Christian Kern berichtet von einer brandaktuellen Tagung in Löwen. Er bietet nicht nur spannende Einblicke, sondern auch eine Typologie des theologischen Umgangs mit rechts-identitärem Denken.
„Identitäre“ Logiken sind en vogue. In Zeiten sozialer Unsicherheit bieten sie sich als mutmaßlich sichere Häfen an. Identitäten werden konstituiert und stabilisiert, indem das Andere, Fremde, Irritierende und Durchkreuzende aus dem Eigenen herausgehalten wird. „Identitär“ wird dieser Prozess, wenn eine möglichst reine Fassung des „Eigentlichen“ angezielt ist und das Andere ressentimentgeladen und gewaltsam außen vor gehalten wird. Identitäre Logiken haben Versuchungskraft. Sie verheißen individuelle wie soziale Stabilität. Doch zu welchem Preis? Zur Sicherung des Eigenen entfalten sie epistemische, exklusivierende oder sogar exzessive Gewalt. Diese kann unterschiedlich daherkommen: als kühle Abweisung von Fremden am Taxistand, als Polarisierung in Midterm-Wahlkämpfen auf Kosten von Migranten, als Attentat auf die Synagoge „Tree-of-Life“ in Pittsburgh.
Vom 25. bis 28 Oktober, zur Zeit des Pittsburgh-Attentats, fand in Löwen in der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaften ein Workshop statt, der eben diese identitäre Logik zum Thema hatte: „Die identitäre Versuchung – Identitätsverhandlungen zwischen Emanzipation und Herrschaft“. Er wurde veranstaltet von der Plattform Theologie der Befreiung in Zusammenarbeit mit dem Centre for Liberation Theology der KU Leuven. Was ist Identität und wie formt sie sich heraus? Was kennzeichnet sog. identitäre Praktiken und Diskurse und was begründet ihre aktuelle Anziehungskraft? Welche Konsequenzen ergeben sich für Befreiungstheologie? In zwei Keynote-Lectures, 12 Diskussionsforen mit jeweils ca. 3 Kurzreferaten, vier Plenardebatten sowie drei Morgengebeten wurden die Fragen bearbeitet und gestaltet. Ca. 50 Personen europäischer, süd- und US-amerikanischer, afrikanischer und asiatischer Herkunft sowie unterschiedlicher religiöser und konfessioneller Zugehörigkeit nahmen am Workshop teil.
Allianz mit religiösen Fundamentalismen katholischer Prägung
Die verschiedenen Beiträge des Workshops thematisierten zunächst Formatierungsprozesse von kollektiven Identitäten, wie sie sich derzeit in Politik, Religion, Kultur beobachten lassen. In ihrer Keynote-Lecture ging etwa Rita Perintfalvi (Universität Wien) auf das Erstarken des Rechtspopulismus in Osteuropa ein sowie dessen Allianz mit religiösen Fundamentalismen katholischer Prägung. Im Gegenüber zur Komplexität und Pluralität liberaler Demokratien suggerieren rechtspopulistische Weltsichten einfache Orientierung. Religionsgemeinschaften erhoffen sich im Schulterschluss damit, ihrem schwindenden gesellschaftlichen Einfluss entgegenzuwirken. Zensurmaßnahmen der ungarischen Regierung etwa in Bezug auf Fragen zu Gender und Geschlechtergerechtigkeit markieren ein heißes Feld der Debatte.
In seiner Keynote-Lecture beleuchtet Lawrence Nwankwo (Universität Anambra, Nigeria) sozioökonomische Konflikte aus einer afrikanisch-nigerianischen Perspektive, u.a. anhand des Beispiels der Fulani-Hirten. Bei deren nomadischen Wanderungsbewegungen mit ihren Herden kommt es regelmäßig zu bewaffneten Konflikten mit fest ansässigen Bauern anderer Stämme. Ethnische Zugehörigkeiten werden konstruiert und instrumentalisiert, um politische und ökonomische Interessen durchzusetzen oder zu bestreiten.
Identitätspolitiken
In den panels wurden weitere Identitätsformierungen benannt, über Afrika und Europa hinaus: etwa Identitätspolitiken auf den Philippinen, Verbindungen aus Ethnizität und Religion im zeitgenössischen Hinduismus und Buddhismus, das Streben nach Indigenität im Nahen Osten oder in Territorien Südamerikas sowie – quer zu diesen Prozessen – die performative Erzeugung und soziopolitische Versicherung von Geschlechtern und sexuellen Identitäten.
In solchen Formierungsprozessen von Identität lässt sich bisweilen eine „identitäre Logik“ ausmachen. Sie besteht in einem Willen zu homogenen, eindeutigen Identitäten und betont die kollektive Zugehörigkeit gegenüber dem Individuellen. Dieser Wille zu Identifizierung ist mit einem Wissen um das (vermeintlich) Eigentliche dieser Identitäten in Vergangenheit und Gegenwart verbunden. Es wird so eine Identität aufgebaut bzw. verteidigt, die sich von ihrem Anderen unterscheidet und sich selbst durch dessen Ausschluss konstituiert.
Diese identitäre Logik hat aktuell Anziehungskraft. Sie reduziert, so Rita Perintfalvi, Komplexität und suggeriert Sicherheit, Überschaubarkeit und den Erfolg sozialer Organisation durch Homogenisierung. In dieser Verheißung besteht ihre identitäre Versuchungskraft. Die darin eingelagerten Erfolgs- und Sicherheitsversprechen können in der Folge die epistemische Gewalt von Inklusions-/Exklusionsprozessen kaschieren; sie können ebenfalls auch zur Legitimierung exzessiver Gewalt dienen, etwa eines Tree-of-Life-Attentats. Dort verdichtet sich die epistemische Gewalt im tödlichen Exzess.
Identitäre Logiken rufen Reaktionen hervor. Die Beiträge des Workshops und seine Diskussionen kommen auf eine Vielzahl an Reaktionen zu sprechen, die sich grob in drei Hauptsträngen bündeln lassen.
Reaktion 1: Emanzipative Gegenidentifizierung
Eine erste Reaktionsweise ließe sich als ‚emanzipative Gegenidentifizierung‘ bezeichnen. Hegemoniale Identifizierungen scheiden Anderes aus ihren normativen Ordnungen aus. Im Gegenüber zu diesen Ausschlüssen können nun aber gegenläufige Identifizierungsprozesse verlaufen; z.B. als Zugehörigkeit zu diskreditierten oder marginalisierten Gruppen. Eventuell sind solche Gruppen zunächst ohne eigene Sprache und Bühne, können diese aber erhalten bzw. erlangen. Im Rückgriff auf eventuell verschüttetes kulturelles Erbe oder kraft sozialer Imaginationen können sie sich gegen-identifizieren, eigene Ansprüche formulieren und sichtbar machen. Gayatri Spivaks „strategischer Essentialismus“ argumentiert in diese Richtung.
Reaktion 2: Integrative Universalisierung
Eine zweite mögliche Reaktionsweise, die im Workshop Kontur gewann, setzt auf ‚integrative Universalisierung‘. Identitäre Logiken betonen die Notwendigkeit, partikulare, reine Identitäten zu bilden und Kulturen bzw. Völker entsprechend voneinander zu segregieren (Ethnopluralismus). Im Gegenüber zu diesen exklusiven Partikularismen betonen einige der Workshopbeiträge die Kraft von Leitideen oder Regulativen, die auf’ s Ganze bzw. Universale gehen: verbindende Horizonte, die Partikularismen relativieren und kritisch aufbrechen. Rita Perintfalvi betont die Notwendigkeit, Menschlichkeit wieder neu zu lernen und empathiefähige und verletzbare Formen der Interaktion wiederzu(er)finden (“re-learning to be human“). Lawrence Nwankwo betont die regulativen Ideen einer „common humanity“ und plädiert für eine Hegemonie der Solidarität („towards a hegemony of solidarity“).
Reaktion 3: Widerständige Bestreitung
Durch diese beiden Positionen hindurch zeigt sich eine dritte, im Sinne einer ‚widerständigen Bestreitung‘. Hegemoniale Identifizierungen erscheinen nicht plötzlich, sondern bilden sich in zeitlichen und räumlichen Prozessen heraus. Als Identitäten, wie sie heute bestehen und Natürlichkeit beanspruchen, können sie von daher kritisch gesehen und in ihrer Selbstverständlichkeit infrage gestellt werden. Solche widerständigen Bestreitungen von Geltungsmacht decken beispielsweise die Konfliktgeschichten ihrer Genese auf, machen räumliche Ausschlussmechanismen sichtbar, spielen die innere Widersprüchlichkeit und Hybridität von Identitäten ein, setzen soteriologischen Masternarrativen der Heilung irritierende, gespenstische Narrative der Heimsuchung entgegen. In solchen widerständigen Bestreitungen artikuliert sich ein critical unrest, in dem sich Räume und Rhythmen als kontingent erweisen und Identitätsformationen subversiv unterlaufen oder kreativ überschritten werden.
Alle drei Varianten reagieren auf die identitären Logiken. Sie setzen ihnen etwas entgegen. Der Referenzpunkt, auf den sie jeweils reagieren, sind die Machtgehalte identitärer Prozesse. Sie versuchen, diese Macht zu entkräften, zersetzen, zerstreuen.
Ansatz bei der Ohnmacht der Anderen
Im Laufe des Workshops deutete sich noch ein weiterer Ansatzpunkt an, der anderswo liegt: Nicht in der Macht des Identitären, sondern in der Ohnmacht der Anderen. Wo gewaltsame Ein-/Ausschlüsse stattfinden, entstehen Ohnmachtssituationen. Menschen bleiben draußen vor der Tür, jenseits der Mauer, verlieren Gesicht oder Sprache oder Leben. Solche Ohnmachtsgehalte rücken schnell aus dem Sichtfeld, weil sie vom Dröhnen der (Wort-)Gefechte überlagert werden.
Aber sie bieten dennoch einen alternativen Ansatzpunkt. Menschen haben die Fähigkeit, sich über Ohnmachtserfahrungen zu verbinden. Diese Form der Solidarisierung erzeugt ein „wir“, das gerade keine stabilen Identitäten erzeugt, sondern bestehende Identifizierungen durchkreuzt und jenseits davon, in einen offenen Raum führt. Der Macht identitärer Logiken tritt hier die Autorität geteilter Ohnmachtserfahrungen entgegen. Dort liegt die Herkunft der Befreiungstheologie. Könnte sie in den aktuellen Debatten rund um identitäre Logiken nicht gerade diese Schwäche stark machen?
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Christian Kern ist Post-Doc an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaft, Leuven/Belgien.
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