Samet Er gehörte zu den ersten 30 Studenten der islamischen Theologie an der Universität Tübingen. Heute arbeitet er als Theologe in den niedersächsischen Justizvollzugsanstalten und ist Koordinator des Imamweiterbildungsprojekts am Institut für islamische Theologie an der Universität Osnabrück. Katharina Penits hat ihn interviewt.
Samet Er, 27 Jahre alt, geboren in Kirchheim unter Teck, hat sich von der Hauptschule (2005) über die mittlere Reife (2007) bis zum Abitur (2010) hochgearbeitet. Seine eigene Schulerfahrung und das anschließende Freiwillige Soziale Jahr beim Roten Kreuz haben ihn dazu bewegt, sich bereits neben dem Studium der islamischen Theologie sozial zu engagieren. Seit mehr als zwei Jahren ist er im Projekt „Dialog macht Schule“ ehrenamtlich als Schulkoordinator aktiv und seit fünf Jahren organisiert er im Kontext des interreligiösen Dialogs Koran-Bibel-Lernkreise. Er schreibt für die Zeitschrift „Die Fontäne“ und ist Botschafter des „House of One“ für das Bundesland Niedersachsen.
Penits: Wie wird man muslimischer Gefängnisseelsorger?
Er: Noch ist es so, dass Imame eine Weiterbildungsmaßnahme absolvieren müssen. In einigen Jahren jedoch wird es Lehrgänge geben, in denen Theologinnen und Theologen Zusatzleistungen erbringen müssen, um Gefängnisseelsorgerinnen und -seelsorger zu werden, wie wie wir es im christlichen Bereich auch haben.
Penits: Wo sehen Sie die Chancen und Herausforderungen?
Er: Es handelt sich um ein neues Phänomen in Deutschland. Es ist eine große Herausforderung, zu den ersten Gefängnisseelsorgern zu gehören. Es kann viel falsch gemacht, aber auch viel dazu gelernt werden. Darin sehe ich gute Chancen.
Penits: Wie verstehen Sie sich in Ihrer Rolle?
Er: Ich werde sehr oft über theologische Themen gefragt. Es gibt auch Gefangene, die sehr viel Wissen über den Koran haben, so dass ich Beispiele aus dem Koran und aus der Sunna, also aus den beiden Hauptquellen des Islams, geben muss. Daher verstehe ich mich als Theologe.
Penits: Gibt es einen Austausch zwischen den Gefängnisseelsorgern und Seelsorgerinnen der verschiedenen Religionen ?
Er: Ja, vor allem heutzutage, wo die muslimische Gefängnisseelsorgearbeit noch im Aufbau ist. Es gibt sowohl in den Justizvollzugsanstalten, als auch außerhalb, also im Rahmen von Seminaren und Veranstaltungen, rege Austausche.
Penits: Was sind Ihre Aufgaben?
Er: Der Mensch steht im Mittelpunkt, ganz gleich welche Straftat er begangen hat. Sein Anliegen und seine Bedürfnisse bestimmen den Inhalt und den Verlauf des Gesprächs. Gefangene wollen nicht auf ihre Straftat reduziert, sondern als Menschen mit individuellen Stärken und Schwächen wahrgenommen werden. In der Praxis heißt dies, dass, obwohl es sich um eine muslimische Gefängnisseelsorge handelt, nicht nur religiöse Fragen oder Bedürfnisse vorhanden sind, sondern auch allgemeine psychologische und pädagogische Beratung gefragt ist. Nach Außen werden grob drei Aufgabenbereiche eines Gefängnisseelsorgers unterschieden: Einzelgespräche, Gruppengespräche und der Gottesdienst. Ähnlich wie ein Imam in der Moschee, sind auch Gefängnisseelsorger nicht nur Seelsorger, sondern auch Erziehungshelfer, Pädagogen, Psychologen, Religionslehrer, Sozialarbeiter, Eheberater, Integrationslotsen oder Präventionsarbeiter.“
Penits: Für wen und welche Gefängnisse sind Sie zuständig?
Er: Ich bin ausschließlich für muslimische Gefangene zuständig. In der Regel werde ich dort gebraucht, wo es Bedarf gibt. Also derzeit überall.
Penits: Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?
Er: Derzeit bin ich die meiste Zeit unterwegs. Ich fahre von einer Justizvollzugsanstalt in die andere. Wenn ich aber dann ankomme, treffe ich mich sofort mit einigen Gefangenen, je nach Bedarf auch Einzelgespräche. Ich spreche mit den Gefangenen so lange, bis sie sich von mir verabschieden. Zuvor beende ich das Gespräch nicht. Somit möchte ich Wertschätzung zeigen.
