Martina Kreidler-Kos erinnert daran, wie eine Klosterschwester im 13. Jahrhundert teilhaben konnte an Geschichten und Träumen, die anderswo erzählt wurden. Ein wenig wie fernsehen – nur schöner..
Es gehört zu den liebenswerten Eigenschaften von Heiligen, dass sie alle für etwas zuständig sind. Was auch immer uns Sterbliche auf Erden in Atem hält, für fast alles gibt es eine Anwaltschaft im Himmel: Antonius von Padua etwa kümmert sich um die verlorenen Dinge, Maria um Gebärende und Wöchnerinnen – um nur einen Teil ihres Aufgabenbereiches zu nennen. Oft hat diese Zuständigkeit etwas mit dem zu tun, was die Heiligen in ihrem irdischen Leben beschäftigt hat: Josef ist der Heilige der Zimmerleute, Philipp Neri der Heilige der Spaßvögel. Klara von Assisi, deren Fest auf den 11. August fällt, ist die Heilige fürs Fernsehen. Warum um alles in der Welt?
Eine Heilige fürs Fernsehen?
Man kann sich wirklich darüber wundern, dass eine Frau des 13. Jahrhunderts Anwältin für ein modernes Medium geworden ist – vor übrigens genau 60 Jahren. Nachdem das Fernsehen seinen Siegeszug in die Lebenswelten und Wohnzimmer der Menschen – auch der katholischen – angetreten hatte, suchte die Kirche händeringend nach einem Patron oder einer Patronin. 1958 wurde sie fündig. Grund dafür ist diese Geschichte:
Es ist Weihnachten im Jahr 1252. Klara von Assisi, zu diesem Zeitpunkt etwa sechzig Jahre alt, und seit über vierzig Jahren „Arme Schwester“ in der Nachfolge Christi, liegt krank im Schlafsaal ihres kleinen Klosters San Damiano. Es ist nicht daran zu denken, dass sie in die Kapelle gehen und gemeinsam mit ihren Schwestern die weihnachtliche Liturgie feiern kann. Dabei werden die Schwestern alle Möglichkeiten abgewogen haben: „Könnte Klara nach unten getragen werden?“ Immerhin liegt die Kapelle nur ein Stockwerk tiefer. „Wenn alle mit anpacken, Klara wiegt doch kaum etwas!“ „Aber erlaubt das ihr Zustand?“ „Was ist mit der steilen Treppe?“ „Ist es nicht zu gefährlich?“ „Was wird der Priester dazu sagen? Und alle anderen, die mit uns feiern?“ Man hat sich schließlich entschieden, es nicht zu wagen.
Klara bleibt an diesem Weihnachtsabend allein in dem großen, kargen Schlafraum. Die Schwestern begeben sich leise nach unten. Langsam wird es finster, aus Sicherheitsgründen darf kein Licht brennen. Zu hören ist auch nichts. Es gibt zwar eine Luke zur Kapelle hin, ein kleines Loch im Boden, aber das befindet sich im Vorraum um die Ecke. Die Mauern sind dick und die Steine schlucken jeden Laut.
Von einsamer Dunkelheit hinter dicken Mauern …
Aus den Erzählungen ihrer Mitschwestern im Heiligsprechungsprozess wissen wir: Klara fühlt sich verlassen. Weihnachten wird gefeiert und sie kann es nicht spüren. Sie, die eine große Liebe zum Kind in der Krippe hat, kann nicht dabei sein, wenn es besungen wird. Statt festlichem Jubel nur Traurigkeit, statt warmer Lichter, biblischem Zuspruch und tröstlicher Inspiration nur einsame Dunkelheit. Wunderbare Worte hat sie für das Weihnachtsgeheimnis gefunden, immer gestaunt über die bedingungslose Nähe Gottes zu den Kleinen, den Einsamen, den Ausgegrenzten und nun ist sie selbst eine von ihnen: „O Herr, Gott, schau, wie man mich allein bei dir an diesem Ort gelassen hat.“ (Heiligsprechungsprozess der hl. Klara: ProKl 3,100) Es ist dies ihr bitterster Satz, den uns die Quellen überliefern. Die Enttäuschung ist nicht zu überhören.
Wer an dieser Stelle überrascht, ist Gott. Er maßregelt die zukünftige Heilige nicht für ihre Klage, er macht auch keine Demutsübung aus dieser Erfahrung. Im Gegenteil, er sieht, dass sie jetzt eher Trost als eine weitere Herausforderung braucht. Verzicht übt sie in ihrem Leben ohnehin genug. Deshalb erweist sich Gott in dieser Nacht als Klaras ebenso einfallsreicher wie großzügiger Liebhaber: Woran könnte sie jetzt ihre Freude haben? Was vermisst sie so schmerzlich? Die Feier der Menschwerdung. Dann soll sie daran teilnehmen können – und zwar so richtig.
… zur Teilhabe an gemeinsamem Jubel, Gesängen und guten Worten.
