausgezeichnet. Sie bringt darin gewissermaßen den himmlischen Palast auf Erden herab. Dabei stellt sich die katholische Welt als schöner, feingegliederter und bis ins Letzte geordneter, durch mannigfaltige Hierarchien abgesicherter Kosmos dar. Von den drei Klassen der Kardinäle über die liturgische Kleidung der Priester bis hin zu den im Katechismus festgelegten Regeln katholischer Sexualmoral und der Hierarchie von Wahrheiten reicht diese Ordnung, in der jeder Mensch seinen spezifischen Ort hat.
Das Problem dabei war, dass sich diese Ordnung in der Moderne als zunehmend brüchig erfuhr. Selbstbestimmungsrecht und Individualismus, Emanzipation aus traditionellen politischen und familiären Strukturen, der Legitimationsverlust sogenannter „gottgewollter“ Hierarchien und eine enorme Sensibilisierung für das Gewaltpotential umfassender Ordnungs- und Disziplinierungssysteme begannen der Kirche immer mehr zuzusetzen.
Papst Johannes Paul II. und Benedikt XVI. verstanden unter „Neuevangelisierung“ vor allem eine Rückkehr zur Kirche als universalem und identitätsstiftendem Ordnungssystem – mit besonderer Ausrichtung auf die Verteidigung universaler Menschenwürde –, wobei besonders dem Klerus als Mittler von Mensch und Gott eine Führungsrolle zukommen sollte. Das Problem bestand aber darin, dass in den neuen Megacities und kulturellen Realitäten der all die Jahrhunderte aufgebaute Ordo immer weniger gesellschaftliche Basis hatte. Ihrer traditionellen kulturellen Basis beraubt, wurde die Kirche zunehmend medialisiert und virtualisiert.
Die katholische Kirche wurde selber immer mehr zum Ausdruck der postmodernen globalen Gesellschaft: fern von konkreter Geschichte und ihren Verletzungen, fern von konkreter Hoffnung und ihren Mühen.
Ihre identitätsstiftenden Traditionen wurden in typisch postmoderner Weise zunehmend inhalts- und geschichtslose „Trademarks“ und der junge Klerus vielfach zerrieben zwischen der Rolle als Hüter einer fiktionalen unberührbaren Ordnung und den fragilen Welten vor Ort. Paradoxerweise wurde damit die Kirche, die postmodernen Identitätsverlust und Nihilismus bekämpfen wollte, selber immer mehr zum Ausdruck der postmodernen globalen Gesellschaft: fern von konkreter Geschichte und ihren Verletzungen, fern von konkreter Hoffnung und ihren Mühen.
Das Besondere an Papst Franziskus besteht darin, dass er es vermocht hat – sich in ganz bewusster Weise auf den Konzilspapstes Paul VI. beziehend –, den symbolischen Ordnungen der Kirche neuen Sinn zu geben. Unter dem Leitthema der Barmherzigkeit stellt er die gesamte symbolische Welt des Katholizismus in den Dienst der Wahrnehmung von Verletzbarkeit und den daraus sich ergebenden Heilungspotentialen. Der postmoderne Mensch ist fragil, weil viele der traditionellen Schutzmechanismen (Familie, Metaphysik, Kirche etc.) außer Kraft gesetzt wurden, und er antwortet auf diese Fragilität entweder in der beständigen Virtualisierung von verletzter Welt oder – und dies ist der Weg von Bergoglio – im Eingestehen der Verletzbarkeit als erstem und entscheidendem Schritt eines solidarischen und barmherzigen Mitseins.
Mitempfinden und Mittragen von Verletzbarkeit
Wenn also unlängst Kardinäle und Bischöfe gegenüber der Kritik von vier Kardinälen (Meisner, Burke, Cafarra und Brandmüller[1]) auf die Kontinuität der Lehre von Johannes Paul II. und Franziskus hingewiesen haben, so ist dies wohl wahr, aber nicht ganz. Denn Bergoglio ändert zwar nichts an der traditionellen Lehre, allerdings stellt er diese radikal in den Dienst einer „barmherzigen“ Sicht (Aisthesis), d.h. eines Mitempfindens und Mittragens von Verletzbarkeit, womit die klassische Ordnung der barocken Kirche gewissermaßen „aufgehoben“ (im Hegelschen Sinne von bewahren, außer Kraft setzen, auf eine höhere Stufe heben) wird.
