Am Abend des 13. März 2013 hatte kaum ein Mensch eine Ahnung, wer dieser Bergoglio ist, der da „vom Ende der Welt“ kam und zum Papst gewählt worden war. Pablo Argárate zum argentinischen Kontext des Papstes und zu seinem Leben vor der Wahl zum Bischof von Rom.
Die Spanier kamen Anfang des 16. Jahrhunderts und „entdeckten“ mit Kreuz und Schwert das Land, das wir heute Argentinien nennen. Die Region und ihre Kulturen hatten das Niveau weder der Azteken noch der Inkas. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die „Vereinigten Provinzen des Südens“ von Spanien unabhängig und nach konfusen Dekaden entwickelt sich ein nationales Projekt, wo die Indianer vertrieben und ausgerottet und durch europäische Einwanderer abgelöst wurden. In der Tat wird besonders zwischen 1880 und 1930 Argentinien neben den USA das gelobte Land für Millionen Menschen, die aus der Not und den Verfolgungen aus Europa, dem Mittleren Osten und vor Pogromen in Russland fliehen.
Reichtum und Korruption, Autoritarismus und Demokratie: Argentinien
Das Land wird bis zu 1950 zu einem der reichsten Länder der Welt. In diesem Kontext entsteht das höchst komplexe Phänomen des Peronismus, der auf dem Reichtum basierend einen Sozialstaat aufbaut. Doch herrscht gleichzeitig auch große Korruption und ein fast faschistischer Autoritarismus. Militärputsche, die seit 1930 nicht unbekannt waren, wechseln sich mit demokratischen Regierungen ab. 1973 kommt Perón aus dem Exil und die Situation entwickelt sich zu einer Art Bürgerkrieg mit Terrorismus von links und rechts. 1976 wird ein neuer Putsch von der großen Mehrheit der Gesellschaft begrüßt, führt jedoch in seinem Kampf gegen die „Subversion“ zu einer brutalen Repression mit 30.000 Verschwundenen.
Erst nach dem Krieg um die Malvinas kehrte 1983 die Demokratie zurück. Die Korruption verschwand jedoch nicht und das Land ging 2001 pleite. In den folgenden Jahren erholt sich Argentiniens Wirtschaft allmählich. Doch geht diese Erholung gleichzeitig mit Korruption und dem Autoritarismus der Kirchners einher. Seit 2015 regiert der neoliberale Mauricio Macri das Land.
Unter den Millionen Einwanderern war 1930 eine Familie aus dem Piemont. Sechs Jahre später wird als erster von fünf Kindern Jorge Mario in Buenos Aires geboren. Nicht Mediziner, wie er versprochen hatte, sondern Seminarist wurde er nach der Schule, was jahrelang für große Schwierigkeiten besonders mit seiner Mutter sorgte. 1969 wurde er zum Priester geweiht.
1973 ersetzt Rom den Provinzial der Jesuiten in Argentinien, Ricardo O’Farrell, der von seinen konservativen Feinden beschuldigt wurde, Anhänger der Befreiungstheologie zu sein, durch den erst vier Jahre zuvor ordinierten Bergoglio. Diese Jahre 1973 bis 1976, in denen er die Jesuiten in Argentinien leitete, gelten als die schwierigsten Jahre in der Geschichte des Landes überhaupt, eine Zeit des Terrorismus und der brutalen Repressionen durch das Militär. Seine Zeit als Provinzial ist bis heute stark umstritten, da er die Jesuiten de facto entzweite, tatsächlich sah man sich gezwungen, nach seiner Amtsperiode einen Provinzial aus dem Ausland zu holen. Die problematischen Konsequenzen seiner Amtszeit dauerten für viele Jahre fort. Bergoglio selbst hat darauf hingewiesen, dass er viele Fehler gemacht habe, vor allem durch sein unerfahrenes autoritäres Auftreten, Nicht-Zuhören und viele falsche Entscheidungen.
Ein Jesuiten-Provinzial mit autoritärem Auftreten.
Nach diesen schwierigen Jahren als Superior scheint der Stern des jungen Jesuiten eher zu verblassen. Eigentlich wussten die Jesuiten nicht, was sie mit ihm machen sollten. Zunächst wurde er zum Rektor der Jesuitischen theologischen Fakultät bestellt und dann nach Deutschland entsandt, um dort sein Doktorat zu machen. Er brach das Studium dort ab und kehrte nach Argentinien zurück, wo er schließlich eine Reihe von Vorlesungen hielt.
Eines Tages im Jahr 1990 wurden seine Studenten plötzlich informiert, dass Padre Bergoglio sie nicht mehr unterrichten würde. Er wurde in meine Heimatstadt entsandt, nach Córdoba, wo ihm jeder Kontakt zu den anderen Jesuiten untersagt wurde und seine einzige Aufgabe im Hören der Beichte bestehen würde. In gewisser Hinsicht hatten sich die Jesuiten seiner entledigt und Bergoglio war in seiner sheol angekommen. Seine Mitbrüder in Córdoba, mit denen er wenig Kommunikation hatte, hielten ihn für krank, ja verrückt. Er sollte dieses Leben fast zwei Jahre lang führen; hier vollzog sich schließlich seine Transformation. Seine einzige Funktion in Córdoba war das Zuhören, und er erfüllte sie ganz. Er lernte zuzuhören. Im Jahr 1992 wurde er überraschend zum Weihbischof von Buenos Aires bestellt und hier zeigte sich plötzlich ein völlig veränderter Bergoglio.
