Was für den Protestantismus Programm war, wird für den Katholizismus Schicksal: der Zerfall eines überkommenen Systems legitimer religiöser Ordnung. Das mag noch nicht das Ende der katholischen Kirche sein, aber ganz bestimmt das Ende ihrer herkömmlichen Kultur- und Sozialgestalt. Von Michael N. Ebertz.
Hypothetisch gesprochen: Würde man einer Fluggesellschaft seinen Körper anvertrauen, wenn ihre Zentrale erst jetzt einen ‚Prozess‘ beginne, um ihre jahrzehntelang verleugneten und jahrelang aufgedeckten Praktiken sexueller Gewalt in ihren Flugschulen und Pilotenkanzeln über den Wolken aufzuarbeiten? Hätte man noch Hoffnung auf sichere Landung im Wissen, dass ihr Management die Verantwortlichkeit dauerhaft vertuscht und verschleiert hat? Würde man ein Flugzeug dieser – vielleicht durch anwachsende Steuergelder am Überleben gehaltenen – Airline besteigen, wenn nachweislich auf allen Ebenen ihrer Hierarchie immer mal wieder Gelder veruntreut werden, auch als Schmerzensgeld für Missbrauchsopfer? Würde man in diesem Zusammenhang die Gemeinschaft der Fliegenden aktivieren, eine ‚Hermeneutik der Vergangenheit‘ oder ‚der Kontinuität‘ bemühen – wir haben es ja schon immer so gemacht? Könnte man sich dem für alle geltenden staatlichen Strafrecht entziehen?
Loyalität und Komplizenschaft – und kein ‚Exit‘ ?
Möglicherweise sind nur ‚Flugzeugverrückte‘ in der Lage, einer solchen von defektiven und kulpativen Makeln gezeichneten Airline die Treue zu halten. Vielleicht weil sie in ‚das Fliegen an sich‘ vernarrt sind? Oder ökonomisch, emotional, biographisch oder sonstwie mit ihr verbandelt oder verklebt, d.h. vielfältig auf sie angewiesen sind? Sie halten dann die moralische Spannung zwischen Loyalität und Komplizenschaft aus. Sie unterlassen den ‚exit‘ auch dann noch, wenn sie ohne Einspruchsmöglichkeit (‚voice‘) bleiben, obwohl das Top-Management Versammlungen abhält und – wie seine des Altgriechischen mächtigen Berater – von einer synodalen Betriebsvision schwärmt.
Nicht nur Fluggesellschaften können Katastrophen verursachen.
In der Tat vermag keine Gruppe, Organisation oder Gesellschaft ohne Loyalität zu überleben. Nicht nur high reliability organizations wie Fluggesellschaften können Katastrophen verursachen. Würde man einer organisierten „Liebesreligion“ (Ernst Troeltsch) mit ähnlichen defektiven und kulpativen Makeln noch seine Seele anvertrauen – zumal dann, wenn diese ihre ‚Seele‘ verraten hat, sprich die Werte ihrer tiefsten Inspiration? Auch religiöse Organisationen sind auf Loyalität angewiesen, d.h. auf „die Bereitschaft, auf angemessen ‚gerechtfertigte‘ Appelle im Namen des Kollektivs […] zu reagieren“, wie ein soziologischer Klassiker (Talcott Parsons) definierte. Abgesehen von der Frage, was denn unter angemessen ‚gerechtfertigten‘ Appellen zu verstehen sei, ergänzt er, dass im Allgemeinen die „Regierungsorgane“ an die Loyalität der Regierten appellieren „und die damit verbundenen Normen realisieren“: ‚Bleiben Sie angeschnallt, bis wir die Flughöhe von 10.500 m erreichen‘.
Angesichts der durch multiple und globale Sex-, Geld- und letztlich Machtmissbrauchsskandale kulpativ stigmatisierten Regierungsorgane der römisch-katholischen Kirche ist in ihr offensichtlich eine wichtige Quelle von Loyalität abhanden gekommen: Autoritäts- oder Herrschaftsvertrauen. Den Schlüsselsatz hierzu hat Kardinal Marx zum Auftakt der Herbstkonferenz der Deutschen Bischofskonferenz 2018 formuliert: „Die Menschen glauben uns nicht mehr.“
Abgründe tun sich auf.
