Es ist das Beten selbst, das den Himmel öffnet (Lk 3,21) und die ganze Szene unter einen zärtlichen Blick stellt, der die Welt auf neue, freundliche Weise erhellt. So wird das Schwere ein wenig leichter und der träge Nächste nicht mehr ganz so anstrengend. Von Isabella Bruckner.
Beten lehrt neu sehen. Oder vielleicht kann man auch sagen: Es lenkt den Blick ab bzw. um in einer Weise, die den anderen nicht völlig nackt und allzu direkt zum Adressaten und Projektionsort meiner Wünsche werden lässt – eine Bewegung, die sich bereits in dem einfachen Gruß des „Grüß Gott!“ ausspricht. Die an ein anderes Du adressierte Anrufung schafft (potentiell!) einen kleinen Raum, einen Abstand der Gewaltlosigkeit zwischen Dir und mir. Besonders dem Segnen – in den biblischen Büchern eine der vorzüglichen Weisen göttlicher Zuwendung und damit auch Grundzug jüdisch-christlichen Betens – eignet verwandelnde Kraft, die das Dasein in seiner überreichen Fülle an Möglichkeiten zum Aufscheinen bringt.
Die gebotene Sammlung.
Nicht selten findet die gebotene Sammlung für das Gebet gerade währenddessen statt. Die althergebrachten Worte – nicht immer ganz verstanden, oft auch nicht auf ihren letzten Sinn hin befragt – bieten Raum fürs eigene Erzählen. Aus der Erinnerung fliegen, von den fremden Worten evoziert, die Bilder bedeutsamer Momente und Augenblicke zu. Aus ihnen spinnt sich der persönliche Text des Tages, der sich mit dem tradierten Wort verflicht. Hin und wieder passiert es, dass sich die beiden Erzählstränge gegenseitig auf ganz wundersame Weise aufblitzend neu beleuchten und sich plötzlich doch Sinn neu schenkt. Widerfuhr es so nicht auch den beiden Jüngern von Emmaus, denen – zunächst gefangen im Dunkel der eigenen Trauer – erst nach und nach im Mitgehen des Wortes und in der bezeichnenden Geste ein Licht für die eigene Situation aufging?
Im Mitgehen des Wortes.
Gemurmelte Worte, gesungene Verse und stille Gesten säumen die Zeiten des Tages, die Dinge, die Wege. Sie hüllen die Phänomene in ein sanftes (oder besänftigendes) Licht, begleiten oft auch mehr lateral oder im Hintergrund als direkt das weltliche Tun. Ein Hoffen liegt in ihnen. Ein Hoffen, dass das Begegnende und das eigene Mühen – kurz: das Kontingente, Endliche – in seiner Fragilität und Fragmentarität irgendwo gehalten ist und ihm auch spätere Generationen Sinn zukommen lassen werden können. Die Äußerungen sind keine Zauberformeln, sich der Gnade zu bemächtigen. Viel eher ermächtigen sie, von allem sinn-sichernden Fixieren letztlich wieder ablassen zu können. Der fremde Text, der immer auch mit den eigenen Erwartungen bricht, schenkt Offenheit – sowohl den Betenden als auch den Dingen – für die Überraschung der Zukunft.
Ein gemeinsamer Schatz.
Wer hier im Letzten wohl das Subjekt des Betens ist? Ganz klar scheint es nicht, sind doch die Worte nicht die eigenen und wenn auch zwar immer wieder angeeignet, dann ebenso oft in ihrem Mich-sagen-Können wieder verloren. Aber geht es bei dieser Sammlung der tradierten Gebete ja nicht ohnehin viel weniger darum, den Einzelnen in seiner und ihrer persönlichen, unmittelbaren Befangnis auszudrücken, als vielmehr eine allgemein menschliche Erfahrung durch einen gemeinsamen Schatz an gesammelten Worten laut werden zu lassen und sich so der eigenen Enge auch ein Stück weit zu entheben? Beten gemeinsam mit anderen durch Texte, die keinem und keiner von diesen originär gehören, sondern über den jeweiligen Kreis der Betenden hinausgehen und mit weiteren verbinden. Texte, die sich dadurch anbieten wie ein gemeinsam geteiltes, großes, buntes Kleid, an dessen Saum jede und jeder auf eigene Weise anzuknüpfen, dessen feine Textur allen zum Gewand zu werden vermag.
Das Wunder des Sprechens.
