Gedanken zum Reformationsjubiläum formuliert Christina Aus der Au. Die schweizerische evangelisch-reformierte Theologin ist Mitglied im Vorstand des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Sie lässt sich von Luther, Calvin und Zwingli bis heute provozieren.
Welche Herausforderungen stellen sich in den nächsten Jahren vor dem ominösen Jahr 2017, in dem die Kirche sehr viel Raum einnehmen wird?[1] Welche Herausforderungen – nicht nur touristisch und wirtschaftlich, nicht nur logistisch und werbetechnisch – welche theologischen Herausforderungen stellen sich für das Reformationsjubiläum 2017 – wenn wir das zusammendenken wollen mit dem Raum, den die Kirche in der Grossstadt, in den Agglomerationen, im gesamten, von urbanem Lebensgefühl geprägten Land einnehmen will?
Das Reformationsjubiläum ist nur dann in all seinem immensen Aufwand gerechtfertigt, wenn es vermitteln kann – nicht nur in seinem Resultat, sondern auch in seinem Prozess – , was Reformation für die Kirche, für die Christinnen und Christen hier und jetzt, in unserer Gesellschaft, unserer Zeit bedeutet:
- erstens in unserem Verständnis von Kirchesein – dann nämlich, wenn wir die ganzen soziologischen und demographischen Herausforderungen als theologische Herausforderungen verstehen.
Hierzu möchte ich gerne Calvins Gedanken aktualisieren, der sagt: „Wer also Gott zum Vater hat, der muss auch die Kirche zur Mutter haben.“[2]
- zweitens in unserer Kommunikation des Evangeliums – dann nämlich, wenn wir das, was wir glauben, nicht nur nachsagen, sondern uns selber und den anderen verständlich machen wollen.
Dafür werde ich Luthers Gedanken hinzuziehen, der dem Volk aufs Maul schauen will.[3]
- drittens in dem, was ich, nicht nur der Alliteration geschuldet, Konvivenz nennen möchte, der konkreten Existenz in der Welt – dann nämlich, wenn wir unser Christsein auch als politisch wache und gesellschaftlich aktive Bürgerinnen und Bürger leben wollen.
Und dafür werde ich Zwingli als Kronzeugen bringen, für den das Reich Gottes nicht nur innerlich, sondern auch äusserlich zur Darstellung kommen muss.[4]
1. Calvin: Kirche!
Calvin ist der späteste der drei Reformatoren. Er lässt sich von Luther und dessen, wie er schreibt, „gründlich veränderten Form der Lehre“[5] anstecken und wird zum Reformator, erst an der Sorbonne, dann auf der Flucht, schliesslich in Basel, wo er seine Institutio fertigschreibt. Nach Genf kommt er nur deswegen, weil er in Paris noch einige Angelegenheiten zu ordnen hatte und auf dem Rückweg wegen kriegerischer Auseinandersetzungen nicht über Strasbourg zurück nach Basel konnte. Er musste den Weg über Lyon und Genf nehmen. Aber in Genf wird er entdeckt, und Guillaume Farel, ein Vorkämpfer der Reformation in Genf zwingt ihn geradezu, in Genf zu bleiben: „Wenn Du Dich nicht mit uns an dieses Werk Gottes machen und also nicht Christus wie dich selbst suchen willst, wird Dich der Herr verfluchen.“[6]
Und so macht sich Calvin in Genf daran, eine Kirche aufzubauen, die wirklich und wahrhaftig christliche Kirche ist. Er gerät allerdings bald in Konflikt mit dem Genfer Rat und den Bürgern und wird der Stadt verwiesen. In Strasbourg kann er ungestört arbeiten und seine Kirche aufbauen, aber als er hört, dass die Genfer von „Rom“ umworben werden, schickt er dem „Versucher“ Kardinal Sardolet eine so glänzende Verteidigung der reformatorischen Erneuerung der Kirche, dass ihn die Genfer in aller Form zurückrufen. Dort arbeitete er – alles andere als unumstritten – bis zu seinem Tod 23 Jahre später an dieser Erneuerung.