Abgründe tun sich auf, wenn ein Top-Manager einer Glaubensgemeinschaft glaubt, sagen zu müssen, dass „uns“ (?) niemand mehr Glauben schenkt. Unter Bischöfen scheint man auf Jüngere zu setzen, auf die Kontrolle der Bischöfe durch Bischöfe, bevor die Älteren zurücktreten. Loyalitätsbeschädigend kommt hinzu: Vertreter solcher Regierungsorgane, die eigentlich Loyalitätsgeneratoren sein sollen, führten und führen auf der Weltbühne vor, dass sie selbst gegen Loyalitätsverpflichtungen verstoßen, die mit ihren Spezialrollen verbunden sind: Wechselseitig „zerfleischen“ (Klaus Mertes) sie sich und kreiden dem Papst Häresien an. Ohne Zweifel: Das Ämtersegment der Kirche zeigt deutliche Züge der Desintegration: zu einer informellen Heterarchie, wenn nicht Anarchie. Und seitens der einfachen Kirchenmitglieder ist an die Stelle geistlichen Gehorsams spirituelle Selbstführung, ‚Autogestion‘ (Pierre Bourdieu), getreten.
Ihr Glaube und ihre Glaubenspraxis sind von der Regie der Institution in die Eigenregie der Individuen übergegangen (selbst unter kirchlichen Mitarbeitenden[1]). Inzwischen scheint die institutionelle Loyalität sogar bei bislang ‚Kirchentreuen‘ in der Loyalitätenhierarchie auf das Niveau des Exit-Verzichts gesunken zu sein. Schlimmer geht’s nimmer. Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann auch diese basale Rest-Loyalität erodiert und weiter unter Druck gerät, zumal im Konflikt mit konkurrierenden Loyalitäten. Diese können sogar religiöse Bezugspunkte haben, sagen doch immer mehr: ‚Christentum ja, Kirche nein‘.
Im eschatologischen Büro herrscht Vielfalt.
Fragen der Autorität und Herrschaft sind wie Fragen der Loyalität Systemfragen, mangelndes Herrschaftsvertrauen ist mangelndes Systemvertrauen. Soziologisch scharf gestellt: Es geht um die Kirche als System legitimer Ordnung. Im Verlust normativer Kohärenz und der Koordination zeigen sich allenthalben Züge der Desintegration und Degeneration: Die Minimalnormen (z.B. Sonntags- und Beichtpflicht) für jedes Kirchenmitglied sind zwar noch in kirchenrechtlicher und Katechismus-Gültigkeit, aber nicht mehr in Verhaltensgeltung. 90 Prozent ignorieren Sonntag für Sonntag ‚Quelle und Höhepunkt des kirchlichen Lebens‘.
Auch die Hauptberuflichen in der Kirche sehen kaum mehr einen Beichtstuhl von innen. In rebus sexualibus klafft die Kluft zwischen Gültigkeit und Geltung am tiefsten. Im eschatologischen Büro herrscht Vielfalt, sie macht das Chaos im Jenseits perfekt. Dabei ‚himmeln‘ die meisten Theolog*innen und Prediger*innen, obwohl auch Hölle und Fegefeuer ‚heiliges Wissen‘ sind. Und obwohl sie himmeln, lassen sie für die Toten an ‚Allerheiligen‘ und in Fürbitten sprechen: „Wir beten auch für alle Verstorbenen, die Dein Licht schauen“. Chaos im Diesseits.
Chaos im Diesseits.
Chaos auch in der römischen Kurie? Derzeit ist in der römisch-katholischen Kirche weltweit ein heftiger Kampf um die Definition der Heilswahrheiten und der Heilsgüter entstanden. Es ist ein Kampf um die Kirche in der Kirche.[2] Sichtbar gemacht, nicht verursacht durch Papst Franziskus, dreht er sich ganz zentral um das Verständnis von Sünde und Heil, damit um basale Wertorientierungen zur kulturellen Legitimation der normativen Ordnung der Kirche. So sehen die einen Menschen in objektiv „heilsgefährdenden“[3] Lebenszuständen und damit im Dauerzustand der Todsünde verharren, wie Kardinal Gerhard Müller, wenn er die Lage der wiederverheiratet Geschiedenen beschreibt und damit ihre Exklusion aus der Eucharistiefeier postuliert.
