Wer ist heute eigentlich wirklich das Opfer? Regina Ammicht-Quinn beschreibt, wie der Wettbewerb um die Opferrolle das Zusammenleben vergiftet.
Du Opfer! ist inzwischen ein übliches Schimpfwort auf den Schulhöfen. Und für eine Welt, die in Gewinner und Verlierer eingeteilt ist, ist dies ein gutes Schimpfwort. Es produziert und verstärkt vor allem Männlichkeitskonstrukte, die sich für die Gewinnerseite bewähren müssen. Du Opfer! (neuerdings manchmal ergänzt mit Du Jude!) scheint auf ein arachisches Schulhofgesetz zu verweisen, das aber durchaus, mit Anzug und Krawatte versehen, in spätmodernen und demokratischen Gesellschaften weiterlebt; und hier immer wieder neu verhandelt wird, in einer archaischen Gegenwart.
Du Opfer!
In krisenhaft erlebten gesellschaftlichen Umbrüchen wird die Frage nach den Opfern dieses sozialen Wandels immer wieder relevant. Denn die Verhandlung darüber, wer die Verlierer sind und wie man dies kompensiert, ist auch eine Verhandlung über die neu zu etablierende Ordnung.
In Deutschland war der Zusammenhang von Krise und Opfer in besonderer Weise nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus zu beobachten. Während zögerlich die unbegreifliche Schuld der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie und noch viel zögerlicher die Schuld von Wehrmacht und Zivilbevölkerung in das Selbstverständnis der Gesellschaft trat, wurden „die Deutschen“ zu Tätern. Opfer waren „die Juden“.
Deutsche, Juden, Heimatvertriebene
Die Familien meiner Eltern kamen nach dem Krieg als Heimatvertriebene unter schwierigen Umständen nach Deutschland. Ihre Heimat waren Dörfer und Menschen und Berge und Aussichten, die heute im weit östlichen Polen liegen, die Orte oft kaum auffindbar. Sie hatten vieles verloren: Haus, Heimat, den akzeptierten eigenen Dialekt, ihren Status, aber auch Väter, Brüder, Ehemänner, Freunde und Verlobte oder, bei vielen Frauen, das Zuhausesein im eigenen Körper durch Vergewaltigungen. Im Ankunftsland stießen sie auf Misstrauen, Abweisung, Feindseligkeit – und dies, obwohl sie durch Religion und Sprache (die allerdings komisch klang) mit den neuen Nachbarn verbunden waren.
Ich erinnere mich an Sonntagnachmittage in der Großfamilie, in denen über Kaffee und Kuchen das allgemeine Gespräch sich um „Alle reden von den Juden, von uns redet niemand…“ drehte. Und dieser Sonntagnachmittagskaffee war nur eine der Situationen, an denen Opferkonkurrenzen geboren wurden, die lange unter der Oberfläche schwelten. Für meine Herkunftsfamilien hat sich diese Opferkonkurrenz über die Jahre in gewohntes und geübtes Heimweh verwandelt. Für andere in vergiftete politische Haltungen.
„Alle reden von den Juden, von uns redet niemand…“?
Und heute wird wieder um den Opferstatus gerungen. Diesmal ist es ein offener Konflikt, und es geht in anderer Weise um „Einheimische“ und um Geflüchtete und Migrant_innen. Die Polarisierung der Gesellschaft wird durch eine (unbewusste oder gezielte) Verhandlung des Opferstatus geprägt und stabilisiert; und diesmal bleibt die Frage nicht unter der Oberfläche.
In einer „Willkommenskultur“ wird den Geflüchteten häufig ein Opferstatus zuerkannt, der ihre Schutz- und Hilfsbedürftigkeit betont und an die Solidarität der Bevölkerung appelliert. Der Opferstatus wird ihnen jedoch auch zugewiesen. Solche Zuweisungen sind problematisch: Sie widersprechen einem Selbstbild als mutige und aktive Akteur_innen und können deren Handlungsfähigkeit grundlegend infrage stellen; das Bild des guten, dankbaren und unschuldigen Opfers wird zur Voraussetzung der Solidarität.
