Gehören Moscheen, Minarette und Kopftücher zu Europa? Die Frage macht religiöse Zugehörigkeit zum Kriterium kollektiver Identität. Wie passt das aber in unsere religiös plurale Gesellschaft? Von Gert Pickel.
Kaum jemandem in Europa dürfte entgangen sein, dass nicht mehr alle Menschen, die um einen herum leben, in der Art und Weise religiös sind, wie man selbst. Die einen gehen (nur) noch zu Weihnachten in die Kirche, bei anderen waren schon die Eltern ausgetreten und man tut sich schwer, ihnen zu erklären, welche Bedeutung ein Feiertag hat und warum es ihn überhaupt gibt. Und damit nicht genug: Es gibt fromme Menschen der einen Glaubensrichtung und ziemlich wenig fromme Mitglieder der gleichen Religionsgemeinschaft. Selbst was man als religiös einschätzt oder nicht, ist abends am Biertisch strittig geworden, auch wenn die meisten es doch noch irgendwie mit Gottesdienstbesuch und Bibel in Zusammenhang zu bringen scheinen.
Daneben finden sich heute zudem immer häufiger Menschen, die einer anderen Religion als der christlichen angehören. All diese Phänomene zusammengefasst beschreibt das Phänomen der religiösen Pluralität. So weiß man zwar häufig nicht, was genau die anderen Mitbürger*innen glauben oder aber nicht glauben, nur eines ist sicher, es gibt heute viele Varianten und sie begegnen uns fast alle im Alltagsleben – nur nicht in der gleichen Häufigkeit. So weit so gut.
Die Pluralität des Religiösen ist normal geworden. Dachte man zumindest.
In modernen Gesellschaften, wo Pluralität als Folge von Individualisierungsprozessen mit einer doch beachtlichen Wichtigkeit sozialer Zugehörigkeit einhergeht, ist auch die Pluralität des Religiösen normal geworden. Das dachte man zumindest bis vor nicht allzu langer Zeit. Dann wurde man durch Plakate irritiert, in denen eine religiöse Gruppe, oder genau genommen eigentlich deren Mitglieder, als gefährlich, fremd und im Land falsch am Platz abgebildet wurden. Es wurde – und dies nicht nur auf diesen Plakaten, sondern auch an anderen öffentlichen Orten und in den Medien – teils lautstark kritisiert, dass diese Pluralität nun doch zu weit gehe. Er, der Islam, von dem hier die Rede ist, verändere die Kultur, in der man lebe, und überforme diese. Schlimmer noch, er übernehme diese Kultur.
Bemerkenswert an dieser europaweit aufbrechenden Klage ist, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion die abgelehnte Referenzgruppe ausmacht und ins Scheinwerferlicht stellt. Moscheen, Minarette und Kopftücher werden nun im Straßenbild mit einem ganz anderen Blick gesehen. Sie verweisen auf Gruppen, die – zumindest aus Sicht einiger Bürger und Bürgerinnen – nicht zu der „eigenen“ Gemeinschaft dazugehören. Muslime und Musliminnen sind generell fremd, gefährlich und auch einfach anders, so die sich verbreitende Meinung.
Nun wird eine Religion benutzt als Kennzeichen für Fremdheit, für Nichtzugehörigkeit.
Zwar gilt der Fremdheitsaspekt auch für Mitglieder anderer religiöser Gruppen, diese scheinen aber nicht so aufzufallen, dass sie ein ungünstiges öffentliches Interesse herbeiführen. Sie sind ja wohl auch nicht so problematisch, wie eben die Anhänger und Anhängerinnen „des Islam“. Buddhisten und Buddhistinnen scheinen ja gerne etwas mehr zu essen und orthodoxe Christen und Christinnen sind ja auch Christen. Vor diesen muss man zumindest keine Angst haben – hat man dann auch nicht, wie 2013 der Bertelsmann Religionsmonitor feststellen konnte. Nicht mal jede/r fünfte sieht Angehörige des Hinduismus, des Christentums, des Buddhismus und auch des Judentums als bedrohlich an. Am ehesten als bedrohlich oder unangenehm eingeschätzt wird bei nur leichter Variation interessanterweise unter den genannten Religionen noch das Judentum.
Ganz anders verhält es sich bei den Urteilen über die Muslime und Musliminnen und den Islam. In Deutschland fühlen sich mehr als die Hälfte der Bürger*innen vom Islam bedroht, am meisten in Ostdeutschland. Ziemlich genauso viele Deutsche bekannten bereits 2010 zumindest eher negative Haltungen gegenüber Muslimen und Musliminnen zu besitzen, auch hier mehr in Ost- als in Westdeutschland. Diese regionale Verteilung lässt einen ein wenig die Stirn runzeln, denn in den neuen Bundesländern gibt es doch fast keine Muslime und Musliminnen (0,7 Prozent). Ähnliches kann man übrigens über Osteuropa sagen, wo man in den meisten Ländern Geflüchtete mit Verweis auf die nicht vorhandene Passung von Muslimen und Musliminnen in ihre christlichen Länder zurückweist. Auch dort gibt es aber eigentlich keine wirkliche muslimische Community. Eigene Erfahrungen können es also kaum sein, welche diese Ablehnung hervorrufen. Scheinbar hat man ja dort Muslime und Musliminnen nie persönlich kennengelernt – und will dies wohl auch weiterhin nicht.
