Die 1960er Jahre stehen für eine Zeit des Wandels. Das Zweite Vatikanum und „1968“ lassen sich in einer gemeinsamen Dynamik finden – aber auch in einem spannungsreichen Verhältnis. Rolf Bossart beschreibt diese Dialektik der Freiheit für feinschwarz.net in zwei Teilen. (Teil 1)
Die katholische Kirche hatte mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Aufbruchsbewegung von 1968 vorweggenommen. Das Konzil, das von vielen vom Zeitpunkt seiner Verkündigung an als längst überfällig empfunden wurde, weckte einen geradezu revolutionären Geist der Erwartungen. Es entstand innerhalb der Kirche eine Stimmung, die dem zivilgesellschaftlichen Kairos von 1968 in Vielem glich und weit über das katholische Milieu hinauswirkte.
In der Kirche nahm das Konzil die Aufbruchsbewegung von 1968 vorweg.
Nebst den gespannten bis überspannten Erwartungen zeigt sich dies vor allem retrospektiv, indem das Konzil und die ’68er Bewegung vielfältig erzählbar geworden sind: in ihrer revolutionären Ereignishaftigkeit, als Abfolge symbolischer Akte, institutioneller Kontrollverluste und spontaner Handlungsketten und also insgesamt als Mythos, der seine Wahrheit nicht primär im tatsächlich Erreichten als vielmehr im Geist hat. Denn faktisch bzw. vom Buchstaben her betrachtet waren und sind die Ergebnisse bei beiden Ereignissen ja oft nicht sehr eindeutig.
Der niederländische Theologe Ton Veerkamp hat dies in dem vor zehn Jahren erschienen Erinnerungsband «Zwischen Medellin und Paris. 1968 und die Theologie» wie folgt zugespitzt: „Der Mythos 68 ist eine Erzählung. Es gibt ihn, weil er erzählt wird. Was nicht erzählt wird, existiert nicht. 68 ist ein richtiger Mythos, eine Wirklichkeit, die in der Erzählung zur überhöhten Wirklichkeit wird. Ich will und kann die Erzählung nicht entmythologisieren. Dann ginge die Erzählung und die Wirklichkeit, die sie erzählt, verloren.“[1]
1968 und das Konzil: Mythen, die auf noch unabgegoltene Erwartungen bezogen sind
Mythisch ist bei Veerkamp die Erzählung nicht, um die Wirklichkeit der Ereignisse nach einem Ideal zurecht zu stutzen, sondern vielmehr, weil im Stoff des Mythos das Unerledigte, Unabgegoltene als Energiequelle des Erinnerns immer mitenthalten ist und deshalb auch stets eine Potentialität zur Wieder-Holung in sich trägt – for better or worse.
Ein schönes Beispiel für einen institutionellen Kontrollverlust ist jene Begebenheit am ersten Sitzungstag des Konzils, als der 87jährige Kardinal Liénard von Lille in beinahe jugendlichem Übermut unvermittelt das Wort ergriff und darum warb, die von der Kurie vorgelegte Sitzungsordnung zu missachten. Worauf starker Applaus folgte, der Plan der Kurie, durch eine starre Ordnung die Kontrolle zu behalten, zunichte war und die berühmte Eigendynamik des Konzils ihren Lauf nahm.
Ebenfalls vergleichbar mit ‘68 war das Bewusstsein vieler Akteure, mit den angestrebten Reformen nur nachzuholen, was der vorauseilende Fortschritt längst verlangte. Dafür beispielhaft steht die Konzilsrede von Bischof Eugene D’Souza, Erzbischof von Bhopal (Indien): «Erinnert euch an das fünfte Laterankonzil von 1512-1517. Es vollbrachte die Reform, die die Zeitgenossen von ihm erwarteten, nicht. Ob aus Mangel an Klarsicht oder aus Mangel an Energie, ich weiss es nicht. Wenige Monate später geriet die Kirche in die schlimmste Krise ihrer ganzen Geschichte. Haben wir den Mut, Brüder, auf die Erwartungen unserer Zeit zu antworten.»
