Mit dem Leipziger Kantaten-Ring hatte das diesjährige Bachfest seinen besonderen Höhepunkt. Dieses musikalische Erlebnis regte Rolf Weibel an, von dieser Erfahrung aus über Evangelium und Musik nachzusinnen.
Der Leipziger Kantaten-Ring führte 33 Kantaten von Johann Sebastian Bach nach ihrem Ort im Kirchenjahr vom 1. Advent bis zum 27. Sonntag nach Trinitatis zyklisch auf, in neun Konzerten wechselweise in der Thomas- und Nikolaikirche sowie in einem Gottesdienst auf dem Marktplatz. Um an den ursprünglichen Kontext der Kantaten zu erinnern, wurden auch vor den konzertanten Aufführungen die entsprechenden Evangelien- bzw. Episteltexte von der Kanzel aus vorgetragen. Und um dem ursprünglichen Bach-Erlebnis noch näher zu kommen, wurden zudem, wie im 17. und 18. Jahrhundert üblich, zwischen den Kantaten entsprechende Motetten, zumeist aus der Sammlung «Florilegium Portense (Pfortaer Blütenlese)», gesungen. Jede Kantate konnte so, wie zu Bachs Zeit, als eine musikalische Predigt über den neutestamentlichen Text gehört werden.
Kantate als eine musikalische Predigt über den neutestamentlichen Text hören
Zur Vorgeschichte der geistlichen Bach-Kantaten gehört, dass norddeutsche Komponisten in der Zeit vor Bach mit großem Einfallsreichtum italienische katholische Musik für die lutherische Liturgie adaptierten. «Indem sie sich für die Vertonung von Texten entschieden, in denen sich ein bekannter Choral mit einer Geschichte aus der Bibel verband, waren sie Vorboten eines tragfähigen neuen Ansatzes, die traditionelle Botschaft der Bibel in den Kontext der zeitgenössischen lutherischen Glaubenspraxis zu übertragen und sie im Sinne einer musikalischen Predigt zu erläutern.»[1] Mit Hilfe komplexer musikalischer Verflechtung von Bibeltexten, kontemplativer Poesie und lutherischen Chorälen arbeiteten sie eine persönliche Antwort auf zentrale Aussagen des christlichen Glaubens heraus und erprobten neue Möglichkeiten, die Zuhörerinnen und Zuhörer in den Bann ihrer Werke zu schlagen.
Auch bei Bach legt nicht nur die musikalische Gestaltung des Kantaten-Textes, welcher Bibelwort, Kirchenliedstrophe und freie Dichtung vereint, das Evangelium aus, sondern die Musik insgesamt. «Bachs beste Kantaten sind musikalische Predigten, tiefer und gedankenreicher als Worte sie hätten ausdrücken können.»[2] Solche Wertschätzung der Kantate findet sich bereits bei Bachs Zeitgenossen Johann Mattheson: «Ich halte unmaßgeblich dafür, es sey eben ein solches Verbrechen, einem rechtschaffenen Cantori, bey Verrichtung seines heiligen Amts, Einrede zu thun, als einem Prediger auf der Kanzel zu wiedersprechen: denn sie treiben beyde Gottes Wort.»[3] Diese Hochschätzung der musikalischen Predigt erinnert an Heinrich Bullingers theologische Qualifikation der Predigt überhaupt:«Praedicatio verbi divini est verbum divinum – Die Predigt des Wortes Gottes ist das Wort Gottes.»
Bedeutungsträger wie Bilder, Zeichenhandlungen und, last but not least, musikalische Mittel sind Elemente weiterer Symbol- bzw. Zeichensysteme.
Weil das Christentum seine Normativität am Wort der Heiligen Schrift, an den Texten des Alten und Neuen Testaments festmacht, ist auch in seiner Geschichte das Wort der wichtigste Bedeutungsträger geworden. So ist für die Identität des Christentums seine Ideengeschichte bedeutsamer als seine Kulturgeschichte. Mit Ludwig Wittgensteins Satz, dass es Unaussprechliches gibt, das sich aber zeigt, ließe sich indes gut dagegenhalten. Andere Bedeutungsträger wie Bilder, Zeichenhandlungen und, last but not least, musikalische Mittel sind Elemente weiterer Symbol- bzw. Zeichensysteme und damit erweiterte Zugänge zu dem, was ist. Mit der Aufklärung ist die Normativität der Heiligen Schrift allerdings strittig bzw. eine für die Theologie schwierige Frage geworden. Wie kann das Evangelium als frohe Botschaft Zeit übergreifend vernommen und verstanden werden? Wie kann der historische und damit auch kulturelle Abstand zu den biblischen Texten überbrückt werden? Wie können sich «Geist und Kraft» des Jahrhunderte zurückliegenden Textes als «die Kraft Gottes» erweisen (1 Kor 2,4)?