Die Kirche, als äusseres Mittel oder Beihilfe, mit denen uns Gott zu der Gemeinschaft mit Christus einlädt und in ihr erhält – dergestalt, dass es ausserhalb der Kirche kein Heil gibt, wie er im Katechismus (Frage 105) und in der Institutio (IV, 1, 4) in Übereinstimmung mit den Kirchenvätern und mit Luther festhält.
Aber die Kirche eben nicht als hierarchisch aufgebaute Struktur, sondern als creatura verbi, deren deutlichstes Merkmal ebendieses Wort Gottes in ihrer Lehre, ihrem Leben und der Darstellung im Sakrament ist.
Was, wenn wir uns hier und heute herausfordern liessen von Calvin dem Kirchenlehrer, der konsequent darauf besteht, dass alleine der Dienst am Wort und die Feier der Sakramente die Kirche ausmachen, auch wenn sie sonst mit allerhand Gebrechen und Fehler behaftet sein mag? Und das alles andere als im blinden Buchstabenglauben und auch nicht im blinden Kirchenglauben (Inst III, 2, 2), sondern als Erkenntnis, wovon die Bibel wirklich redet, nämlich von Gott und dem Menschen: „Alle unsere Weisheit, sofern sie wirklich den Namen Weisheit verdient und wahr und zuverlässig ist, umfasst im Grunde eigentlich zweierlei: die Erkenntnis Gottes und unsere Selbsterkenntnis.“ (Inst. I, 1, 1).
Die Kirche als ein Pfeiler und eine Grundfeste der Wahrheit, Wächterin von Gottes Wahrheit und Hüterin von Predigt und Sakrament. Wenn sie das verantwortungsvoll tun will, dann soll sie sich dem Studium des Wortes Gottes widmen – als da heisst: Theologie treiben! Wie kann eine Kirche bestehen, deren Vertreter und Vertreterinnen, deren Leiterinnen und Leiter sich vorwiegend mit soziologischen Studien, empirischen Untersuchungen und organisationstheoretischen Überlegungen beschäftigen?! Was ist das für eine Kirche, die sich an Mitgliederzahlen und Mitgliederwünschen misst, die ihre Pfarrerinnen und Pfarrer predigen lässt, was ihnen in den Sinn kommt, und die sie Sakramente feiern lässt in staubiger Vernachlässigung und lustloser Unwissenheit?!
Was ist das für eine Kirche, die sich an Mitgliederzahlen und Mitgliederwünschen misst, die ihre Pfarrerinnen und Pfarrer predigen lässt, was ihnen in den Sinn kommt und die sie Sakramente feiern lässt in staubiger Vernachlässigung und lustloser Unwissenheit?!
Müssten wir nicht in aller Herausforderung durch die Megatrends der Zeitgeiste als Kirche zuerst und zunächst wieder Theologie treiben? Uns vom Wort Gottes herausfordern lassen und von nichts anderem? Nicht nur alleine und isoliert als Pfarrerinnen und Pfarrer, sondern auch und gerade mit all denen, die nach Gottes- und Menschenerkenntnis suchen? Müssten wir unser Heil – unser eigenes und dasjenige unserer Kirche – nicht zunächst und zuvorderst suchen im Streben nach der Erkenntnis Gottes, ohne die wir „trauriger dran sind als irgend ein Tier“ (Katechismus, Abschn. 4)?
