Religiöse Symbole im öffentlichen Raum haben in jüngster Zeit für viel Aufregung gesorgt – sei es in der Kreuz-Debatte oder auch im Blick auf das Kopftuchverbot. Hans Gerald Hödl geht als Religionswissenschafter der Frage nach, was überhaupt ein religiöses Symbol ist.
Viel Aufregung herrscht derzeit um religiöse Symbole im öffentlichen Raum. Darf eine Muslima ihre Glaubenszugehörigkeit durch Tragen eines Kopftuches in der Öffentlichkeit anzeigen oder setzt sie damit einen Akt, der die Unterdrückung des weiblichen Geschlechts in Ländern bestärkt, in denen eine teilweise bis fast vollständige Verhüllung des Kopfes (resp. der als weiblich angesehenen Körperformen) einer Frau in der Öffentlichkeit vorgeschrieben – und damit Zwang – ist? Ist es andererseits eine unerhebliche Sache, wenn Kreuze in öffentlichen Räumen aufgehängt werden, die nichtreligiösen Zwecken dienen, als Symbole der „Abendländischen Kultur“ – also (zumindest in erster Linie) nichtreligiöse Zeichen?
Misst man da nicht mit zweierlei Maß, wenn es um religiöse Symbolik im öffentlichen Raum geht?
Sieht man sich diese Fragestellungen gegeneinander an, handelt es sich auf den ersten Blick um Unvereinbarkeiten. Kann man zugleich Sympathien für die Musliminnen in Europa haben, die ihre oft kunstvoll gestalteten „Kopftücher“ tragen, und das Kreuz als Symbol der abendländischen Kultur ablehnen? Misst man da nicht mit zweierlei Maß, wenn es um religiöse Symbolik im öffentlichen Raum geht? Hier stellt sich die grundlegende Frage: Was ist ein religiöses Symbol?
Zur Beantwortung müssen wir „Religion“ und „Symbol“ definieren. Die Geschichte der Bestimmung beider Begriffe ist verwickelt. Was „religiöse“ Symbole betrifft, genügt das, was die DiskutantInnen darunter verstehen: Kopftuch, Kreuz, Menora, buddhistisches Mönchsgewand, die Silbe Om, der Turban usw. usf. Zeichen, welche die Zugehörigkeit eines Individuums, einer Gruppe, eines Ortes / einer Räumlichkeit zu einer bestimmten Religion anzeigen. Ein Symbol ist eine Art von Zeichen, letzteres ist ganz allgemein „etwas das für etwas anderes steht“.
Präsentative Symbole lösen je individuell Vorstellungen aus, im Extremfall ohne einen gemeinsam geteilten Inhalt.
In der Zeichentheorie unterscheidet man grundlegend zwischen dem direkten Bezeichnen (der sog. Denotation) und dem was „mitgemeint“ ist (der Konnotation), ein Vorstellungsinhalt, der individuell beim „Lesen“ eines Zeichens vollzogen wird. Darauf aufbauend, hat S. Langer zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen unterschieden. Erstere haben einen klar angebbaren Gegenstandsbezug (eine fixe Semantik), der im Zeichengebrauch über eine je individuelle Vorstellung vermittelt wird. Das Wort „Taube“ zeigt die Gattung oder eines ihrer Exemplare an, unabhängig davon, was der je individuelle Vorstellungsgehalt sein mag. Was zeigt aber eine Tonfolge in einem Musikstück an, außer dem individuellen Vorstellungsgehalt?
Nach Langer handelt es sich bei Musik, Dichtung, Kunst usw., um präsentative Symboliken, denen ein semantisch festgelegter Bedeutungsgehalt fehlt. Diskursive Symbole haben einen streng definierten Bedeutungsgehalt: Der gültige, von allen, die das Zeichen verstehen, geteilte Inhalt, was immer an individuellen Vorstellungen (z.B. eine „Eselsbrücke“) im Individuum zu diesem Verstehensprozess beitragen mag. Präsentative Symbole lösen je individuell Vorstellungen aus, im Extremfall ohne einen gemeinsam geteilten Inhalt.
Das ist aber der „Extremfall“, und man kann sich fragen, ob es wirklich rein präsentative Symbolsysteme in diesem Sinn gibt. Langer hat aber darauf hingewiesen, dass immer eine weitere Vorstellung involviert ist, wenn ein Zeichen gelesen wird. Und diese Vorstellung können wir als ein weiteres Zeichen ansehen, das ein Zeichen interpretiert. Etwas Ähnliches passiert, wenn wir ein Zeichen in einen neuen Kontext übertragen. Dann wird ein vollständiges Zeichen mit einer Ausdrucksebene (das, was etwas bezeichnet – das Wort „Taube“) und einer Inhaltsebene (das, was davon bezeichnet wird – das Tier) zu einem Zeichen für einen neuen Inhalt (die „Friedenstaube“ als Zeichen für Frieden, sodann für eine pazifistische Bewegung). Das kann man endlos so weiter spielen, Zeichen über Zeichen über Zeichen generierend.
Die „wahre Bedeutung“ eines religiösen Symbols ist … immer auf die Angehörigen einer religiösen (Sub-) Gruppe begrenzt.