Penits: Wie arbeiten Sie mit den Häftlingen?
Er: Die Gefangenen sehen sich als „Opfer des Systems“, was bedeutet, dass sie ein geringes Selbstwertgefühl besitzen. Daher kann ein einfaches Einzelgespräch vielleicht die beste Seelsorge sein. Zudem ist es irrelevant, was der Gesprächsstoff ist, die Anwesenheit und das einfache Zuhören reichen zumeist, da hier die Wertschätzung gegenüber dem Gefangenen besonders gezeigt wird. Sie wollen, dass ihnen aktiv zugehört wird und sie verstanden werden.
Penits: Was sind Themen, die Häftlinge bewegen und welchen Stellenwert hat die Religion ?
Er: Es handelt sich bei vielen muslimischen Gefangenen um theologische Analphabeten. Einmal traf ich mich mit einem Gefangenen zum Einzelgespräch. Mir hatte man davor erzählt, dass es sich um einen radikalen Jugendlichen handelte. Ich bereitete mich dementsprechend auf das Gespräch tagelang vor. Ich las Koranverse und Ereignisse aus dem Leben des Propheten, um im Gespräch theologisch versiert zu sein. Als ich mit dem Gespräch anfing, merkte ich nur einige Minuten später, dass sich der Gefangene gar nicht für die Religion interessierte. Er wollte mit mir über Fußball sprechen. Sie interessieren sich also kaum für die Religion. Dennoch aber spielt die Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben, es ist eine Art Restidentität, die sie beschützen.
Penits: Wie kommt es dazu, dass sich junge Menschen radikalisieren?
Er: Die Gefahr der Radikalisierung im Gefängnis ist sehr groß. Radikale Organisationen setzen hier an und versuchen das Vakuum zu füllen, welches in dieser Zeit entsteht. Es sind vor allem junge, orientierungslose Muslime, die Halt suchen. Im Laufe der Gefängnisjahre entsteht etwa Hass gegenüber Bediensteten, weil diese den Koran oder sonstige religiöse Praktiken unbewusst nicht respektieren, oder sie sich in ihrer Gedankenwelt von Richtern oder Staatsanwälten ungerecht behandelt fühlen. Dieser aufgestaute Hass wird von radikalen Gruppierungen instrumentalisiert. Daher ist es wichtig für die Seelsorgerin und den Seelsorger im Gefängnis, den Kontakt, sowohl zu den Gefangenen als auch zu den Bediensteten aufrecht zu erhalten, um damit eine Brücke zwischen den Gefangenen und Bediensteten zu schaffen. Per exemplum: Gefangene wurden als radikal bezeichnet, weil sie laut den Koran rezitierten oder sich einen Bart wachsen ließen. Dadurch sahen Bedienstete im Gefangenen einen potentiellen Terroristen. Das führte dazu, dass Gefangene sich ganz isolierten und Halt bei radikalen Gruppierungen suchten, die genau dies instrumentalisierten und eine Alternative anboten. Als Gefängnisseelsorger aber kann man als eine Brücke zwischen den Parteien dienen und damit für Aufklärung und Angstabbau sorgen.
Penits: Wie versuchen Sie radikale Muslime zu resozialisieren?
Er: Die Resozialisierung ist nicht einfach. Es ist äußerst wichtig, zum einen Vertrauen aufzubauen und zum anderen, jederzeit für den Gefangenen da zu sein. Das ist in der Tat nicht einfach, wenn man zugleich mehrere Gefangene betreuen muss. Es sind vor allem junge muslimische Gefangene, die soziale und familiäre Desintegration und Enttäuschung erfahren haben. Ich bemühe mich, das Gegenteil zu zeigen. Um ein Beispiel zu geben: Ein muslimischer Gefangener war verärgert über das Verbot der Lies-Aktion der Salafisten. Er dachte, es handelt sich hierbei um das Verbot des Korans. Ich erklärte ihm dann, dass es sich bei dem Verbot der Lies-Aktionen nicht um das Verbot des Korans generell handelt, sondern um dessen problematische Übersetzung durch Salafisten. Er war erleichtert. Ich denke, dieser Abschnitt aus meinem Dialog ist ein Beispiel für eine Resozialisierungsmaßnahme.
Penits: Gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Haftanstalten?
Er: Der einzige Unterschied zwischen den Haftanstalten ist, dass der Jugendstrafvollzug mehr soziale Aktivitäten anbietet.
Text: Katharina Penits, 24 Jahre, Studentin der kath. Theologie und Philosophie an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt a.M., lernte Samet Er im Rahmen einer christlich-muslimischen Summerschool in Albanien und Kosovo kennen.
Bild: Samet Er