Ambivalenter Opferstatus
Umgekehrt wird in rechtspopulistischen und rechtsextremen Strömungen der „wirkliche“ und „eigentliche“ Opferstatus für das „eigene Volk“ eingefordert. Dabei wird Migrant_innen vorgeworfen, der Bevölkerung des Aufnahmelandes Arbeitsplätze, Wohnungen und Sozialleistungen zu „stehlen“, deutsche Frauen sexuell zu belästigen, die christlich-abendländischen Werte zu unterminieren oder potenzielle Terroristen zu sein. Hier sehen sich Rechtspopulist_innen als Opfer, während Geflüchtete, Eliten und „Gutmenschen“ zu Schuldigen am Unglück „des Volkes“ werden: Rechtspopulist_innen sehen sich als verfolgte Minderheit, ohnmächtig angesichts der Errichtung von Flüchtlingsunterkünften in ihrer Nachbarschaft, alleingelassen von der Politik und ungerecht behandelt von der „Systempresse“. Die „Identitäre Bewegung“ hat das Gefühl der Bedrohung auf die Formel vom „großen Austausch“ gebracht, der vermeintlich gezielten Verdrängung der europäischen Bevölkerungen durch nicht-europäische Migrant_innen.
Wer sind die „wirklichen“ Opfer?
Wer also sind die „wirklichen“ Opfer? Die älteren Menschen, die sich bei der Essener Tafel vor den ganzen Fremden fürchten? Oder die jüngeren Migrant_innen, die fürchten, dass nichts mehr da ist, wenn sie geduldig warten? Die „deutschen Frauen“, die durch „den Islam“ gefährdet werden? Oder die frommen Muslime, deren Religion ins Zwielicht gerät? Der AfD-Abgeordnete, der nicht als Alterspräsident die konstituierende Sitzung des Bundestags eröffnen darf? Oder ist das Opfer ganz einfach „Deutschland“? Dies suggerieren die Erstunterzeichner der „Gemeinsamen Erklärung 2018“ (https://www.erklaerung2018.de/), allesamt nach eigenen Angaben „Autoren, Publizisten, Wissenschaftler und andere Akademiker“, die „mit wachsendem Befremden“ beobachten, „wie Deutschland durch illegale Masseneinwanderung beschädigt wird“.
Opferkonkurrenzen sind auch im Kontext der me too-Debatte entstanden. Den Protagonistinnen wird vorgeworfen, einen Opferstatus zu erfinden, den eigenen (Tat)Anteil zu vernachlässigen und sich Vorteile erschleichen zu wollen. Heul nicht, wäre die Schulhofantwort. Und sehr schnell werden „die Männer“, konkurrierend, zu den eigentlichen Opfern, die alle, obgleich unschuldig, als Verbrecher gesehen werden und niemandem mehr Komplimente machen dürfen.
Pervertierung: Die für-mich-gerechte Gesellschaft
Die Konkurrenz um die „wirklichen“ Opfer ist immer auch ein Kampf um Deutungsmacht in den Krisen der Verteilung und den Krisen der kulturellen Identität. Opferkonkurrenz ist dabei eine pervertierte Form der Befreiungs- und Bürgerbewegungen und affirmative action; pervertiert, weil das Ziel nicht eine offenere, gerechtere Gesellschaft, sondern eine geschlossene(re) und für mich gerechte Gesellschaft ist. Diese für-mich-gerechtere Gesellschaft verbirgt sich häufig hinter der Sorge um Verteilungsfragen und der Sorge um kulturelle Identität. Und genau dabei sind Opferkonkurrenzen toxisch, weil sie gesellschaftliche Desintegration vertiefen und Empathie zerstören.
Heute geht es darum, aktiv gegen diese Pervertierung einer „Bürgerbewegung“ Stellung zu beziehen.
Martin Luther Kings Enttäuschung über gutwillige Bürger_innen
Im April dieses Jahres ist der fünfzigste Jahrestag der Ermordung Martin Luther Kings. In seinem Brief aus dem Birminhamer Gefängnis 1963 (http://www.thekingcenter.org/archive/document/letter-birmingham-city-jail-0) schreibt er über zwei seiner großen Enttäuschungen: die Enttäuschung über die weiße Kirche, die in weiten Teilen dem Kampf um eine gerechte Gesellschaft zugeschaut hat und die Enttäuschung über die weißen gutwilligen moderaten Bürger_innen:
I have almost reached the regrettable conclusion that the Negro’s great stumbling block in the stride toward freedom is not the White Citizens Councillor or the Ku Klux Klanner but the white moderate who is more devoted to order than to justice; who prefers a negative peace which is the absence of tension to a positive peace which is the presence of justice […]. Shallow understanding from people of good will is more frustrating than absolute misunderstanding from people of ill will. Lukewarm acceptance is much more bewildering than outright rejection.
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Regina Ammicht-Quinn, Professorin für Theologische Ethik, Sprecherin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften und Co-Direktorin des Zentrums für Gender- und Diversitätsforschung in Tübingen.
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