2. Luther: Kommunikation!
Aber Calvin ist auch derjenige, der das Wesen der Kirche aus der Confessio Augustana übernimmt und ergänzt: Sie ist nicht nur dort, wo das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente evangeliumsgemäss gereicht werden, sondern dort, wo dieses Evangelium auch gehört wird! Und dieses Hören bedingt Verstehen, das hat seinerseits Martin Luther wohl verstanden. Und ist er nicht nur als der grosse Reformator, sondern – und damit untrennbar verbunden – als der grosse Bibelübersetzer in die Geschichte eingegangen. Er war nicht der erste, der die biblischen Texte ins Deutsche übersetzte, aber der erste, der dazu sowohl auf die Vulgata, als auch auf die griechischen bzw. hebräischen Texte zurückgriff. Und er übersetzte nicht wörtlich, sondern so, dass es „die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse und der gemeinde Mann auf dem Markte“[7] verstehen könnten – was ihn dazu führte, sein berühmtes „sola“ einfach so in den Text von Röm 3, 28 einzufügen. Dort steht nämlich – wie ihm die Papisten auch sogleich vorhalten – im Text nichts von „allein durch den Glauben“, sondern nur „durch den Glauben“. Aber Luther führt in seinem Sendschreiben vom Dolmetschen herrlich aus, dass es darum geht, den Text aufzuschliessen, und dazu gehört „ein rechtes, frommes, treues, fleissiges, gottesfürchtiges, christliches, gelehrtes, erfahrenes, geübtes Herz.“ Kriterium ist ihm die Sinntreue und die Verständlichkeit. Er ereifert sich über die wörtliche Übersetzung von Mt 12,34, „aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund“, und findet dafür das wunderbare „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.“
Aber wenn wir Luther hier ernst nehmen, können wir uns darauf nicht ausruhen. Das tun wir natürlich auch nicht, es gibt immer noch viele neue Bibelübersetzungen, auch solche, wie die Bibel in Gerechter Sprache, die sich gegen Anfeindungen wehren musste, weil ihre Exegetinnen und Exegeten liebgewordene Übersetzungen oder Textgenauigkeit hinter sich liessen zugunsten von theologischen Überlegungen, die sie mit ebenso „rechtem, frommem, treuem, fleissigem und gottesfürchtigem Herz“ angestellt haben wie dazumal Martin Luther.
Aber wenn wir Luther hier ernst nehmen, können wir uns darauf nicht ausruhen.
Das allein ist nichtsdestotrotz noch keine Herausforderung! Wenn ich lese, wie eine Theologin und Journalistin in einer spannenden Diskussion über die Kommunikation des Evangeliums sagt, „Für „normale“ Menschen ist das Evangelium eine Worthülse. Es sind schöne Worte, aber sie sind leer“[8] – und es widerspricht ihr keiner der anwesenden Pfarrer und Pfarrerinnen, dann haben wir doch heute nochmals ein ganz anderes Übersetzungsproblem!
Wer will überhaupt hören, was wir zu sagen haben? Wenn die Kirche, die Christinnen und Christen die Antwort haben, was ist dann die Frage? Hat überhaupt jemand da draussen noch Fragen, auf die wir Antworten zu bieten haben? Oder nur dann, wenn sich die Kirche selbst säkularisiert und auf Ethik und Diakonie reduziert?
Verstehen Sie mich nicht falsch, das sind zentrale Elemente von Christentum und Kirche – als Reformierte bin ich weit davon entfernt, die Ethik geringzuschätzen! Aber dasjenige, was die Reformatoren als das Wesentliche in den Evangelien und der gesamten Bibel wiederentdeckt haben – die bedingungslose Zuwendung Gottes zum Menschen – versteht das jemand? Interessiert das jemanden?
Wer will überhaupt hören, was wir zu sagen haben? … die bedingungslose Zuwendung Gottes zum Menschen – versteht das jemand? Interessiert das jemanden?
Es ist wohl kein Zufall, dass sich sowohl der Leitungskreis in Deutschland, welcher die Projekte der EKD und des Kirchentags im Reformationssommer verantwortet als auch das Reformationsjubiläumskomitee in der Schweiz gleichzeitig schwer tun mit einer theologischen Botschaft der Reformation. Was rechtfertigt es – jenseits von touristischer und kulturhistorischer Bedeutung – dass wir dieses Ereignis millionenschwer erinnern? Was, wenn nicht die Überzeugung, dass vor 500 Jahren etwas wieder entdeckt wurde, was die Menschen auch heute noch brauchen. Wenn wir es denn nur so bringen können, dass sie es merken.