Gerade im permanenten Ringen um eine Konkretion des Blickes auf die Not des Anderen durchbricht Bergoglio wenigstens momenthaft auch die Medialisierung des Papsttums. Man kann daher zumindest zeitweise die Vermutung hegen, dass es diesen Papst wirklich gibt. Der Blick auf das Konkrete leitet auch eine radikale theologische Wende ein, die bereits in den wichtigsten Schriften von Paul VI. (Populorum progressio (1967), Evangelii nuntiandi (1975)) zum Ausdruck gekommen ist. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie Theologie wie in den ersten Jahrhunderten in den Dienst einer spezifischen Weise der Gesellschaftsanalyse stellt.
Gott als wirklichkeitseröffnendes Moment in der heutigen Welt
In seinen drei großen Dokumenten (Evangelii gaudium, Laudato si’, Amoris laetitia) vermag Papst Franziskus auch einer laikalen (und nichtchristlichen) Welt den Mehrwert theologischer Analysen zu vermitteln und somit Gott als wirklichkeitseröffnendes Moment der heutigen Welt zu bezeugen. Die Theologie kreist auf diese Weise nicht manisch um sich selber, sondern spürt konkreten Fragen ihrer Zeit nach, in denen sich – christlich gesehen – der Kyrios selber inkarniert. In diesem Sinne ist Bergoglio nicht zuletzt der Papst, der der Frage wieder einen entscheidenden Raum in der Kirche gibt.
Der für viele wie ein Wunder wirkende Aufbruch, den Franziskus verkörpert, darf allerdings nicht über Gefährdungen hinwegsehen lassen, denen sein Pontifikat ausgesetzt ist. Dessen Leitwort „Barmherzigkeit“ verweist auf das Zentrum der biblischen Botschaft, aber es könnte ähnlich dem Gedanken der Liebe der Beliebigkeit anheimfallen, nämlich dann, wenn „Barmherzigkeit“ für alles und jedes steht und selbst der gnadenloseste Prälat und Christ sich damit zu schmücken beginnt. Erste Tendenzen in diese Richtung lassen sich feststellen. Dazu ist der Ausdruck „Barmherzigkeit“ nicht frei von Doppeldeutigkeit. Denn so, wie er einerseits das Geheimnis göttlichen Mitseins bezeichnet, kann er andererseits in der Sphäre menschlichen Miteinanders leicht paternalistisch missbraucht werden. Gerade im Bereich öffentlicher Institutionen wird man nicht auf die Barmherzigkeit von Obrigkeiten setzen, sondern Rechtsansprüche geltend machen wollen.
Für eine glaubwürdige Inkarnation des Evangeliums barmherziger Liebe benötigt die Kirche neue Formen der Institutionalisierung. Sie steht vor der Tatsache, dass in Europa, aber auch zunehmend in Amerika eine Generation an Jugendlichen völlig ohne Bezug zu traditionellen religiösen Ausdrucksformen heranwächst, was wohl mit ein Grund sein mag, dass der Jugend die nächste Bischofssynode gewidmet ist. Dazu kommt, dass es auch immer weniger reale Orte gibt, an denen Kirche gelebt werden kann. Denn der Träger des kirchlichen Netzes, der Klerus, auf dessen Förderung die letzten beiden Päpste soviel Kraft gesetzt haben, ist weder quantitativ noch qualitativ in der Lage, die Kirche der Zukunft (alleine) zu leiten. Die Laien allerdings zählen nach wie vor in der Regel nichts und bleiben strukturell auf den guten Willen des jeweiligen Bischofs oder Priesters angewiesen.
Notwendig: neue Formen der Institutionalisierung
Die Kirche wird also mit Blick auf die göttliche Barmherzigkeit eine geistige Erneuerung benötigen, die sich daran misst, ob die Armen, an den Rand Gedrängten und Verletzten in ihr Wohnstatt haben. Dabei hat sie auch ihre Strukturen mit Blick auf diese Aufgabe radikal zu reformieren. Andernfalls wird sie für Jahrzehnte in völlige Belanglosigkeit verfallen. Vielleicht ist das Pontifikat von Bergoglio die letzte Gelegenheit für eine diesbezügliche Neuausrichtung.
[1] Mit dieser Reihenfolge soll ein wenig die reale Bedeutung der einzelnen Kardinäle angezeigt sein.
Kurt Appel ist Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Bild: Kongressfolder „Papst Franziskus und die Revolution der zärtlichen Liebe“, Universität Wien, im Oktober 2015