Zeitgenössische Kreuzweg-Darstellungen machen aus alten Geschichten Stationen heutigen Leidens. Katja Wißmiller betrachtet die gewobenen Kreuzwegbilder in der Kirche Bruder Klaus in Kriens/CH aus der Perspektive von Frauen und zeigt auf, wie solche Bilder auch von Schwangerschaft und Geburt erzählen.
«Potthässlich» war mein erster Gedanke, als ich die Stoffe zum ersten Mal sah: Alte Teppiche, 14 Tapisserien, hängen – inzwischen restauriert – in der Kirche Bruder Klaus in Kriens. Die Stoffe hoch oben an den Wänden des sonst kahlen Kirchenschiffs sind als Kreuzweg-Kunst etwas gewöhnungsbedürftig. Abgebildet ist meistens nur ein Mensch, eine schwerelose Figur ohne Grund, mit einem Minimum an Accessoires, welche eine Identifizierung mit klassischen Szenen der Passion ermöglichen. Nach den grossflächigen Vorlagen des Malers Paul Stöckli (1906-1991) arbeitete die Weberin Augusta Scheich-Hürlimann die Entwürfe als Tapisserien farblich aus und gab den Figuren geschlossenere Formen. Seine Ideen und ihr Handwerk verknüpften sich zu Menschenbildern von der Unschuldsgeste des Pilatus (I) bis zur Grablegung (XIV).
gewebte Geschichte, die sich in jeder Generation wiederholt
Heute, etwa 10 Jahre später, finde ich, es ist einer der ehrlichsten Kreuzwege, die ich kenne. Ehrlich, weil er nicht vorgibt, aus einer Vielzahl von Legenden und Zeugnissen eine Geschichte zu machen. Es ist gewebte Geschichte, die sich in jeder Generation wiederholt. Wenn die Betrachtenden willens sind, können sie an das Gewebe der Passion, an das Kreuz-und-Quer dieses Erzählstoffes ihre eigenen Lebensfäden hineinerzählen. So gesellen sich zu alten Geschichten von Passion und Hingabe mit vorösterlicher Grausamkeit und Legenden kirchlicher Tradition die heutigen Geschichten.
heutige Haltestellen des Unglücks
Die Tapisserien beschreiben eigentlich keinen Weg. Es sind Stationen von Erfahrungen, die zum Menschen-Gedächtnis gehören, hässliche austauschbare Erfahrungen. Die Tapisserien haben aus dieser einen Weg-Geschichte wieder Haltestellen des Unglücks gemacht. Jede Stoffbahn reduziert meist auf einen Körper. Die überlebensgrossen Körper, die nur gesehen werden, wenn man den Kopf in den Nacken legt, wenn man diese fragende Haltung einnimmt, fordern auf, die heutigen Haltestellen des Unglücks zu erzählen. Nur wenn sie zur österlichen Botschaft dazugehören, macht Ostern heute Sinn.
Die Erzählung vom Kreuz als Rückgrat der Kirche
Viele Menschen haben über Jahrhunderte im Kreuzweg ihre eigene Leidensgeschichte wiedererkannt. Kunstschaffende schrieben die epochalen Dramen von Ohnmacht, Schmerz und Todesangst in diese Geschichte der Passion mit hinein.
Die zahlreichen Bilder des jungen Mannes aus Nazareth, der da geschunden, verspottet und ohnmächtig sein Kreuz trägt und daran stirbt, spiegeln uns das Grausame bis heute und verunmöglichen jedes Ruhekissen. Es ist kein Märtyrer-Heldentod – sondern ein Leben, das durch den Tod in eine neue Schöpfung führt, die bei den Ohnmächtigen anfängt und bei denen, die vom Schmerz geplagt sind.
wie viel die Passion mit Frauenkörpern zu tun hat
Den Kreuzweg in Kriens meditierte ich vor einigen Jahren aus Frauenkörper-Sicht. Als wir die Stationen wieder und wieder betrachteten, stellten wir fest, wie viel die Passion mit Frauenkörpern zu tun hat. Mit den Körpern unserer Mütter. Mit Müttern, durch deren Leib die nächste Generation erst wird. Die Zeit geht immer schwanger mit neuem Leben, mit einer neuen Generation. Etwa 25 Millionen Frauenkörper tragen heute gleichzeitig einen anderen Körper in sich. Nichts Aussergewöhnliches, aber ein Ausnahmezustand für die betroffenen Frauen. Das neue Leben im Uterus ist aufgehängt am Kreuz, am sogenannten ISG – unserem Sakral-Gelenk der Beckenschaufel, am Kreuzbein. Die Passion hat zunächst nichts mit schwangeren Frauen zu tun, aber dank der Offenheit, die die reduzierten Tapisserien in Kriens zulassen, wagten wir eine neue Bild-lese. Erzählerisch webten wir eine Geschichte hinzu:
Passion aus Frauenkörpersicht
Der Kreuzweg beginnt mit einem Mann, der seine Hände in Unschuld wäscht (I). Das Leiden des Menschen hat eine Vorgeschichte, die auf dem ersten Bild in Erinnerung gerufen wird. Pontius steht für die, die ans Messer liefern, die schlagen lassen, Lebensrettung versäumen und Verantwortung abschieben. Für Männer, die ihre Vaterschaft für die nächste Generation in Frage stellen, die die Sorgen von Schwangeren an die Fachstelle für Frauenfragen abwälzen. Der Mensch nimmt sein Kreuz an (II). Es waren Frauen, die diese Generation in ihren Körpern trugen. Die aufrecht gehen mussten, um nicht umzufallen und die das Prinzip nicht nur sich zu sein, sondern in Verbundenheit zu leben, körperlich verinnerlichten. Ihr Rückgrat spielt bis heute die tragende Rolle, dass es uns Menschen gibt. Viele Frauen verloren dabei ihr Leben. Die Geburtensterblichkeit ist ein weltweites Risiko.
Wenn die menschliche Beziehung abgebrochen ist, wird der Anstand im Streit um die letzten Güter verspielt.
Immer wieder brechen Menschen unter der Last, die ihnen aufgetragen wird zusammen. Der Mensch, der unter dem Kreuz zusammenbricht wird in den Tapisserien III, VII und IX gezeigt. Wenn das Kreuz untragbar wird, braucht es Hilfe von Aussen. Die Ohnmacht erfordert notwendende Fürsprecher. Auf den ersten Sturz erfolgt sie noch: Simon, der zufällig vom Feld kommt, wird zur Hilfe genötigt (IV) und er begegnet seiner Mutter (V). Nach dem zweiten Fall weinen die Frauen (VIII), doch auf den dritten folgt die Entwürdigung, die Blossstellung: Der Mensch wird seiner Kleider beraubt (X). Wenn die menschliche Beziehung abgebrochen ist, wird der Anstand im Streit um die letzten Güter verspielt.
Das Untragbare aus Frauenkörpersicht sind oft sie selbst – sie im Frauenkörper. Ihre Schwangerschaft sei untragbar, weil sie nicht verheiratet sind. Gut, dafür findet sich vielleicht ein Mann, der hilft. Aber wenn sich eine Frau selbst als Mutter für untragbar hält, welches Mutterbild hat sie dann vor Augen. Wenn Frauen gewaltsam zu Müttern einer Generation Terror werden – das Kreuz dieser Frauen ist unfassbar schwer.
Eine Frau, ein Schweisstuch, ein Abbild (VI). Nach christlicher Legende reichte Veronika ihr Tuch dem Menschen auf dem Weg nach Golgota, um Schweiss und Blut von dessen Gesicht abzuwaschen. Dabei soll sich das Gesicht Jesu auf wunderbare Weise auf dem Schweisstuch eingeprägt haben. Es ist ein tröstendes Bild gegen das Vergessen. Das Bild der Leidenden wird weitergegeben, denn ihr Leid hinterlässt Spuren in den Folgegenerationen. Wenn die Stationen XI bis XIII ein Geburtsvorgang wären, wäre es ein grausamer. Sind Frauen fixiert auf die Aufgabe zu Gebären (XI), auf dieses Leben und kein anderes? Die Geburt beginnt und es schmerzt bis zur Ohnmacht. Der Tod leckt sich die Finger, die Lebenskraft schreit sich die Kehle aus dem Leib (XII). Den Kaiserschnitt gibt es schon länger. Ursprünglich rettete er aber nur dem Kind das Leben, nicht der Mutter (XIII).
Und wenn sie doch noch lebt, aufgerissen, das Innere nach Aussen gekehrt, nackt allem preisgegeben, wird sie zitternd auf ein neues Leinentuch gelegt. Herzlichen Glückwunsch. Es ist ein Mädchen.
«Dies ist mein Leben, mein Leib hingegeben für Dich.»
Text und Fotos:
Katja Wißmiller, theologische Fachmitarbeiterin der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks (SKB), «BIBEL erzählt!»Kursleiterin, Autorin von «Maria von Magdala» (Twitter/Facebook).