Kommunikation des Evangeliums – wie bei Luther keine blosse Übersetzung, sondern Verlebendigung, Visualisierung, Verleiblichung des Wortes Gottes in die Probleme, Fragen und Freuden des Alltags hinein. Ein Auftrag, der an jeden Einzelnen von uns gestellt ist, aber und vor allem auch an die Kirche als Kommunikationsgemeinschaft, welche das Evangelium nicht nur in Predigt und Sakrament – weil da erreicht sie ja fast niemanden mehr – , sondern auch in neuen Formen und Möglichkeiten übersetzt, ansteckend vermittelt und befreiend verkündet. Müssten wir nicht in der Nachfolge Luthers hier noch viel mutiger, fröhlicher und kreativer sein, wenn wir das Evangelium so verkünden wollen, dass es hier und jetzt gehört und verstanden wird?
3. Zwingli: Konvivenz!
Und jetzt noch das Dritte! Ich habe lange gesucht, ob wir ein K-Wort finden, das dasjenige auf den Punkt bringt, was ich von Zwingli beisteuern möchte: die – vor allem reformierte – Überzeugung, dass Christsein auch eine öffentliche Dimension hat, eine Verantwortung in der Welt und für die Welt, weil Christus König aller Lebensbereiche ist und sich das im Leben von Christ und Kirche auch manifestieren soll.
Konvivenz, unser glücklicher Fund beinhaltet genau dies. Ursprünglich ein Begriff aus der brasilianischen Befreiungstheologie von Paulo Freire, der die Lebens- und Hilfsgemeinschaft unter der armen Bevölkerung bezeichnete, welche dann im kirchlichen Bereich zu Basisgemeinden wurden. Der Missionstheologe Theo Sundermeier hat den Begriff übernommen für sowohl die binnenkirchliche als auch die interreligiöse Gemeinschaft. Er charakterisiert Konvivenz dreifach durch:
- gegenseitige Hilfe
- gegenseitiges Lernen
- gemeinsames Feiern
Dahinter steht ein ekklesiologischer Paradigmenwechsel, der nicht nur missionstheologische Konsequenzen hat. Sundermeier schreibt: „Jesus, das ist nicht der Mensch für andere (Bonhoeffer), sondern der Mensch ‚mit‘ den anderen. Darum kann auch die Kirche in seiner Nachfolge nicht anders, als ihre Mission aus der Konvivenz heraus zu gestalten.“[9] Konvivenz – Zusammenleben mit dem Anderen und Fremden, der und die nicht als Defiziente, sondern als Ebenbürtige wahrgenommen wird. Das bringt ein Paradox mit sich: „Bei sich selbst und gleichzeitig beim Fremden sein, Fremdheit akzeptieren, die dennoch Vertrautheit nicht unmöglich macht, Distanz halten, die Nähe ist und ein Mitsein mit dem anderen einschliesst.“[10]
Konvivenz – Zusammenleben mit dem Anderen und Fremden, der und die nicht als Defiziente, sondern als Ebenbürtige wahrgenommen wird.
Sundermeier verwendet den Begriff im missionstheologischen Zusammenhang. Was, wenn wir ihn – im Gefolge von Zwingli – für die Existenz der Kirche in der säkularen und multireligiösen Gesellschaft ausweiten?
Zwingli, der Reformator aus den Toggenburger Bergen, der sich schon als katholischer Priester in Glarus in die eidgenössische Politik und das Söldnerwesen einmischte und später gegen Luther erst recht das Reich Gottes nicht nur als ein innerliches, sondern auch als ein äusserliches Reich vertrat. Die kommende Gerechtigkeit Jesus des Christus hat hier und jetzt schon zu tun mit den äusseren Verhältnissen in der Welt. Zwingli schreibt – lange vor Bonhoeffer – : “Wer könnte leugnen, dass der Tag des Herrn gekommen ist? Nicht der letzte Tag, wo der Herr die ganze Welt richten wird, sondern ein vorletzter Tag, da die gegenwärtigen Verhältnisse erneuert werden.“[11]
Der vorletzte Tag ist angebrochen, das Reich Gottes ist hier und jetzt unter uns und verändert jetzt schon die Welt – nicht so, wie es die Schwärmer und die Bauern wollten, dass es sich schon ganz und gar hier realisieren würde und das Vorletzte gar nicht mehr gelte. Sondern so, dass das Wort Gottes, das so lebendig und kräftig ist, dass es sich alle Dinge gliichförmig machen will,[12] hindurchleuchtet durch die Verhältnisse, wie sie hier und jetzt sind.
Zwar ist auch für Zwingli die Gerechtigkeit Gottes die Gerechtmachung Gottes, die geschenkte Gerechtigkeit, die nicht mit Werken verdient sein muss. Aber als geschenkte Gerechtigkeit begegnet sie uns in der Verkündigung des Evangeliums und bleibt Forderung an die Christen. Das wird Calvin dann zum tertius usus legis ausführen, dem dritten Gebrauch des Gesetzes, das den Wiedergeborenen Christen erst recht gegeben ist. Bei Zwingli begegnet es in der Rede von der göttlichen Gerechtigkeit, gegen die die menschliche Gerechtigkeit nur eine arme „prästhaffte grechtigkeit“[13] ist, eine schadhafte und jämmerliche Gerechtigkeit, die es eigentlich gar nicht würdig sei, Gerechtigkeit genannt zu werden.
Das Wesen der göttlichen Gerechtigkeit ist die Liebe, und im Liebesgebot sind denn auch alle Forderungen der göttlichen Gerechtigkeit zusammengefasst. Sie ist das Mass, an dem alles gemessen werden soll – und das führt natürlich zu einer radikalen Gesellschaftskritik. Es erstaunt nicht, dass sich davon ausgehend ein radikaler Flügel innerhalb der Zürcher Reformation bildete, der nicht nur – wie Zwingli – Zins- und Zehntenzahlung auf 5% beschränken, sondern überhaupt abschaffen wollte. Im Unterschied zu Zwingli wollten sie zugunsten der göttlichen Gerechtigkeit die menschliche überhaupt abschaffen. Davon hat sich Zwingli entschieden distanziert. Er wirft ihnen vor, dass sie den Unterschied zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit verwischen würden, weil sie so Liebe von menschlicher Seite her erzwingen wollten. Aber göttliche Gerechtigkeit kann nur von Gott her kommen, und der letzte Tag des Herrn lässt sich nicht aus dem Vorletzten her zwingen.
Die Radikalen verkennen das Noch-Nicht, aber diejenigen, welche die herrschende Gesellschaftsordnung unkritisch oder gar gottgegeben hinnehmen, verkennen das Schon-Jetzt. Innerhalb des Vorletzten ist nämlich das relative menschliche Recht Funktionsersatz für das nicht erzwingbare Liebesgebot. Es verweist – wiewohl schwach und fehlerhaft – unablässig auf die göttliche Gerechtigkeit, und so soll diese ohne Unterlass gepredigt und verkündigt werden. Nicht um die menschliche zu verdrängen, sondern um klar zu machen, dass Gott eigentlich unendlich viel mehr fordert als bürgerliche Wohlanständigkeit.
dass Gott eigentlich unendlich viel mehr fordert als bürgerliche Wohlanständigkeit
Das heisst, dass für Zwingli die menschliche Gesellschaft nicht auf natur- oder vernunftrechtlichen Normen begründet ist, sondern sie bleibt auf das Reich Gottes bezogen und muss sich an ihr messen lassen. Sie hat immer noch „Luft nach oben“, und keine menschliche Institution hat einen Absolutheitsanspruch. Dass es Luft nach oben hat, erkennt man allerdings nur, wenn von dort oben „Oberlicht“ herkommt, wenn man Welt und Geschichte betrachtet wie Abraham „vor Gott, an den er glaubte“.[14]
Die staatliche Obrigkeit hat nichts zu glauben und hat keine Liebesherrschaft auszuüben, „aber sie hat im Relativen dem nachzueifern, was die Liebe will, nämlich aus dem Staat einen Ort zu machen, da das Leben wahrhaft menschlich wird.“[15]
Wenn nun der Staat dies vergisst, ist es an der Kirche, ihn daran zu erinnern. Damit ist sie auf das prophetische Wächteramt verpflichtet, die sozialethische Verantwortung der Christinnen und Christen im Gefolge der alttestamentlichen Propheten, den Staat auf den Schutz der Schwachen und Hilflosen zu verpflichten. Dies ist radikaler als die völlige Absage an politische Gegebenheiten, weil es ein Ja zum Zusammenleben beinhaltet, zur einer Konvivenz, die gegenseitigen Respekt, gegenseitige Hilfe, gegenseitiges Lernen und gegenseitiges Feiern mit einschliesst. Nicht gegen den Staat Kirche sein, nicht ohne den Staat, sondern mit dem Staat, so dass dieser Staat innerhalb und ausserhalb seiner Grenzen sich einsetzen kann für menschenwürdiges Leben.
Zwinglis unradikale Radikalität
Öffentliche Kirche heisst es in der neueren Diskussion, wenn Kirche in der Gesellschaft präsent und wirksam ist und dazu die Zweisprachigkeit beherrscht, nämlich „die Befragung der eigenen Traditionsquellen der Theologie mit der Kommunikabilität im allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Diskurs zu verbinden.“[16] Ich meine, wir könnten dabei einiges vom missionstheologischen Ansatz der Konvivenz lernen – und uns dabei von Zwinglis unradikalen Radikalität herausfordern lassen, nämlich uns auf die Aufgabe zu verpflichten, das Reich Gottes äusserlich sichtbar werden zu lassen, ohne zu vergessen, dass wir dabei noch im Vorletzten tätig sind – in der gegenseitigen Unterstützung, im gegenseitigen Lernen und nicht zuletzt im gemeinsamen Feiern.
4. Fazit
Kirche ernst nehmen als Geschöpf des Wortes, Kommunikation des Evangeliums, so dass es hier und heute wieder verständlich wird und Konvivenz als mit Staat und Zivilgesellschaft gemeinsames Engagement für das Reich Gottes, zwar noch nicht, aber doch schon jetzt – drei Herausforderungen der Reformatoren an unser Kirchesein über die Jahrhunderte hinweg. Wenn wir uns davon provozieren lassen, hat, so meine ich, sich das Reformationsjubiläum gelohnt.
(Christina Aus der Au Heymann; Bild: murs des réformateurs, Genf, by Mario Heinemann / pixelio.de)
[1] Überarbeitete Version eines Vortrags, gehalten an Konsultation der EKD „Kirche in der Grossstadt“, Zürich 14.9.2015.
[2] Institutio IV, 1, 1.
[3] Sendbrief vom Dolmetschen 1530, WA 30/2, 637.
[4] Z IX, 454, 16-17(in direkter Auseinandersetzung mit Luther): „Vult ergo Christus, etiam in externis modum teneri, eumque imperat; non est igitur eius regnum non etiam externum.“, zitiert in: Arthur Rich, Zwingli als sozialpolitischer Denker, in: Zwingliana 13/1 (1969), 67-89.
[5] In seinem Brief an Kardinal Sadolet, Calvin Studienausgabe 1.2, 417, 22-36.
[6] CO 31, 26, zitiert in: Christian Link, Johannes Calvin. Humanist, Reformator, Lehrer der Kirche. Zürich 2009, 7.
[7] Dieses und die folgenden Zitate aus Luthers Sendbrief vom Dolmetschen 1530, WA 30/2, 627-710.
[8] http://www.ref.ch/glaube-spiritualitaet/herbstgespraech-teil-1-kommunikation-des-evangeliums-mission-impossible/ (21.9.15).
[9] Theo Sundermeier, zitiert in Thomas Popp, Die Kunst der Konvivenz. Leipzig 2010, 5, Fn 92.
[10] Theo Sundermeier, zitiert in Popp, a.a.O., 18.
[11] De vera et falsa religione commentarius, Zwingli Werke, Bd III, 633.
[12] Von Klarheit und Gewissheit des Wortes Gottes, Zwingli Werke, Bd I, 353.
[13] Von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit, Zwingli Werke, Bd II, 485.
[14] Karl Barth, Der Römerbrief 1922. Zürich 1984 (unveränd. Abdruck von 1922), 116.
[15] Rich, a.a.O., 84.
[16] Thomas Schlag, Öffentliche Kirche, Zürich 2012, 34.