Im Grunde vollziehen die Betenden damit das Wunder bzw. Rätsel des Sprechens selbst: sich zu äußern und teilweise (wieder-) zu finden (oder doch neu zu erfinden?) in Worten, die immer schon von woanders her zugekommen sind; oftmals mehr automatisch die Redemaschine laufen zu lassen, als die einzelnen Phrasen mit Bedacht zu wählen, um dann zeitweilig nur mehr mit leeren Hülsen dazustehen, sobald kein Geist mehr aus ihnen anzusprechen vermag – und um Sinn immer wieder neu zu ringen. Vielleicht bietet sich gerade deshalb aber die Praxis des Gebets für die Einübung in eine Ethik des Sprechens an… Um diese Not und Mühe und Gnade des rechten Wortes wusste wohl auch schon der Heilige Paulus, wenn er trotz alledem zuversichtlich schreibt: „So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, was wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit unaussprechlichen Seufzern.“ (Röm 8,26)
Aufeinander angewiesen.
Und womöglich findet wirkliches Beten ja gerade dort statt, wo es nicht mehr um das Eigene kreist. Wo die anderen in ihrer Not, mit ihrer Sorge in den Blick geraten, aber auch mit ihren Freuden und in ihrer Schönheit. Die viel umstrittene Form der Fürbitte bringt doch, ohne genau zu wissen, wessen die anderen bedürfen, genau dies zum Ausdruck: dass wir zutiefst aufeinander angewiesen sind und von Anfang an – bei aller Notwendigkeit des singulären Zeugnisses – doch je schon von den anderen her kommen, nie allein Mensch sind, nie allein vor Gott stehen; dass die Verstrickungen der Nächsten immer auch die eigenen sind in dieser geteilten Geschichte des Erdlings Adam. „Die großen Männer und Frauen Gottes waren große Fürbitter“, so sagt es Papst Franziskus in seinem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (283) schlicht. Das alttestamentliche Paradebeispiel hierfür ist sicherlich Moses, der sich angesichts des Irrgehens der Israeliten mit dem Goldenen Kalb restlos mit ihnen vor Gott solidarisiert und sogar auf sein eigenes Heil zugunsten des ihm anvertrauten Volkes zu verzichten bereit wäre (vgl. 32,32).
Kleine Zeichen des Andenkens.
Doch ohnehin bedarf es nicht immer der vielen Worte. Es sind oftmals die kleinen Gesten: das Kreuzzeichen über dem Teller, die Berührung der Mesusá neben dem Türrahmen, das flüchtige Streichen der Finger über den Buchrücken der Schrift, der gehauchte Kuss auf den Rand der Ikone gegen Ende des Tages, … kleine Zeichen des Andenkens an eine Gegenwart, die sich nur in ihren Spuren, nie aber unmittelbar greifen lässt (vgl. Ex 33,18-34,35). Sie ordnen den Raum; lassen privilegierte Orte entstehen, die dem Innehalten und Gedenken dienen. Muss man es dann unbedingt Aberglaube heißen, wenn das Gebet die Gegenstände des Raumes in seinen „Kreis“[1] mit einbezieht und so das entzundene Licht der Kerze zuletzt allein im Stillen niederbrennt? Gewinnen nicht die Materialität und die Ordnung der Dinge neue Dignität, indem sie in diesen Akt der Anrufung mit hineingenommen werden?
Die barmherzige Geste.
Doch wie sich der Übergang des Ausdrucks von den Worten zu den Tönen und von den Seufzern zu den Gesten vollzieht, so geschieht auch der Übergang des immanenten Bedeutens der Gesten von den Dingen zu den belebten Körpern, zu den Wangen und den Händen. Gebet wird schließlich nur dort fruchtbar, wo es die „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst“ (GS 1) nicht nur auf neue Weise sieht und ihnen auf neue Weise Ausdruck verschafft, sondern ihnen ebenso im neuen Kleid leibhaft begegnet. Inwiefern Beten wirklich verwandelt, entscheidet sich im Letzten immer an der barmherzigen Geste (vgl. Mt 25,31-46). Von daher ist möglicherweise in der Tat das stumme Gebet des Samariters (vgl. Lk 10), der sich anonym, ja: vom Feind, anrufen lässt, die wahrhaftigste aller Anrufungen.
[1]Certeau, Michel de: GlaubensSchwachheit. Hrsg. von Luce Giard. Stuttgart: Kohlhammer 2009, 34.
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Isabella Bruckner promoviert mit einer Arbeit zum Gebet bei Michel de Certeau am Institut für Fundamentaltheologie der Universität Graz.
Photo: Mathew Henry (unsplash)