Religion dient als Mittel sozialer Abgrenzung. Es geht um kollektive Identitäten.
Dieses Verhalten kann man sogar sozialpsychologisch erklären, über die sogenannte Kontakthypothese und ihren Ableger der parasozialen Kontakthypothese: Lerne ich jemanden nur über seine, meist negative, Darstellung in den Medien kennen, dann verleidet dies mir den Kontakt mit seiner Gruppe. Es entwickeln sich gruppenbezogene Vorurteile. Finden aber Kontakte mit jemandem statt, dann findet man oft heraus, dass derjenige nicht so viel anders ist als man selbst, genauso klug, genauso dumm – eben normal. Sicher, auch negative Erfahrungen können das Bild des anderen beeinflussen. Intergruppenkontakte müssen nicht immer positiv sein. Doch wissenschaftliche Ergebnisse bestätigen, dass Menschen mit persönlichen Kontakten sich seltener von den dazugehörigen Gruppen bedroht fühlen oder diese Gruppen und ihre Mitglieder ablehnen.
Warum ist es aber nun gerade die Religionsgemeinschaft, die sich so gut eignet, diese Fremdzuschreibung vorzunehmen? Sind es nicht vielleicht doch eher „die Migranten“, welche diese Ablehnung auf sich ziehen? Die Zugehörigkeit zum Islam repräsentiert einfach eine Gruppe, die eine Identität teilt und eine klar von einem selbst abgrenzbare soziale Gruppe darstellt. Muslime und Musliminnen gehören eben zu einer anderen Gruppe und sind nicht Mitglied „unserer“ Gruppe oder des „wir“. Solche Abgrenzungen kann man sonst nur noch mit Sprache vornehmen. Es geht um kollektive Identitäten.
Wer gehört zu „meiner“ Gruppe? Die Polarisierung verläuft auch innerhalb des Christentums.
Dieser Zuschreibungsprozess ist nun auch ein Problem für uns Christ*innen. Denn die religiöse Pluralisierung als ein fortschreitender Prozess verstärkt durchaus die Frage, wie man sich selbst zu solchen Gruppen und ihren Mitgliedern verhalten soll. So zählen Muslime und Musliminnen nicht zu „meiner“ Gruppe und manches an ihren Werten und Vorstellungen ist mir fremd. Manchmal gar nicht, weil ich Christ oder Christin bin, sondern weil auch Christen und Christinnen in Europa mittlerweile recht säkular denken. Soll ich mich nun mit ihnen solidarisieren, weil sie eben auch religiös sind – oder einfach der christlichen Nächstenliebe willen?
Einfach scheint die Entscheidung auf jeden Fall nicht zu sein, denn im Durchschnitt ist die Haltung der Christen und Christinnen zu Muslimen und Musliminnen wie ihre Angst vor dem Islam genauso stark ausgeprägt wie bei Konfessionslosen. Entsprechend verteidigen dann auch zumeist religionslose Menschen in Dresden oder anderen deutschen Städten das christliche Abendland. Dabei werden sie aber eben auch unterstützt von manchem Kirchenmitglied und von Christen und Christinnen, unterstützt auch in Konfrontation mit anderen Christen und Christinnen, die sich überdurchschnittlich häufig in der Flüchtlingshilfe engagieren.
Die religiöse Pluralisierung ist also nicht nur ein einfacher sozialstruktureller Prozess, sondern sie zeigt auch eine – vielleicht verdeckt schon länger bestehende – Polarisierung im Christentum auf. Wie eine/r Christ*in ist und welche Werte er oder sie präferiert, das ist eben auch plural. Da wäre es sicher besser, sich ein eigenes und unverstelltes Bild über den Anderen zu machen, gerade auch, wenn er oder sie eine andere Religion hat. Dass es sicher hilfreich wäre, etwas über diese andere Religion sowie ihre Mitglieder und vielleicht auch erst mal über die eigene Religion in Erfahrung zu bringen, kann man wohl auch kaum bestreiten.
Christliche Werte auf dem Prüfstand.
Eindeutig ist nur, dass die religiöse Pluralisierung, welche übrigens die immer größere Zahl der Konfessionslosen einbezieht, nicht heute enden wird, sosehr man auch Grenzen zu schließen trachtet oder sich dem geistig verschließen will. Ebenfalls sicher ist, dass über kurz oder lang niemand daran vorbeikommen wird, hier seine/ihre eigene (christliche oder säkulare) Position zu entwickeln, die er/sie vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens vertreten kann. Diese muss und kann man dann im Streitfall vertreten. Es stehen also spannende Zeiten an, denn die religiöse Pluralisierung bringt auch die Beschäftigung mit dem eigenen Glauben und mit der eigenen Religionsgemeinschaft mit sich. Dass diese Beschäftigung nicht problemfrei sein wird, ist ebenso klar, wie sie christliche Werte und das Verständnis des Christseins auf den Prüfstand stellen wird.
—
Gert Pickel ist Professor für Religions- und Kirchensoziologie an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig.
Bild: Jasper Goslicki – CC- BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5490458
Zum Thema:
Neutralität als Integrationshindernis: Warum das Problem des öffentlichen Raums nicht Religion heißt