Für viele Geflüchtete bleibt als letzter Ausweg nur das Kirchenasyl. Julia Lis über eine christliche Praxis im Spannungsfeld von staatskirchlichen Interessen und radikaler Solidarität.
Die migrationspolitische Diskussion hat sich in den letzten Wochen und Monaten ein weiteres Mal zugespitzt. So zeigt die in diesem Sommer aufgekommene Seebrückenbewegung zum einen, dass sich erfreulicherweise Protest gegen die Brutalisierung europäischer Abschottungspolitik auch im bürgerlichen Lager regt, zum anderen aber auch, wie wenig selbstverständlich das Recht auf Leben von Geflüchteten mittlerweile ist. Denn bis in liberale Zeitungen hinein wird nun darüber diskutiert, ob und in welchem Maße man Seenotrettung auf dem Mittelmeer überhaupt betreiben sollte. Selten also war öffentlicher Protest gegen diesen staatlichen Angriff auf grundlegende Menschenrechte von Geflüchteten so gefragt wie heute. Vor einer solchen Konfrontation mit dem Staat in dieser Frage schrecken aber die Kirchen zurück.
Kirchenasyl ist eine mutige Form des zivilen Ungehorsams „von unten“.
Kirchenasyl zwischen Einzelfallhilfe und Politik
Die allgemeine Haltung der Kirchen in Deutschland zum Thema Migrationspolitik zeigt sich nirgends so deutlich wie an der Frage des Kirchenasyls. Entstanden ist es als mutige Form des zivilen Ungehorsams „von unten“. Leitend ist der Gedanke, dass eine christliche Gemeinde ihre Solidarität mit Geflüchteten nur dann ernst nehmen kann, wenn diese nicht dort endet, wo Geflüchtete abgeschoben werden. Diese Praxis musste oftmals gegen die erklärten Widerstände aus den Kirchenleitungen verteidigt und durchgesetzt werden. Menschen in Gemeinden sahen und sehen sie als eine Form, ihre radikale Solidarität mit geflüchteten Menschen zu artikulieren und zu praktizieren.
Das Kirchenasyl hilft Menschen in Härtefallsituationen.
Besondere Bedeutung hat das Kirchenasyl seit der Dublin-Verordnung erlangt, nach der Asylanträge im EU-Ersteinreiseland gestellt werden müssen. Hier kann das Kirchenasyl helfen, die sechsmonatige Überstellungsfrist, in der in einen anderen EU-Staat abgeschoben werden kann, zu überbrücken.
Gründe für solche Dublin-Kirchenasyle gibt es viele: In Italien ist es vor allem die soziale Situation, die für dorthin Abgeschobene unzumutbar ist: Es gibt kaum Arbeitsmöglichkeiten und kein staatliches Sozialfürsorgesystem, Geflüchtete leben auf der Straße und sind auf eine notdürftige Versorgung durch Suppenküchen angewiesen. In den osteuropäischen Ländern sind es neben der schlechten Versorgungslage auch mangelhafte Schutz- und Unterstützungsmöglichkeiten, die eine drohende Überstellung dorthin unmöglich machen: Inhaftierungen in Zentren, in denen gefängnisartige Zustände herrschen, mangelnde Hilfestellungen bei Asylverfahren oder Misshandlungen von Geflüchteten sind hier zahlreich dokumentiert.
Aus skandinavischen Ländern wiederum drohen häufig Kettenabschiebungen in den Irak, Iran oder nach Afghanistan, die mit Gefahr für Leib und Leben verbunden sein können. Hinzu kommen Notsituationen, die sich daraus ergeben, dass jemand nach einer Abschiebung seines familiären Umfeldes beraubt wäre, oder die durch Krankheiten und psychische Traumatisierungen entstehen.
Das Kirchenasyl ist staatlichen AkteurInnen ein Dorn im Auge.
Dass so viele Menschen durch die Dublin-Verordnung in Härtefallsituationen geraten, stellt deren menschenrechtliche Legitimation grundsätzlich und prinzipiell in Frage. Gerade deswegen sind diese Fälle von Kirchenasyl trotz ihrer verschwindend geringen Zahl (derzeit 867 Menschen bundesweit) staatlichen AkteurInnen ein Dorn im Auge. Sie zeigen das Versagen europäischer Asylpolitik auf, die mit einem enormen bürokratischen Aufwand eine systematische Überforderung gerade der ärmeren europäischen Länder produziert und deren Kosten auf dem Rücken der Geflüchteten ausgetragen werden. Dabei bemüht sich die kritische Migrationsforschung seit langem aufzuweisen, dass gerade die oft zum Schreckgespenst erklärte ungesteuerte Migration durchaus rationalen Erwägungen folgt: Geflüchtete und MigrantInnen wollen zumeist dort leben, wo sie über ein soziales Netz verfügen, wo sie Sprachkenntnisse besitzen oder hoffen können, möglichst bald eine Erwerbsarbeit zu finden. Nach solchen Gesichtspunkten das europäische Ankunftsland frei zu wählen, bleibt ihnen jedoch wegen des Dublin-Systems versagt.