Institutioneller Kontrollverlust – vom Konzil nach Medellín
Diesen Mut gab es, aber auch das Erschrecken vor seinem dekonstruktiven und vielleicht auch destruktiven Potential. Und so kehrten die einen ermutigt heim und trugen den Geist des Konzils weiter, der sich an vielen Orten mischte mit dem entstehenden Geist von ‘68. Es entstanden in Westeuropa politisierte und kreative Laieninitiativen, die sich – wiederum vergleichbar mit ‘68 – zugleich als Bewegung und in institutionellen Neugründungen konstituierten. In Lateinamerika führte 1968 – stark inspiriert vom am Konzil geschlossenen «Katakombenpakt» – der Konzilsgeist zur wirkmächtigen Manifestation für eine Kirche der Armen an der zweiten allgemeinen lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Medellín. Kirchliche Gruppen solidarisierten sich vielerorts mit den politischen Befreiungsbewegungen der 3. Welt, der Schwarzen, der Frauen und der Studentinnen und Arbeiter.
Passend zur These vom Geist des Konzils, schreibt Edward Schillebeeckx in seinen Erinnerungen: «Der Vater der Lateinamerikanischen Befreiungstheologie, Gustavo Gutierrez, hat mir einmal erzählt, dass er mehr durch die Nachrichten der Konzilsbischöfe während des Konzils als durch die Texte des Konzils selber inspiriert wurde, um die Befreiungstheologie in Gang zu setzen.“[2]
Andere aber machten sich daran, den Buchstaben der Dokumente ins bestehende Gefüge einzuordnen und das Neue durch das Alte zu interpretieren. Diese Spannung zwischen Geist und Buchstaben eine fruchtbare zu nennen, wäre angesichts der vatikanischen Verhinderungs- Korrumpierungs- und Sabotagepolitik der darauffolgenden Jahrzehnte nichts als zynisch. Aber der Realismus einer historischen Betrachtung aus der Gegenwart verbietet es auch, die innere Notwendigkeit dieses Konfliktes zu leugnen. Ein Konflikt, den die Kirche in der Welt der Moderne und Postmoderne nicht los wird und den sie immer neu bearbeiten muss, auch wenn dann die Zerreissprobe immer grösser wird.
Spannung zwischen Geist und Buchstaben: die innere Notwendigkeit des Konfliktes sehen
Die liberale Kritik an Kirche und Gesellschaft stützte sich ja vor allem auf zwei sich im Prinzip widerstreitende Gesellschaftstheorien: Einerseits auf den Marxismus und seine Forderung nach Gerechtigkeit, andererseits auf den Liberalismus und seine Forderung nach Freiheit. Nach ‘68 aber verschmolzen diese zwei Konzepte durch die gleichzeitige Kritik der Bewegung am real existierenden Sozialismus und am Kapitalismus zum Linksliberalismus, der die Versöhnung des Widerspruchs zwischen Gerechtigkeit und Freiheit behauptet. Dieses Konzept geht aber nur auf, solange man weder Genesis noch Geltung der herrschenden Gesellschaftsformen in Rechnung stellt. Das linksliberale Streben nach Gerechtigkeit muss daher tendenziell vom «Streben nach dem Guten» oder von «Werten», das die Menschen auch immer in Ihrer Freiheit einschränkt, abstrahieren und auf sogenannt neutrale, also technische Lösungen setzen. (Wer kennt nicht den innerkirchlichen Konflikt zwischen den Progressiven, die den Werten der Nächstenliebe misstrauen und strukturelle Lösungen anstreben und den Konservativen, die jeder abstrakten Regelung allein ihren «guten Willen» entgegensetzen?) Ist aber die gerechte Gesellschaft um der Freiheit der Individuen willen eine technische und keine moralische Frage mehr, dann wird auch der Linksliberalismus zurück an den kapitalistischen Liberalismus verwiesen, an Smiths «unsichtbare Hand», die den alleinigen Anspruch auf «Gerechtigkeit ohne gefährlichen moralischen Zwang» erhebt.