Am anderen Ende der kleinen Stadt Assisi haben sich aus allen Teilen Europas die Brüder des heiligen Franziskus eingefunden. In der großen, gerade neu erbauten Basilika San Francesco feiern sie die Christnacht am Grab ihres heiligen Bruders. Es sind viele, die da zusammengekommen sind, darunter großartige Sänger und Prediger. Wie wäre es, wenn Klara an diesem Fest teilhaben könnte? Wie wäre es, auf diese Weise ihr dunkles, trauriges Herz zu füllen mit der Botschaft der Heiligen Nacht: dem Kommen des Erlösers zu jeder Kreatur, auch im einsamsten und dunkelsten Winkel dieser Stadt und dieser Erde?
Und tatsächlich, Klara darf mit all ihren bedürftigen Sinnen an dieser Liturgie partizipieren. In einer Art „Life-Übertragung“ sieht sie sich mitten unter den Minderbrüdern, nahe beim Grab des geliebten Franziskus, nahe am Geheimnis der Weihnacht. Sie sieht und hört ihre vertrauten Freunde, die alten Kämpfer, aber auch die neuen, jungen Brüder, die sie vermutlich hoffnungsvoll stimmen. Sie hört den gemeinsamen Jubel, sie lauscht den Gesängen und all den guten Worten.
Als ihre Schwestern von der eigenen Feier besorgt zu ihr zurückkommen, erzählt sie ihnen von einem großen Trost. Sie teilt diese glückselige Erfahrung, strahlt, wie sie das immer tut, wenn sie vom intensiven Gebet zurückkommt, „noch klarer und schöner als die Sonne“ (ProKl 3,10), wie die Schwestern erzählen. Der Glanz der Weihnacht und vermutlich auch der Glanz dieser liebevollen Aufmerksamkeit Gottes liegt auf ihrem Herzen und auf ihrem Gesicht. Sicher wird er noch lange zu spüren gewesen sein in und für die Gemeinschaft von San Damiano.
Es bleibt: dieser liebevolle Trost Gottes.
Als man Ende der 1950er Jahre auf die Suche ging nach einem oder einer Heiligen, die einigermaßen gut begründet das Patronat für das neue Medium Fernsehen übernehmen könnte, ist irgendjemandem diese Geschichte wieder eingefallen. Man mag über dieses Unternehmen schmunzeln. Man mag außerdem denken, dass das Fernsehen 60 Jahre später seine Brisanz längst verloren hat. Klara ist weder für das Internet noch für Streaming-Dienste zuständig. Doch die vielleicht seltsam anmutende Verbindung von ihrer Erfahrung an Weihnachten 1252 und dieser kirchlichen Aktion hat eine schöne Pointe: Gott tröstet – und das manchmal äußerst phantasievoll.
Klara durfte teilhaben an Geschichten und Träumen, die anderswo erzählt wurden. Diesen Part hat oft das Fernsehen übernommen. Für viele Menschen war es – und ist es immer noch – ein Segen. Auf eine leicht zugängliche Art schafft es vergnügliche Stunden, in Krankenhäusern, Altenheimen, hintersten Ecken und abgelegenen Gebieten. Es unterstützt dabei, sich wegzuträumen, es hilft, auf große Gedanken und neue Ideen zu kommen. Es bringt Phantasie in Schwung und weckt Träume auf. Natürlich wurde und wird unendlich viel Schund im Fernsehen gemacht, Langeweile und Schmach produziert. Natürlich verschafft es über Gebühr Ablenkung, die menschliche Nähe ersetzen muss. Natürlich finden keine Begegnungen statt.
Bei aller Distanz und Kritik bleibt dieser liebevolle Trost Gottes, an den es sich in Klaras Geschichte zu erinnern lohnt. Er war nicht nur ein Genuss für eine Nacht. Im Sommer des nächsten Jahres 1253 wird Klara sterben. Noch in diesem Sterben aber kann sie ihrer eigenen Seele Mut zusprechen: „Geh sicher in Frieden, denn du wirst ein gutes Geleit haben. Denn der, der dich erschaffen hat, hat dich zuvor geheiligt. Und nachdem er dich erschaffen hat, hat er den Heiligen Geist in dich hineingegeben. Und immer hat er dich beschützt, wie eine Mutter ihr Kind, das sie liebt“ (ProKl 3, 72-73) Klara überblickt spätestens seit dem jüngst vergangenen Weihnachtsfest mehr als nur den winzigen Radius ihres Klosters oder gar ihres Sterbelagers. Sie hat mit Gottes liebevoller Unterstützung buchstäblich gelernt, weiter zu sehen.
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Dr. Martina Kreidler-Kos ist Diözesanreferentin der Frauenseelsorge und Ehe- und Familienpastoral im Bistum Osnabrück sowie Lehrbeauftragte der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Münster im Bereich Theologie der Spiritualität. Sie ist Autorin mehrere Bücher über Clara von Asissi.
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