Staatliche Angriffe auf das Kirchenasyl
Dass der deutschen Politik das Kirchenasyl nicht genehm sein kann, weil es die Mängel des Dublin-Systems deutlich vor Augen führt, ist insbesondere seit dem Februar 2015 deutlich geworden. Der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte seine grundsätzliche Ablehnung des Kirchenasyls deutlich gemacht und den Kirchen vorgeworfen, hier eine Art „Scharia“ zu installieren. Die Kirchenleitungen bemühten sich einerseits, das Kirchenasyl zu verteidigen, verwiesen aber auch auf den Aspekt der Einzelfallhilfe, mit dem man den Rechtsstaat nicht infrage stellen wolle. Aus dem Konflikt folgten Gespräche zwischen VertreterInnen der Kirchenleitungen, des Bundesinnenministeriums und des zuständigen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Das Kirchenasyl sollte bestehen bleiben; die Kirchengemeinden wurden gebeten, zukünftig Härtefallbegründungen in Form von Dossiers für jeden Einzelfall zu erarbeiten, die dem BAMF vorgetragen werden konnten; offizielle AnsprechpartnerInnen kirchlicherseits wurden benannt, über die das Einreichen der Dossiers erfolgen sollte.
Staatliche Regulierung gefährdet das Kirchenasyl als unmittelbare Gemeindepraxis.
Die staatlichen Regulierungsbemühungen lassen sich in mindestens zwei Punkten kritisieren: Zum einen wird versucht, das Kirchenasyl in einer Form zu institutionalisieren, die es von den Kirchengemeinden wegrückt und eine mittlere Ebene von AnsprechpartnerInnen einbaut. Zum anderen wird durch die Prüfung der Dossiers durch das BAMF suggeriert, das Kirchenasyl diene dazu, eine Art Selbstrevision des BAMF zu beantragen. Beide Probleme wurden durch die Verschärfungen der Kirchenasylpraxis seit dem 01.08.2018 virulent: Nun haben Innenministerkonferenz und BAMF entschieden, dass die Überstellungsfrist sich bei Kirchenasylen von sechs auf 18 Monate verlängert, wenn kein Dossier vorgelegt wird, keine kirchliche Ansprechperson benannt wird oder die Härtefallgründe im Dossier durch das BAMF nicht akzeptiert werden. Diese Verlängerung galt bislang nur, wenn Geflüchtete untergetaucht sind und ihr Aufenthaltsort unbekannt war. Diese Regelung erhöht den Druck auf die Gemeinden erheblich und verschärft die Bedingungen für Kirchenasyle sowohl für gastgebende Gemeinschaften wie für die Geflüchteten.
„Wer zieht die Grenzen der Solidarität?“
Und die Kirchen?
Diese Verschärfung passt zu einer Politik der zunehmenden Entrechtung Geflüchteter, wie sie von Innenminister Seehofer führend repräsentiert wird; der Aufschrei aus den Kirchen bleibt aber aus. Hier und da gab es zwar Kritik an dieser Neuregelung, schnell aber wurde davon gesprochen, wie sie sich praktikabel umsetzen lässt, anstatt sie zu skandalisieren und öffentlich zu delegitimieren. Besonders erschreckend waren in diesem Zusammenhang die Aussagen von Prälat Karl Jüsten, der für die katholische Seite die Verhandlungen mit dem BAMF führte: So kritisierte Jüsten die Kirchenasyl-Praxis der Gemeinden, die sich seiner Meinung nach nicht ausreichend um eine Umsetzung der staatlichen Vorgaben bemühten.
Damit wird deutlich, dass nicht nur der Staat, sondern auch weite Teile der Kirchen ein bürokratisches Verfahren, das von den staatlichen Stellen akzeptiert wird und somit den Eindruck klarer Regeln erweckt, einem kompromisslosen Einsatz für Menschenrechte vorziehen, der es manchmal erfordert, sich über das kodifizierte Recht hinwegzusetzen. Solange aber ChristInnen im Ernstfall dazu nicht bereit sind, bleibt ihr Engagement merkwürdig zahnlos: Es scheut die Konfrontation mit den staatlichen Apparaten um der Rechte derer willen, die von Abschiebungen und Menschenrechtsverletzungen unmittelbar bedroht sind. So aber lassen ChristInnen einen staatlichen Apparat die Grenzen der Solidarität ziehen, der jeden Tag aufs Neue beweist, wie wenig er bereit ist, die Rechte Geflüchteter zu respektieren.
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Autorin: Dr. Julia Lis ist Mitarbeiterin am Institut für Theologie und Politik in Münster und engagiert im Netzwerk Kirchenasyl Münster.
Bildquelle: Institut für Theologie und Politik (ITP).