Nun müssen wir diesen kleinen Exkurs in die Symboltheorie noch auf unsere Fragestellung anwenden. Sind religiöse Symbole eher präsentativ oder eher diskursiv? Wären sie streng diskursiv, gäbe es jeweils nur eine einzige richtige Interpretation der religiösen Zeichen. Wenn Religionen Auslegungsinstanzen (eine wie auch immer geartete „Lehrautorität“) ausbilden, gibt es in Bezug auf die Doktrin und die Praxis einen Zug zur Festlegung des Symbolgehaltes. Das ist ein innerreligiöser Vorgang, der festlegt, in welchem interpretativen Rahmen Angehörige einer Religionsgemeinschaft sich bewegen müssen, um nicht als „Andersgläubige“ zu gelten. Diese „diskursive“ Symbolik ist somit auf die Gemeinschaftszugehörigkeit bezogen.
Für Nichtreligiöse mag zwar eine innerreligiöse Diskursivität vorliegen, aber indem sie die reale Existenz der Objekte der religiösen Aktivitäten nicht anerkennen, ist für sie kein objektiver Gegenstandsbezug der letzteren gegeben: Es handelt sich zwar um genau definierte Inhalte, diese sind aber von der Art von Fabelwesen (der Begriff des Pegasus ist exakt definiert, obwohl es keine real existierenden Exemplare gibt). Insofern sind sie, von außen gesehen, eher präsentative Symbolsysteme mit wenig allgemeinem Bedeutungsgehalt, so wie eben Musik, Kunst, Dichtung.
Wohlwollende InterpretInnen von außen lassen aber entweder einen metaphorischen Gehalt der Religion zu oder erkennen die Bedeutung, die das religiöse Symbolsystem für die religiösen Menschen hat, an und enthalten sich eines Urteils über die „Wahrheit“ der jeweiligen Religion. Sie nehmen eine Äquidistanz zu den Religionen ein. Das ist auch das angemessene Verständnis eines weltanschaulich neutralen Staates, unabhängig vom religiösen Bekenntnis seiner AmtsträgerInnen. Die „wahre Bedeutung“ eines religiösen Symbols ist somit anders als etwa die einer mathematischen oder chemischen Formel immer auf die Angehörigen einer religiösen (Sub-) Gruppe begrenzt (wir sehen von anderslautenden Ansprüchen religiöser Menschen einmal ab).
Weder das Tragen des Kopftuches noch das Anbringen von Kreuzen hat eine kontextlose festgelegte Bedeutung, die für alle gilt und von allen gleich vollzogen wird.
Zeichengebrauch ist somit immer Sache einer Interpretationsgemeinschaft. Verbinden wir diesen Punkt mit der Einsicht, dass über Konnotationen Zeichen neue Bedeutungsgehalte zukommen können. Das bringt es mit sich, dass ein Symbol aus einem Kontext, in dem es eine bestimmte Bedeutung hat, in einen anderen übertragen werden kann, in dem es entweder eine neue Bedeutung oder eine zusätzliche Bedeutungsebene annimmt. Daraus folgt, dass weder das Tragen des Kopftuches noch das Anbringen von Kreuzen eine kontextlose festgelegte Bedeutung hat, die für alle gilt und von allen gleich vollzogen wird.
Für junge Musliminnen im Westen, die sich um Bildung und qualifizierte Berufsausübung bemühen, ist das Kopftuch als Zeichen der religiösen und kulturellen Zugehörigkeit Symbol der Selbstbestimmung, nicht der Unterdrückung. Diesen Frauen mit Verweis darauf, dass es in anderen Kontexten (das können durchaus islamisch geprägte subkulturelle Kontexte in „westlichen“ Gesellschaften sein), als Zeichen der Unterdrückung der Frau gilt, vor die Wahl zwischen Kopftuch und selbstständiger Berufsausübung zu stellen, erscheint mir als eine Ungleichbehandlung.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der Frauen, egal welcher Religionszugehörigkeit, im nichtreligiösen Kontext kein Kopftuch tragen müssen. Wollen wir in einer Gesellschaft leben, in der sie es nicht dürfen? Dann hätte der Staat das Recht, die Auslegung eines religiösen Symbols festzulegen. Und siehe da: das Anbringen von Kreuzen in Amtsstuben legt dessen Symbolgehalt auch fest – auf ein Zeichen „unserer Kultur“. Weiters sind nicht alle weltanschaulichen Gruppen, die in den „westlichen“ Gesellschaften leben, der Auffassung, dass das Kreuz die westliche Kultur angemessen symbolisiert. Was ist mit der Freiheit dieser Interpretationsgemeinschaften? Das gleiche gilt dann, wenn eine theologische Fakultät an einer staatlichen Universität in gemeinsam mit anderen Fakultäten genutzten Räumen das Anbringen von Kreuzen verlangt. Mag es für die TheologInnen ein Zeichen ihrer religiösen Identität sein, so kann es für andere ein Symbol weltanschaulicher Unterdrückung darstellen – es bedarf in Österreich keines großen historischen Exkurses, um zu zeigen, wie naheliegend das sein kann.
Es ist also nur konsequent, wenn man für die Freiheit der Musliminnen eintritt, ein Kopftuch zu tragen, zugleich gegen das Anbringen von Kreuzen in öffentlichen Räumen zu sein. Erstere sind eine Gruppe unter anderen, die ein für sie bedeutsames religiöses Symbol im öffentlichen Raum tragen, letzteres ist Definition des öffentlichen Raumes, was auch ein „Kopftuchverbot“ wäre.
Autor: Hans Gerald Hödl ist Professor für Religionswissenschaft in Wien
Beitragsbild: Pixybay