Dagegen hat für andere die Unterscheidung von ‚Heil‘ und ‚Unheil‘ als Leitdifferenz der Kirche ebenso an Plausibilität verloren wie die Unterscheidung von ‚lässlicher‘ und ‚schwerer‘ Sünde. Während jene noch unterscheiden zwischen Guten und Bösen, fügt Franziskus in ‚Amoris laetitia‘ für die Institution der Kirche irritierende Unschärfen ein: Es sei „nicht mehr möglich […] zu behaupten, dass alle, die in irgendeiner sogenannten ‚irregulären‘ Situation leben, sich in einem Zustand der Todsünde befinden“ (Amoris laetitia, Nr. 301). So werden normative Unterscheidungen aktiv durch Anführungszeichen in die Unschärfe und von der Gesetzesebene auf eine Werteebene gezogen. Er versucht damit auch, die Loyalitätsverpflichtungen der Kirchenmitglieder und die Grenze zwischen Kirche und Umwelt neu zu modellieren.
Ein Indikator für Unschärfe ist es auch, wenn ein Vertreter des „Päpstlichen Rats für die Interpretation der Gesetzestexte“ in Rom die offizielle Kirche „schon länger vor der Schwierigkeit“ sieht, „dass ein Begriff dessen fehlt, was Sünde, beziehungsweise was schwere Sünde ist“.[4] Offensichtlich wird, dass „die Koordinaten des traditionellen Sündendiskurses“[5] zusammen mit den Koordinaten des traditionellen eschatologischen Diskurses[6] ebenso erodieren wie die Kohärenz der sakramentalen Praxis: „Die Zulassung zu den Sakramenten“, so Kardinal Müller weiter, „ist Teil des Sakraments und darum kann man nicht hier Katholiken im Stande der Todsünde die heilige Kommunion erlauben und dort nach den Bestimmungen anderer [Bischofs-] Konferenzen sie verweigern“. Einige der Bischöfe sehen dies genauso, andere anders, wie der sogenannte ‚Kommunionstreit‘ in Deutschland zeigt.
Vor unseren Augen: die Desintegration eines überkommenen Systems.
Die leicht vermehrbaren Beispiele machen uns zu zeitgenössischen Zeugen der Desintegration – ich variiere: des Zerfalls – eines überkommenden Systems legitimer Ordnung. Vor unser aller Augen zerfällt der „sakramentale Religionstypus“, den Paul Tillich innerhalb des Christentums am profiliertesten in der römisch-katholischen Kirche dadurch verwirklicht sah, dass „nur die sakramentale Vereinigung eine persönliche […] Beziehung zum Göttlichen“ ermöglicht.[7] Das mag noch nicht das Ende ‚der Kirche‘ sein, aber ganz bestimmt einer bestimmten kirchlichen Kultur- und Sozialgestalt.
Wie man auch wertend dazu steht: Was für den Protestantismus Programm war, wird für den Katholizismus Schicksal. Eine Ruine macht den Blick nach oben frei, ist jedoch noch kein Neubau.
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Prof. Dr. rer. soc. habil, Dr. theol. Michael N. Ebertz ist Soziologe und Theologe. Er lehrt und forscht an der Katholischen Hochschule Freiburg.
Photo: Josh Sorenson (pexels)
[1] Vgl. Ebertz, Michael N./Segler, Lucia: Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Würzburg 2016.
[2] Ebertz, Michael N.: Der Kampf um die Kirche – in der katholischen Kirche. In: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik Zeitschrift 2(1)/2018, 1-18. Online: https://rdcu.be/Lq7u.
[3] Müller, Gerhard: ‚Barrieren abbauen‘. In: Herder Korrespondenz 70 (6/2016), S. 17–22.
[4] Graulich, Markus: Spagat zwischen Einheit und Vielfalt. In: Die Tagespost vom 21.4.2016, 5.
[5] Kaufmann, Franz-Xaver: Vom Umgang mit Schuld in der Kirche. In: Meyer-Blanck, Michael u.a. (Hg.): Sündenpredigt, München 2012, 159–176, hier 175.
[6] Vgl. Ebertz, Michael N.: Die Zivilisierung Gottes. Der Wandel von Jenseitsvorstellungen in Theologie und Verkündigung. Ostfildern 2004.
[7] Tillich, Paul: Die bleibende Bedeutung der katholischen Kirche für den Protestantismus. In: Ders.: Gesammelte Werke, Band 7. Stuttgart 1962, 124-132.