Religionsunterricht muss in der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen verortet sein, muss nah dran sein an der Gegenwart und den Fragen der Menschen. Kann er damit exemplarisch sein für eine anschlussfähige Pastoral in der aufgeklärten Moderne? Silvia Hanrath zu Bedingungen und Haltungen an einem zentralen Ort der Pastoral.
Ein Sonntag im Dezember in einer Kirche im Kölner Süden. Die Kinder werden nach der Begrüßung durch den neuen Pfarrer zur Teilnahme an der Kinderkirche aufgerufen und sollen den Gemeinderaum Richtung Sakristei verlassen. Kein Kind bewegt sich, denn: Keines ist da – außer zwei jugendlichen Messdienerinnen, die beflissen die peinliche Lücke füllen und sich zügig auf die Katechetin zubewegen. Erstaunt unterbricht der Pfarrer das Verschwinden. Er murmelt zwar leise, doch durch das Mikrofon gut hörbar: „Ihr nicht, Ihr seid doch keine Kinder mehr.“ Sie gehen dennoch und ein weiteres, später eintreffendes Kind vervollständigt den Kreis.
„Nichts ist verloren, wenn man wirklich den Dialog praktiziert“ (Papst Franziskus auf dem Weltgebetstag in Assisi 2016)
Wie anders die Situation im Religionsunterricht an einem städtischen Gymnasium in Köln. In der ersten Stunde einer 10. Klasse blicke ich nach den Ferien in zwanzig gespannte Gesichter, um bald darauf zu erfahren: Daphne hatte noch nie Religionsunterricht, kommt aber aus einer religiösen Familie, ihre Konfession bot keinen Unterricht an. Hakan und Taifun waren als Muslime „nur“ in PP (Praktischer Philosophie) und sind interessiert, aber religiös nicht gebildet. Ismael geht manchmal in die Moschee, gilt deshalb unter seinen Freunden als Spezialist für den Islam. Dunya kommt trotz ihres arabischen Namens mit profunder christlich-religiöser Bildung, denn sie hat bis zur 10. Klasse eine katholische Mädchenschule im Umkreis besucht. Lilia ist Jüdin, so glaubt sie, genau wisse sie das nicht, die Eltern sprächen nicht darüber. Auch sie mit kirchlicher Schulbildung. Getauft? Wohl kaum.
Zwischen diesen sitzen die anderen, typischeren Absolventen der Sekundarstufe I an einem Gymnasium. Konstantin ist Messdiener und katholisch sozialisiert. Felix, der sich selbst als Atheist sieht, hat katholische Eltern und mitunter geht man gemeinsam in die Messe. Auch die anderen mögen dem kirchlich gemeinten engen Adressatenkreis der sogenannten Trias (katholische Schüler/innen, Lehre, Lehrperson) eher entsprechen. Evangelische Schüler/innen sind beim Pfarrer nebenan.
Gelingensbedingungen
Nimmt man religionsdidaktische Forschungen zur Kenntnis, ist es erfreulich zu sehen, dass der Religionsunterricht einen guten Ruf hat und angenommen wird. Die Abmeldezahlen sind überschaubar und in vielen Ländern stehen Ersatzangebote bereit (Ethik-Unterricht, PP etc.). Es ist unter Kindern und Jugendlichen also eine freiwillige Offenheit vorhanden, sich religiösen Fragen und Antworten zu nähern; ihre Suchbewegungen in einer pluralen Welt sind intensiv.
Der Religionsunterricht wird als Ermöglichungsraum erfahren: Hier wird gedacht, verhandelt, geprüft, gespürt, was tragfähig ist. Die dispers vorhandene Religiosität läuft zusammen, trifft auf einen Ort, an dem sie mit ihren Fragen ankommen dürfen. Von Perspektivenübernahme und dialogischer Erschließung sprechen treffend die deutschen Bischöfe.
Der Religionsunterricht als Ermöglichungsraum
Im Gegensatz zur Gemeindepastoral muss der Religionsunterricht anschlussfähig an die aufgeklärte Moderne sein: es agieren Lehrerinnen und Lehrer, die „normal“ sind, weil sie neben Religion andere Fächer unterrichten, und mit denen die Jugendlichen und Kinder auch sonst auskommen (müssen). Verstörende Anmutungen aus der Gemeindepastoral fehlen: unvertraute liturgische Sprache, unvertraute Räume und Rituale, Personal, das den Kindern und Jugendlichen fremd ist. Die Lehrer/innen sind nah, ihre Sprache ist die der Gegenwart, eher defensiv[1] zuhörend als missionarisch lesen und deuten sie die Zeichen der Zeit, stellen Bezüge zur Lebenswelt her. Ohne diese Fähigkeit verdorrte das Korrelationsgeschehen des Religionsunterrichts zur reinen Sachkunde über Inhalte, deren Relevanz nicht nachgefragt wird.
Dialog und eine echte Fragehaltung
Zu den Gelingensbedingungen eines solcherart verorteten, dialogischen Religionsunterrichts gehören auch Beziehung, Bindung und Haltung. Jedes Reden von Sinn und Transzendenz setzt Vertrauen voraus, das erst mit der Zeit in einem Dialog wächst, der berührt, ohne zu entblößend zu sein. Konfessionalität im besten Sinne heißt als Christ greifbar zu werden – hier offenbart sich jemand mit einem Standpunkt, seiner confessio[2] und gibt Auskunft aus einem reflektierten Glauben heraus – mit der Freiheit eines Christenmenschen auch zu eigenen Zweifeln.
Es ist herausfordernd, dies mit einer echten Fragehaltung zu tun, auf Augenhöhe miteinander zu staunen über unerwartete Antworten, sich die οἶδα οὐκ εἰδώς-Haltung des Sokrates zu eigen zu machen, bescheiden zu bleiben im Urteil darüber, was sich als tragfähig für den Einzelnen erweisen möge. „Gerade die Auseinandersetzung mit Glaube und Religion und die Frage nach der persönlichen Relevanz religiöser Zeugnisse und Überzeugungen erfordern eine Haltung unbefangenen Erkundens und Prüfens.“[3] Wenn man die Erkundung ernst nimmt, dann stellt man fest: So vielfältig wie die Schüler/innen selbst sind auch ihre Theologien, ihre religiösen Sinn-Konstrukte; sie sind Ausdruck spiritueller Bedürfnisse. Diese müssen als Basis aller weiteren Arbeit ernst genommen werden.
Perspektiven: Lernen im und aus dem Dialog
Der Religionsunterricht ist heute im Besonderen umkämpft, weil er als einer der letzten und kostbaren Orte der Pastoral anschlussfähig auch in der aufgeklärten Moderne ist und weil Pastoral dort wirkungsvoll ist, wo Menschen in besonderer Weise angefragt sind bei Fragen nach Sinn und Wert des Menschen, Leid und Hoffnung. Die Schule ist einer dieser Orte, darum will und muss Kirche dort bleiben. Die Zielperspektive solchen Bleibens muss jedoch neu und ehrlich definiert werden. Was ist ihr Interesse und ihr Auftrag? Seelsorge, Vermittlung von Glaubenswissen oder konfessionellen Kernbeständen, Förderung der religiösen Mündigkeit? Auch an der Art der Präsenz in der Schule wird sich entscheiden, ob die Kirchen mit ihrer Botschaft zur Gegenwart hinzugehören.
Offenheit für die individuellen Theologien
Wenn Kirche ihren Auftrag zur Vergegenwärtigung des Evangeliums ernst nimmt, dann könnte das unter den Bedingungen des Religionsunterrichts geschehen. Eine Haltung, die von Offenheit für die individuellen Theologien ihrer Adressaten geprägt ist, eine diskursiv-dialogische Grundstruktur, Nähe und Beziehung in vertrautem Rahmen, Menschen, die mitten in der säkularen Welt stehen und sich und ihre Antworten in innerer und äußerer Freiheit anbieten.
Verwirklicht wird dies bereits im Bereich freiwilliger schulseelsorgerischer Angebote, die ebenso gut angenommen werden wie der Religionsunterricht. Diese Akzeptanz bedeutet, dass Pastoral in der säkularisierten Gegenwart „geht“, dass Kirche „ankommt“, wenn die Adressaten im Mittelpunkt stehen und nicht in einem Nebenraum verbleiben müssen. Übrigens verantworten diese erfolgreichen Angebote in staatlichen Schulen beide Konfessionen gemeinsam.
Eine Grunderfahrung von Religionslehrer/innen ist: Im Diskurs bleiben Anfragen nach der konkreten Form gelebten Glaubens nicht aus. Dann kommen Schüler/innen einer Kirche auf die Spur, die in ihrer katholischen Ausprägung hinter den Errungenschaften einer aufgeklärten Moderne zurückbleibt – und zurück bleibt dann bisweilen: Ernüchterung. Eine Neuausrichtung tut not: offener, fragender, hinhörend, weniger im Besitz von Wahrheit sich gerierend, tastend, werbend.
Identische Gefährdungen des Dialogs für zwei Orte: Schule und Gemeinde
Dunya, Hakan und Ismael könnten zukünftig auch am Religionsunterricht ihrer Religion teilnehmen. In Nordrhein-Westfalen wird nach intensiven Diskussionen um das Konzept und die Ansprechpartner IRU (Islamischer Religionsunterricht) eingeführt. Auch haben die deutschen Bischöfe 2016 grundsätzlich die Ausweitung der Kooperation beider großen christlichen Konfessionen in gemischt-konfessionellen Lerngruppen zugelassen – eine Neuerung, die dankbar als zeitgemäß aufgenommen wurde, aber z.T. auf Widerstand in der Umsetzung stößt – mit Hinweis auf unterschiedliche Notwendigkeiten einzelner Diözesen. Die Differenzen und Diskussionen zeigen die politische Brisanz der Frage nach dem Religionsunterricht, lassen sich aber auch als Zeichen der Zeit lesen.
Konfessionalität? Mission? Interreligiöser Dialog?
Die Reaktion auf das Verschwinden einer konfessionell geprägten Schülerschaft besteht in der konfessionellen Kooperation. Es besteht aber die Gefahr einer Überbetonung des Konfessionellen[4], das als „Markenkern“ ungenau profiliert bleibt. Was der Kern der jeweiligen Konfession ist, darüber schweigen die Verlautbarungen zum Religionsunterricht nämlich, und es drängt sich die Frage auf: Ist irgendein konfessioneller Traditionsbestand dem gemeinsamen Christusbekenntnis übergeordnet?
Unter dem Eindruck der Wiederkehr der Religionen allgemein, namentlich aber des selbstbewussten Auftretens des Islam wird mancherorts wieder von Mission gesprochen. Das ist hinderlich für einen Dialog. Unbefangenes Prüfen und Erkunden wird so ad absurdum geführt. Kinder und Jugendliche haben ein feines Gespür für heimliche Einflussnahme und verweigern sich.
Zeichen der Zeit: Religiöse Vielfalt der Gegenwart
Auf die multikulturelle und -religiöse Mischung in deutschen Klassenzimmern hat man lange eher defensiv reagiert, z.B. mit dem Hinzufügen interreligiöser Perspektiven. Strukturell gerät jetzt etwas in Bewegung – zum Nutzen derjenigen, denen man bislang kein religiöses Forum zur Identitätsfindung geboten hat. Aber ist eine weitere Aufsplitterung in verschiedene Ausprägungen von Religionsunterricht nicht auch kritisch zu bedenken in einer Gesellschaft, die ohnehin um ihre Einheit kämpft und in der vom gemeinsamen mündigen Umgang mit religiösen Fragen vieles abhängt? Welcher Ort böte sich als Erprobungsort des Dialogs besser an als die Schule, ein Mikrokosmos einer pluralen Gesellschaft? Wie der interreligiöse Dialog konkret zu gestalten wäre, das bedarf zukünftig der Erörterung.
Blick zurück ins Klassenzimmer. Nach einigen Stunden ist klar: Die bunt gemischte Gruppe erfreut sich am Diskurs. Anders als manche Gemeinden hat der Religionsunterricht die Kinder und Jugendlichen nicht verloren. Ihre Offenheit für existentielle Fragen und die Antworten des Christentums ist beeindruckend und rührend.
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Silvia Hanrath ist Fachleiterin für Katholische Religionslehre am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Leverkusen, Gymnasiallehrerin am Hansa-Gymnasium in Köln und seit 2007, u.a. als Lehrbeauftragte an der Universität Köln (bis 2014), in der Religionslehrer/innen-Ausbildung tätig.
Die Namen der SchülerInnen sind geändert.
Bild: Manfred Jahreis (Pixelio.de)
[1] Vgl. Englert, R., Hennecke, E., Kämmerling, M.: Innenansichten des Religionsunterricht. Fallbeispiele – Analysen – Konsequenzen, München 2014, S. 113
[2] Englert, Hennecke und Kämmerling zeigen auf, dass dies in der Realität allerdings sehr selten der Fall ist. Vgl. S. 228
[3] Englert, R., Hennecke, E., Kämmerling, M., S. 186
[4] Dass der konfessionell-kooperative Religionsunterricht nicht ökumenisch sei, darauf wird nachdrücklich verwiesen.