Die Vereinten Nationen haben den 6. Februar zum Gedenk- und Aktionstag gegen weibliche Genitalverstümmelung erklärt. Wie kann man aber darüber sprechen? Ein tschechischer Osterbrauch hat Petra Dankova sensibilisiert. Sie ist seither häufig mit weiblicher Genitalverstümmelung in Kontakt gekommen und geht den komplexen Vulnerabilitäten auf die Spur, die bei diesem Thema präsent sind.
Nach meiner ersten Begegnung mit dem Thema weibliche Genitalverstümmelung konnte ich monatelang keine Rosen anschauen, ohne innerlich zusammenzuzucken. Ich studierte Soziale Arbeit in Boston. Im Rahmen eines Seminars haben sich meine Komiliton_innen mit dem Thema »weibliche Genitalverstümmelung« auseinandergesetzt. Die Rose – manchmal mit ihren zarten Blättern grob zusammengenäht – war das Symbol, dass sie und zahlreiche andere Aktivist_innen und Kampagnen gewählt haben, um bildlich die in vielen Ländern verbreitete Praxis der teilweise oder vollständigen Entfernung des äußeren Genitals bei Mädchen (vgl. www.frauenrechte.de) zu umschreiben.
Damals hat die Rose meinen Magen gepackt. Seitdem habe ich in Ostafrika, Südostasien und Europa mit Leuten aus fast der ganzen Welt gearbeitet. Ich habe gelernt, dass die Worte »weibliche Genitalverstümmelung«1, genauso wie die Rose, diskutiert und umstritten sind.
Globale Realität: Weltweit sind über 200 Millionen Frauen und Mädchen betroffen.
Ich habe gesehen, wie das Thema in rassistische und xenophobische Schemata passt, und auch wie die Prozedur das Leben von Mädchen bedroht, egal ob sie es durchleiden oder ob es ihnen gelingt, davonzukommen. Ich habe beobachtet, wie weibliche Genitalverstümmelung von Befürwortern und Gegnern fälschlich als religiöses Ritual präsentiert wird. Ich habe gesehen wie manche westlichen Medien bedenkenlos Bilder von jungen afrikanischen oder asiatischen Mädchen in ihren Qualen veröffentlichen, während sie sich bei einheimischen Kindern strikt an das Persönlichkeitsrecht halten. Ich habe Berichte von Wissenschaftler_innen gelesen, die sagen, dass weiße Frauen wie ich nichts über dieses Thema sagen dürfen, weil es nicht ihre Kultur ist.
Aber das Thema gehört zu unserer globalen Realität. Die Vereinten Nationen schätzen ein, dass weltweit über 200 Millionen Frauen und Mädchen betroffen sind (vgl. www.un.org). Nach der deutschen Organisation Terre des Femmes sind ca. 58.000 in Deutschland lebende Frauen betroffen und über 18.000 Mädchen von dieser Praxis gefährdet (vgl. www.frauenrechte.de [PDF]).
Aus heiterem Himmel wurde weibliche Genitalverstümmelung zum Gesprächsthema zwischen einem Musiklehrer und einem seiner Schüler.
Das Thema gehört auch zu meinem Alltag. Vor Kurzem rief mich ein Bekannter an, der in Bayern Musiklehrer ist. Aus heiterem Himmel wurde weibliche Genitalverstümmelung zum Gesprächsthema zwischen ihm und einem seiner Schüler. Bevor sie nach Deutschland kam, habe die Schwester des Schülers das – von ihm so benannte – „Ritual des Frauwerdens“ auch durchgemacht. Genauso sei es allen Mädchen um sie herum ergangen.
Was soll man tun? Wie kann man darüber sprechen? Darf man darüber schweigen?
Eigene Erfahrung: Osterschlagen. Schreiend ließen wir uns von den Jungs jagen.
Eine eigene Erfahrung hilft mir mit diesen Fragen umzugehen. Ich komme aus Tschechien. Ich bin damit aufgewachsen, dass am Ostermontag Morgen die Mädchen durch das Haus und durch die Straßen gejagt und geschlagen werden. Diese Praxis wurde feierlich erwartet. Sie war ein offizieller Bestand unserer Ostertage.
Die Mädchen haben sich schon früh hübsch angezogen und haben gewartet, wer für sie kommt. Schreiend ließen wir uns dann von den Jungs jagen. Wer am nächsten Tag die meisten blauen Flecken hatte, fühlte sich richtig stolz und populär. Die Schmerzen haben wir nur am Rande zugegeben – so wie man nach einem intensiven Sporttraining Muskelkater zugibt. Schließlich hieß es, wer an Ostern geschlagen wird, wird hübsch werden. Und wir kannten alle das Sprichwort unsere Großmütter: Für Schönheit muss man leiden.
Im Verlauf des Gesprächs brach eine Welle von Demütigung über mich herein: Sie hielten diesen Brauch für ziemlich barbarisch.
Mit 17 war ich bei einer Gastfamilie in den USA. Hier bemerkte ich das erste Mal, dass diese Tradition vielleicht nicht für alle so lustig ist. Ich wurde nach typischen tschechischen Osterbräuchen gefragt. Da ich aus einer atheistischen Familie komme, konnte ich nur vom Osterhasen und Osterschlagen erzählen. Die Gesichter wurden besorgt. Blicke wurden ausgetauscht. Die Mutter der Gastfamilie hat nervös gehustet. In ihrer nettesten Stimme fragte sie mich, ob ich unter diesen Schlägen sehr gelitten habe. Gelitten? Na ja, da war immer ein bisschen Angst dabei, dass niemand kommen und daran Interesse haben könnte, gerade mich zu schlagen. Der physische Schmerz war eher nebensächlich.
Im Verlauf des Gesprächs mit meiner Gastfamilie brach eine Welle von Demütigung über mich herein. Es wurde klar, dass sie diesen Brauch für ziemlich barbarisch hielten. Obwohl ich mit 17 selbst schon den Verdacht hatte, dass es eigentlich ziemlich krass ist, dass die Jungs die Mädchen jagen und schlagen dürfen und nicht umgekehrt, verteidigte ich diesen tschechischen Brauch je mehr er in Frage gestellt wurde. Es ist unsere Kultur. Es war gar nicht so schlimm. Es ist ein Teil meiner Kindheit.
Die Kritik von „außen“ hat erst mal nicht zum Umdenken geholfen.
Heute sehe ich die tschechischen Osterbräuche ziemlich kritisch: dass Gewalt an Frauen normalisiert wird; dass Mädchen lernen „für Schönheit zu leiden“; dass Debatten über diesen und ähnliche Bräuche als Attacken der „verbitterten Feministinnen“ (ja, natürlich als Schimpfwort gemeint) abserviert werden. Das finde ich höchst problematisch. Aber ich bin zu dieser Überzeugung auf einem ziemlich langen Weg gekommen, auf dem ich erst größere Zusammenhänge zwischen Frau_sein, Mann_sein und den Ungleichheiten unserer Gesellschaft entdecken musste. Die Kritik von „außen“ hat erst mal nicht zum Umdenken geholfen, auch wenn sie gut gemeint war.
Eigene Erfahrung hilft mir, auf die Spur der komplexen Vulnerabilitäten zu kommen, die bei diesem Thema präsent sind.
Ich weiß, dass meine Erfahrungen nicht eins zu eins übertragbar sind auf die Lebensituationen der Frauen und Mädchen, Männer und Jungen, die mit weiblicher Genitalverstümmelung zu tun haben. Beim Osterschlagen stirbt niemand. Niemand erlebt es, dass ihr Körper unwiderruflich verändert wird. Niemand muss die gesundheitlichen Folgen lebenslang tragen. Doch ich glaube, es hilft uns auf die Spur der komplexen Vulnerabilitäten zu kommen, die bei diesem Thema präsent sind.
Vulnerabilität ist das Maß der Verwundbarkeit in Bezug auf eine gegebene Gefahr.2 Jeder Mensch ist verwundbar und jeder Mensch versucht – bewusst oder unbewusst – das Potenzial der Verwundung in seinem oder ihrem Leben einzuschätzen und zu minimalisieren.3 Wie aber meine Selbsterfahrung zeigt, sind unsere Prioritäten sozial bedingt und nicht nur physisch. So kann die Verwundbarkeit unserer leiblichen Unversehrtheit als weniger wichtig eingeschätzt werden, als die aus realen oder befürchteten Folgen eines „Alleinganges“ gegen unsere Eltern, Nachbarn, unsere Tradition, unserer von Generation zu Generation übertragenen Weisheit.
Soziale Verwundbarkeit in Kauf zu nehmen braucht viel Mut.
Es ist bekannt, dass in vielen Regionen Mädchen, welche die weibliche Genitalverstümmelung nicht durchmachen, nicht als „echte Frauen“ gesehen werden. Sie verlieren den Kontakt zu ihrer Peergroup, denn die anderen Mädchen haben gemeinsam das Ritual durchlebt. Sie gelten als „nicht rein“ oder „nicht heiratsfähig“. Möglich ist auch, dass sie vor angeblich schädlichen Folgen einer fehlenden Beschneidung für ihre Gesundheit und die Gesundheit ihres Mannes und ihrer Kinder gewarnt werden.
Wer sich dem sozialen und kulturellen Erwartungsdruck nicht beugt, riskiert den Schutz und die Fürsorge durch Familie, Peergroup und Gesellschaft. Diese soziale Verwundbarkeit in Kauf zu nehmen braucht viel Mut und die Gelegenheit, die „Gegebenheit der Dinge“ mit anderen Lebenswelten in Kontakt zu bringen. Die amerikanische Sozialforscherin Brené Brown nennt dieses Wagnis der Verwundbarkeit4 „Meistern der Wildnis.“5 In dieser Wildnis können wir uns plötzlich nicht mehr darauf verlassen, was uns bis jetzt Sicherheit gab.
6. Februar: Gelegenheit auch zu fragen, in welchen Bereichen wir Verwundbarkeit wagen.
Wenn wir am 6. Februar den Internationalen Tag gegen weibliche Genitalverstümmelung begehen, ist das nicht nur eine gute Gelegenheit, über weibliche Genitalverstümmelung zu informieren, und denen Solidarität zu zeigen, die diese Praxis beenden wollen. Es ist auch die Gelegenheit, uns zu fragen, in welchen Bereichen wir Verwundbarkeit wagen und uns in die Wildnis begeben müssen.
Wir sollten unsere eigenen Bräuche und Traditionen anschauen und uns fragen, ob das, was uns über die Wichtigkeit und Notwendigkeit dieser Regelungen gesagt wird wirklich so stimmt. Und falls nicht, sollten wir uns genauso der Verwundbarkeiten der Wildnis aussetzen, wie das die mutige Frauen und Mädchen machen, die sich eine weibliche Genitalverstümmelung nicht mehr diktieren lassen.
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Petra Dankova ist Advocacy Director der globalen Initiative Voices of Faith, Lehrbeauftragte für Soziale Arbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt und Mitglied der interdisziplinäre Forschungsgruppe „Vulnerabilität, Sicherheit und Resilienz“ (www.verwundbarkeiten.de) an der Universität Würzburg.
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- Der Begriff weibliche Genitalverstümmelung wird manchmal als rassistisch und unsensibel kritisiert. In Englisch bevorzuge ich den neutraleren Begriff „Female Genital Cutting.“ Da aber für Female Genital Cutting keine genaue deutsche Übersetzung existiert, bleibe ich in diesen Text bei dem Begriff weibliche Genitalverstümmelung, der auch am Gedenktag am 6. Februar benutzt wird. Mehr zu der wichtigen Debatte um Begriffe Vgl. Hrzán, Daniela (2005). Female Genital Cutting: Die Schwierigkeit, sich zu positionieren – Eine Einleitung. Berlin : Humboldt-Universität zu Berlin, ZtG ; 2005 ; 1-7 ↩
- Bender/Schaller (2014) zitiert in Burghardt, Dziabel, Höhne (2017) Vulnerabilität: Pädagogische Herausforderungen. Stuttgart: Kohlhammer. ↩
- Vgl. Burghardt, Dziabel, Höhne (2017) Vulnerabilität: Pädagogische Herausforderungen. Stuttgart: Kohlhammer. Brown, Brené (2017) Braving the Wilderness, New York: Random House. ↩
- Vgl. Keul, Hildegund (2013) Weihnachten – Das Wagnis der Verwundbarkeit. Ostfildern: Patmos ↩
- Brown, Brené (2017) Braving the Wilderness, New York: Random House. ↩