Edward Schillebeeckx akzentuierte den Widerspruch der liberalen Kirche nach dem Konzil wie folgt: «Ich habe dies persönlich als eine Ironie der Geschichte erfahren: (…) eine Kirche, die sich im Konzil endlich öffnete für liberale Werte wurde nach dem Konzil konfrontiert mit dem Aufstand wider die für bestimmte Bevölkerungsgruppen verletzenden und fatalen Seiten der liberalen Gesellschaft.“[3]
Versuch der Verschmelzung von Gerechtigkeit und Freiheit: Linksliberalismus
Der Liberalismus, wie er nach dem Konzil im Geist von ‘68 die Kirche reformierte, stiess also nicht nur bei konservativen oder reaktionären Kräften auf Widerstand. Er hat auch eine zwangsläufige Grenze in der Konstitution der Kirche, insofern diese nie ganz auf normative Setzungen, moralische Werte und also vom Standpunkt des Liberalismus auf unstatthafte Beschränkungen der Freiheit und auf Ausschluss anderer Positionen wird verzichten können.
Die Kirche muss die uneingeschränkte menschliche Freiheit immer ablehnen, solange sie die transzendente Position Gottes nicht aufgibt. Denn wo sie sagt, das kann nur Gott, das ist nur Gottes Aufgabe, sagt sie das primär nicht auf Basis eines gesicherten Wissens über Gottes Kompetenzen, sondern vielmehr aus dem auf Erfahrungen gegründeten und historisch gewachsenen Misstrauen gegenüber der Inkompetenz der Menschen. Was Gott kann und will, ist das, was der Mensch nicht kann oder nur kann um den Preis seiner Beschädigung bis Selbstzerstörung. Diese religionspsychologische Binsenweisheit, die aber zugleich ein produktives Axiom moderner Theologie sein könnte, ist der tiefere Grund für die Zweideutigkeit aller Reformen nach ‘68, die immer Zufriedenheit und Besorgnis auslösen und einmal vorangetrieben und ein andermal abgewürgt werden.
Die Kirche muss die uneingeschränkte menschliche Freiheit immer ablehnen, solange sie die transzendente Position Gottes nicht aufgibt.
Gleich zum Auftakt der Bewegung zeigte sich diese kirchliche Zerrissenheit den Anliegen der 68er gegenüber in aller Schärfe in den zwei Enzykliken von Papst Paul VI: Populorum Progressio von 1967 und Humanae Vitae aus dem Jahr 1968. In Populorum Progressio formulierte der Papst eine von heute aus betrachtet ziemlich radikale Eigentumskritik, die sehr nahe am befreiungstheologischen Postulat einer «Befreiung durch Gerechtigkeit» ist. «Das Privateigentum ist also für niemand ein unbedingtes und unumschränktes Recht (…) Sollte ein Konflikt zwischen den wohlerworbenen Rechten des einzelnen und den Grundbedürfnissen der Gemeinschaft entstehen, dann ist es an der staatlichen Gewalt unter aktiver Beteiligung der einzelnen und der Gruppen eine Lösung zu suchen. (…) Das Gemeinwohl verlangt deshalb manchmal eine Enteignung, wenn ein Besitz wegen seiner Grösse, seiner geringen oder überhaupt nicht erfolgten Nutzung, wegen des Elends, das die Bevölkerung durch ihn erfährt, wegen eines beträchtlichen Schadens, den die Interessen des Landes erleiden, dem Gemeinwohl hemmend im Weg steht.»
Nur ein Jahr später fährt dann mit Humane Vitae der antiliberale Hammer nieder, der Millionen von Katholikinnen und Katholiken allmählich von der Kirche entfremden sollte oder auch der allmählichen Entfremdung von vielen einen guten Grund gab: die fundamentale Einschränkung der Freiheit in der Geburtenkontrolle, durch eine dogmatische Engführung einer moralischen Frage.
Teil 2: https://www.feinschwarz.net/dialektik-der-freiheit-1968-und-die-katholische-kirche-teil-2/
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Rolf Bossart
Bild: Zach Savinar / unsplash_com
[1] Kuno Füssel, Michale Ramminger (Hg.), Zwischen Medellin und Paris. 1968 und die Theologie, Luzern 2009, 180.
[2] Vgl. Edward Schillebeeckx: Notarieel nog niet verleden. Baarn 1994, S. 41ff. Übersetzung aus dem Niederländischen: Peter Spinatsch
[3] Vgl. Ebd.