Eine Schule des Zuhörens.
Sogar die Jesuiten, die ihn seit Jahrzehnten gekannt hatten, waren von Bergoglios Veränderung verblüfft. Einer von ihnen bestätigte in einem Interview, dass sie damals nicht verstanden haben, was in Bergoglio vor sich ging. Der früher so konservative Mann widmete sich nun den Armen und ihren Problemen. In seiner Zeit als Weihbischof besuchte er sehr oft die Slums von Buenos Aires und kümmerte sich um die Ausgeschlossenen. Interessanterweise hatte er als Superior bei den Jesuiten seinen eigenen Priestern diesen Dienst in den Slums untersagt und zwei von ihnen waren schließlich vom Militär gekidnappt worden. Bergoglio hatte begonnen, die Armen als locus theologicus zu begreifen, als Subjekt statt als Objekt; die Armen als die von Gott Geliebten, die ihm am nächsten waren. So kam er, 20 Jahre nach den entführten Priestern, schließlich zum selben Schluss wie diese. In den Slums verstand er die Welt anders zu sehen.
Die meisten Einwohner der Slums sind wiederverheiratete Menschen oder alleinerziehende Mütter. Alle gehen dennoch zur Kommunion. Bergoglios Priorität wurde es, die Probleme zu verstehen, mit denen die Armen konfrontiert sind, statt einer Fokussierung auf Gehorsam auf unflexible Regeln. Er nahm die Relevanz der existentiellen Peripherien wahr und zugleich spürte er die Distanz und die Arroganz des Zentrums, der römischen Kurie. Kardinäle der Welt werden von Beamten des Vatikans wie Messdiener behandelt, während Bergoglios konservative Feinde ihn heimlich in Rom denunzierten.
Die Relevanz der existentiellen Peripherien.
Als Weihbischof und später nach 1998 als Erzbischof, führte er ein sehr bescheidenes Leben, nicht im Bischofspalast, sondern in einer kleinen Wohnung, die er mit einem älteren Priester teilte, den er auch versorgte und verpflegte. Er fuhr nicht in einer Limousine, sondern nahm die U-Bahn oder den Bus. An den Wochenenden vertrat er oft Priester in deren Pfarren, damit diese sich etwas Zeit frei nehmen konnten. Auch als er 2001 zum Kardinal gemacht wurde, lebte er weiterhin in dieser Weise. Im Konklave im Jahr 2005 war er der liberale Gegenkandidat zu Ratzinger und hätte dessen Wahl blockieren können. Vor seiner Wahl hatte er, wie es für katholische Bischöfe die Regel ist, wenn sie 75 Jahre alt werden, seinen Rücktritt eingereicht und ein Zimmer in einem Haus für pensionierte Priester gefunden. Im März 2013 kaufte er ein Economy-Ticket, nicht die vom Vatikan üblicherweise bezahlte Erste Klasse, um in Rom dem Konklave beizuwohnen. Sein Rückflug sollte verfallen. Was war geschehen?
Wie früher Helder Camara oder Óscar Romero erlebte auch Bergoglio seinen Weg nach Damaskus und zwar in Córdoba. Da verstand er, dass die Kirche keine Zollstation, sondern das Vaterhaus, ein Feldlazarett oder eine Oase der Barmherzigkeit ist. Die Revolution des Franziskus scheint die Kirche wieder zurückzuführen auf die zentrale Botschaft Jesu, die Botschaft der Barmherzigkeit.
Eine Revolution der Barmherzigkeit.
Was viele nicht wissen, aber dennoch spüren, ist, dass Franziskus die Barmherzigkeit predigt, weil er sie in seinem eigenen Leben erfahren hat. Er wiederholt stets, dass er ein Sünder sei, und in dieser Aussage steckt keine Übertreibung. Bergoglio lernte durch seine eigenen Fehler, was Barmherzigkeit bedeutet. Diese Revolution des Franziskus ist vor allem eine Revolution, die zuerst im Leben Bergoglios selbst stattfand.
Niemand ist ausgeschlossen von der Barmherzigkeit Gottes: die Armen, Missbrauchten, Ausgestoßenen, Verfolgten, alte Menschen, Kranke, jene in „ungeregelten“ Lebenssituationen, all jene, die durch das Leben und schreckliche Erlebnisse gebrochen sind. Barmherzigkeit ist jedoch nicht nur die letzte und vollkommene Offenbarung der Trinität im Antlitz Jesu Christi, sondern wird auch, wie Franziskus in Amoris laetitia schreibt, „zum Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind. Wir sind also gerufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde.“ (Nr. 310)
Diese Übung der Barmherzigkeit richtet sich vor allem an die Sünder, Armen, Ausgestoßenen, Kranken und Leidenden, die Verachteten, mit denen Gott sich identifiziert. Sie ist der „Schlüssel zum Himmel“ (Evangelii gaudium 197). Oder, anders ausgedrückt, sie ist das „Kriterium“, d.h. das Gericht, wonach wir alle am Ende der Geschichte gerichtet werden.
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Bild: Kongressfolder „Papst Franziskus und die Revolution der zärtlichen Liebe“, Universität Wien, im Oktober 2015
Pablo Argárate ist Professor für Ökumenische Theologie, Ostkirchliche Orthodoxie und Patrologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz.