Ist die Ideologie der neuen Rechten als Theologie zu betrachten? Was unterscheidet diese von der Politischen Theologie der 1960er und 70er? Rolf Schieder analysiert für feinschwarz die Apokalpytik, die den Ausnahmezustand generiert.
In den seligen Zeiten zwischen den Unruhen von 1968 und dem „Deutschen Herbst“ 1977 hatte der Begriff „Politische Theologie“ einen guten Klang. Johann Baptist Metz, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann standen neben vielen anderen für eine politisch wache, emanzipatorische und ökumenische Theologie. Dezidiert verstand sich diese Politische Theologie als Befreiungstheologie. Das Volk wurde damals noch als revolutionäres Subjekt angesehen – nicht wie heute als ein Haufen xenophober, „populistischer“ Idioten. Die Politische Theologie war nicht nur kirchenkritisch, sie war grundsätzlich institutionenkritisch. Sie verstand sich als Teil einer Bewegung, die radikal und revolutionär die herrschenden politischen, sozialen und ökonomischen Machtverhältnisse verändern wollte. Kapitalismuskritisch, friedensbewegt, ökologisch und einigermaßen gendersensibel war diese Politische Theologie Teil eines gesamtgesellschaftlichen Bewusstseinswandels.
Das Feld der Politik als Ort des status confessionis
Wer auf den freiheitsfördernden Sinn von Institutionen und auf die selbständige Würde des Politischen aufmerksam machte, galt damals rasch als reaktionär. Die abwägende Frage, ob eine politische Entscheidung schlechter oder besser sei, kam angesichts des Zwangs, sich entweder auf die Seite der Guten oder auf die Seite der Bösen zu schlagen, kaum mehr zum Zuge. Christen, so schien es uns jungen Politischen Theologen, mussten Sozialisten sein – das war keine Frage politischer Ökonomie und vernünftiger Deliberation, sondern eine Glaubensfrage. Wie überhaupt das politische und das theologische Bekenntnis oft in eins fielen – das Feld der Politik wurde zum bevorzugten Ort des status confessionis.
Die Enkel Carl Schmitts
Fünfzig Jahre später sind wir heute mit der Politischen Theologie der Neuen Rechten konfrontiert. Auch diese ist radikal, gesellschaftskritisch und polarisierend. Nicht der politische Kompromiss wird gesucht. Vielmehr geht es um die Mobilisierung der Massen im Kampf gegen böse Eliten, die das Volk zu „zersetzen“ drohen. Das Drehbuch für die heutige Politische Theologie hat Carl Schmitt geschrieben. Seine 1922 verfasste „Politische Theologie“ war eine Reaktion auf Hans Kelsens Versuch, den Staat als Rechtsstaat zu konzipieren, der sich durch die transparente Anwendung der Gesetze legitimierte und auf jede zivilreligiöse Begründung verzichtete. Die Legitimation durch Verfahren sollte genügen.
Die Ausnahme beweist alles.
Demgegenüber propagierte Schmitt den Vorrang des Politischen vor dem Recht und vor rechtsstaatlichen Verfahren. „Das Normale beweist nichts“, behauptet Schmitt, „die Ausnahme beweist alles.“ Souverän sei, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Ob tatsächlich ein Ausnahmezustand vorliegt, ist dabei letztlich belanglos. Entscheidend ist die Macht, einen Zustand als Ausnahmezustand zu definieren und dadurch einen Entscheidungsdruck zu erzeugen. In diesen Tagen versucht der amerikanische Präsident, Plausibilität für den von ihm erklärten Ausnahmezustand an der Grenze zu Mexiko zu generieren. Viele Autokraten vor ihm haben sich dieser politischen Strategie bedient. Ohne Resonanz in der Bevölkerung bleibt diese politische Waffe freilich stumpf. Das Volk muss in einen Erregungszustand versetzt werden, damit es sich selbst als in einem Ausnahmezustand befindlich wahrnimmt.
Theologie zur kollektiven Erregung
Gerade für das Generieren von kollektiven Erregungszuständen aber braucht es nach Schmitt eine Theologie. „Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe“, heißt es an prominenter Stelle. Ausdrücklich spricht Schmitt von der Theologiebedürftigkeit moderner Staatslehren. Ein moderner Staat kann sich nämlich nicht mehr auf gewachsene Strukturen und Traditionen stützen. Seine Souveränität beruht auf Dezision. Im revolutionären Ursprung der Entstehung des modernen Staates braucht er zu seiner Legitimation radikale Unterscheidungen. Eine religiös aufgeladene Semantik der Extreme ermöglicht das Aufrichten scharfer Grenzen.
Souverän ist mithin, wer radikale Unterscheidungen vornehmen und eine Gesellschaft polarisieren kann: in Gute und Böse, Reine und Unreine, Gläubige und Ungläubige, Eingeborene und Flüchtlinge, Rechte und Linke, Volk und Eliten. Inklusion wird durch Exklusion erreicht. Theologische Semantik leistet dafür wertvolle Dienste: Als G.W. Bush den Irakkrieg anfachte, rieten ihm seine Berater, den Kampf der Guten gegen die „Achse des Bösen“ oder gleich gegen ein „Reich des Bösen“ auszurufen.
Religion als inhaltsleerer Identitätsmarker?
In dem 2016 erschienen Buch „Saving the People. How Populists Hijack Religion“ vertritt Olivier Roy die These, dass die Neue Rechte kein genuines Interesse an Religion hätte. „Kurz gesagt, die meisten dieser Parteien sind nur insofern christlich als sie den Islam ablehnen.“ (186) Die christliche Tradition werde lediglich aufgerufen, um das „Abendland“ zu verteidigen. Europa sei ein Kontinent, „wo sich niemand mehr eine Religion aneignet, sondern wo viele […] sich eine Religion ‚mieten‘“ (200) Die Religion der neuen Rechten sei ein bloßer Identitätsmarker ohne jeden erkennbaren religiösen Gehalt. Gerade weil die Neue Rechte Religion solchermaßen instrumentalisiere, trage sie zu deren Säkularisierung bei.
Religion ohne religiösen Gehalt?
Das klingt zunächst plausibel, ist aber aus mehreren Gründen irreführend. Zum einen ist die herkömmliche Unterscheidung zwischen einer „säkularen“ und einer „religiösen“ Sphäre nicht mehr plausibel. Zum anderen steht Roys Diagnose in einem expliziten Widerspruch zum erklärten Ziel der Neuen Rechten, an einer „Resakralisierung des Politischen“ zu arbeiten, wie es 2003 programmatisch in der Zeitschrift „Sezession“ heißt. Erst wenn das Politische wieder als etwas Heiliges aufgefasst werde, könne Kampfbereitschaft, Opferwille und Zusammengehörigkeitsgefühl in der Bevölkerung geweckt werden. Die Überwindung eines atomistischen Utilitarismus, die Wiederherstellung einer neuen „Thymos-Spannung“ in deutschen Volk, der Widerstand gegen eine schleichende Auflösung aller Dinge durch einen globalen materialistischen Konsumismus seien ohne den Glauben an ein größeres Ganzes nicht zu erreichen.
Resakralisierung der Gesellschaft als Ziel
Arbeit an der Apokalypse
Im Zentrum der Politischen Theologie der Neuen Rechten steht eine apokalyptische Weltdeutung. Eine Apokalypse will bekanntlich etwas bisher Verborgenes offenbaren. Was deckt die Neue Rechte auf? Sie klärt uns über den katastrophalen Zustand des Westens auf. Deutschland sei heute in einer schlimmeren Verfassung als 1918 oder 1945. Das Dämonische am heutigen Zustand bestehe aber darin, dass durch den Erfolg des internationalen Kapitalismus die Massen nicht einmal mehr erkennen, dass sie in einem mörderischen stahlharten Gehäuse gefangen seien. Vereinsamung, Verarmung, Entwurzelung, Ausbeutung würden als Freiheitsgewinne angepriesen und geglaubt. Die Verführer sind die globalen Eliten, die das einfache Volk verraten und im Stich gelassen haben.
Die Apokalypse erzeugt den Ausnahmezustand
In der Apokalypse des Thilo Sarrazin mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab!“ aus dem Jahr 2010 wird uns ein „demographischen Djihad“ vorhergesagt. Da deutsche Frauen nicht mehr gewillt seien, Kinder zu gebären, die muslimischen „Kopftuchmädchen“ dafür umso mehr, müsse man damit rechnen, dass die großen christlichen Kathedralen im 50 Jahren in Moscheen umgewidmet würden. Apokalypsen schüren Angst, sie erzeugen aber vor allem das Gefühl, sich in einem Ausnahmezustand zu befinden. Wer die Apokalypse abwenden will, der muss jetzt zur Tat schreiten. Wie in allen Apokalypsen ist es immer ein kleiner, mit Einsicht gesegneter, mutiger, zu allem entschlossener „heiliger Rest“, der die Welt von der Herrschaft des Bösen befreien muss. Apokalypsen sind ein Radikalisierungsmanual.
Feind sind die liberalen Eliten, nicht der Islam.
Wer sich in das Schrifttum der Neuen Rechten vertieft, der wird feststellen, dass der Islam nicht der Feind ist. Der Islam ist ein Phantasma. Nach Jacques Lacan verweist ein Phantasma auf einen abgewehrten und verdrängten Mangel. Es beschreibt kein reales Objekt, es zeigt lediglich an, was fehlt. Thilo Sarrazin etwa fehlen eingeborene Kinder. Andere bewundern die Kampfbereitschaft des Islam. Im „Islam“ finden die Neuen Rechten vieles, was ihnen in ihrer eigenen Kultur fehlt. Der Islam ist eine Obsession, aber nicht der Feind. Der Feind sind die liberalen Eliten im eigenen Land, die seine Bevölkerung den zersetzenden, jedes Gemeinschaftsgefühl zerstörenden Kräften eines globalen Kapitalismus ausliefern. „Die Völker gehen nicht am Islam, sondern am Liberalismus zugrunde.“, stellt Martin Semlitsch, alias Martin Lichtmesz lapidar fest.
Wie ist mit der Neuen Rechten und ihrer Politischen Theologie umzugehen?
Angesichts von bis zu 30 Prozent Wählerstimmen für die AfD im Osten Deutschlands ist die Strategie der Gesprächsverweigerung und des Ignorierens gescheitert. Die Neuen Rechten sind Teil unserer gegenwärtigen politischen Kultur und wir haben kultiviert mit ihnen umzugehen. Das liberale Credo ist nun einmal die Inklusion. Den Liberalismus zeichnet aber auch ein starkes Vertrauen in die Kraft rechtsstaatlicher Institutionen und Verfahren aus. Die neuen rechten Bewegungen versuchen, mit Hilfe apokalyptischer Rhetorik einen Ausnahmezustand zu kreieren, der ihnen erlauben würde, eben jene Regeln und Verfahren auszuhebeln. Dieser Strategie begegnet man nicht dadurch, dass man seinerseits die aktuelle Lage als Ausnahmezustand beschreibt. So wäre den Protestanten im Umgang mit der AfD zu empfehlen, dass sie die heutige Lage nicht mit der der Bekennende Kirche 1934 gegenüber den Nazis in eins setzen, denn dann wären sie in die erste Falle getappt, die die Rechten aufgestellt haben: nämlich die gegenwärtige politische Lage als Ausnahmezustand zu deuten.
Apokalyptische oder eschatologische Politische Theologie?
Theologisch wäre es an der Zeit, die Differenz zwischen einer apokalyptischen und einer eschatologischen Politischen Theologie stark zu machen. Apokalyptiker sehnen den Endkampf zwischen Gut und Böse herbei. Eschatologiker hingegen sind von einer Theologie der Hoffnung erfüllt. Sie arbeiten nicht an der Apokalypse, sie verstehen sich vielmehr als geduldige Mitarbeiter am kommenden Reich Gottes. Dies markiert die theologische Differenz zwischen der Politischen Theologie der 68er Jahre und der Politischen Theologie der Neuen Rechten.
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Prof. em. Dr. Rolf Schieder ist Senior Advisor der European Academy on Religion and Culture (EARS) und Vize-Direktor des Berlin Institute for Public Theology. Bis 2018 war er Professor für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Humoldt Universität zu Berlin.
Bild: Der Triumph des Todes von Pieter Bruegel d.Ä. (Wikicommons)