Um eine geistliche Bach-Kantate als Predigt verstehen zu können, ist ein weiterer kultureller Abstand zu überwinden. Der Barock, Bachs Musiksprache, und vor allem die Sprache der Kantaten-Texte ist nicht mehr unsere Sprache. Und wenn wir sie verstanden haben, konfrontiert sie uns mit unserem eigenen Verständnis des Evangeliums. Christliche Zuhörerinnen und Zuhörer werden mit einzelnen starken spirituellen Akzenten etwas Mühe haben, weil in den Kantate-Texten nicht nur allgemein christliche Gedanken ausgedrückt werden, sondern manche eine lutherische Färbung aufweisen. Zuhörerinnen und Zuhörer, die dem Christentum ferne stehen, werden ihre Aufmerksamkeit mühelos wohl nur der kulturellen Dimension der Kantaten und vor allem der Zeit übergreifenden Dimension von Bachs Musik schenken können.
Bachs Musik ist mehr als eine musikalische Bibelauslegung.
Auch für eine musikwissenschaftliche Analyse ist Bachs Musik mehr als eine musikalische Bibelauslegung. Einerseits kann Bach mit musikalischen Mitteln eine biblische Szene darstellen, wenn er beispielsweise den Sturm gestaltet (Mt 8,23; BWV 81). «Eine heftig aufschäumende Gischt aus Zweiunddreißigstelnoten in den ersten Violinen, gegen ein dumpfes Pulsieren in den übrigen Instrumenten gesetzt, schwillt zu einem ohrenbetäubenden Lärmen auf den 7/6/4/2-Mollakkorden an.»[4] Anderseits kann er in einer biblischen Szene eine allgemein menschliche Situation zum Ausdruck bringen, die selbst der Musikwissenschaftler John Eliot Gardiner nur noch in einem Bild fassen kann. So beispielsweise im 4. Satz der Kantate «Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem» (BWV 159), der mit den Worten «Es ist vollbracht» beginnt. In dieser Vertonung «scheint die Zeit fast still zu stehen, ein feierlicher Friede durchstrahlt das Werk, wenn Christus sich in sein Schicksal ergibt»[5]. Gardiner weist hier allerdings auch noch auf den ungewöhnlichen Reichtum von Bachs harmonischer Sprache hin, die häufige Betonung der Tonart der Subdominante, sogar der Subdominante der Subdominante. Diese Sprache kann sich jeder Zuhörerin und jedem Zuhörer erschließen, wenn sie sich nur der Musik vorbehaltlos aussetzen!
in einer biblischen Szene eine allgemein menschliche Situation zum Ausdruck bringen
Vom Bachfest zurück, begegnet mir Kirchenmusik in einfacheren Zusammenhängen und Verhältnissen. Doch können auch Laienchöre und Liebhaberorchester mit ihrem Musizieren den Gottesdienst echt bereichern. Mich befremdet deshalb, wenn über Musik im Gottesdienst so gesprochen wird, als handle es sich um eine Verschönerung. Musik ist keine Verschönerung des Gottesdienstes, sondern ein Element seiner Gestalt, und die Sängerinnen und Sänger, die Musiker und Musikerinnen gestalten ihn mit. Ihre Rolle kleiner zu machen kommt einer Geringschätzung gleich.
Musik ist keine Verschönerung des Gottesdienstes, sondern ein Element seiner Gestalt.
Eine vermutlich nicht bewusste Geringschätzung beobachte ich gelegentlich auch gegenüber der Malerei, wenn beispielsweise die mittelalterliche Glas- und Freskenmalerei mit biblischen Themen als «Biblia pauperum – Bibel für die Armen» erklärt wird. Denn die Armenbibel ist eine mittelalterliche Sammlung von Blättern, auf denen Szenen aus dem Alten Testament solchen aus dem Neuen Testament in Bild und Text einander typologisch zugeordnet sind. Die Armenbibel ist so nicht fromme Malerei für arme Analphabeten, sondern eine typologische Auslegung des Evangeliums im Sinne von alttestamentlicher Verheißung und neutestamentlicher Erfüllung. Die, nicht nur mittelalterliche, Glas- und Freskenmalerei mit biblischen Themen eröffnet dagegen, wie Bachs Kantaten, einen eigenen Zugang zum Evangelium.
Vermittlung [des Evangeliums] geschieht mit unterschiedlichen Ausdrucksformen.
Das Evangelium ist als Text auf Vermittlung angewiesen, damit es heute als Frohe Botschaft vernommen werden kann. Diese Vermittlung geschieht mit unterschiedlichen Ausdrucksformen. Die auf das Wort bauende Auslegung in Theologie und Predigt ist nur eine Möglichkeit. Es lohnt sich, auf die Kraft auch der Musik, der Bilder und der Literatur zu vertrauen.
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Text: Rolf Weibel, Dr. theol., war Redaktionsleiter der «Schweizerischen Kirchenzeitung» und arbeitet nachberuflich weiterhin als Fachjournalist.
Bilder: Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Pressestelle des Bachfests Leipzig.
[1] John Eliot Gardiner, Bach. Musik für die Himmelsburg, München 2016, 201.
[2] Friedrich Blume, Geschichte der evangelischen Kirchenmusik, Kassel 21965, 191.
[3] Zitiert bei Gardiner, Bach, 183.
[4] John Eliot Gardiner, in: Programmbuch des Leipziger Kantaten-Rings, Leipzig 2018, 75.
[5] Gardiner, Programmbuch, 102.