Gender wird wie Migration immer wieder als gesellschaftliches Erregungsthema wirksam. Maren Behrensen analysiert Mechanismen und Zusammenhänge dieser Prozesse.
„Gibt es denn keine wichtigeren Themen?“ ist oft noch eine der harmloseren Fragen, wenn es um Gender geht. Die Vorsitzende der einzig verbliebenen Volkspartei mokiert sich bei einem Karnevalsauftritt über die Berliner Latte-Macchiato-Fraktion (als gehörte sie selbst nicht dazu), die angeblich daran arbeitet, flächendeckend Toiletten für das dritte Geschlecht einzuführen, die dann von Männern frequentiert werden, die sich nicht mehr trauen, im Stehen zu pinkeln. Nachdem sich Medien- und Politikbetrieb vier Tage lang an dieser Aussage abgearbeitet haben, legt die Parteivorsitzende nach, spricht von einem „verkrampften“ Deutschland und ruft dazu auf, sich nicht in Debatten über „Nebensächlichkeiten“ zu verlieren (als hätte sie nicht selbst bewusst entschieden, vor großem Publikum über genau eine solche „Nebensächlichkeit“ zu witzeln).
„Nebensächlichkeiten“
Nochmals einen Tag später meldet sich der ehemalige Vorsitzende einer ehemaligen Volkspartei zu Wort und mahnt, dass es „weit dringlichere Probleme“ zu lösen gebe (aber nicht, ohne das verkrampfte Deutschland vor der „Humorpolizei“ zu warnen). Jene „Diversen“, um die es geht, kommen in dieser Debatte (zumindest massenmedial) nicht vor.
Ein solches Pingpongspiel zwischen Medien und Politik ist typisch für den öffentlichen Umgang mit Genderthemen. Ich frage mich bei solchen Gelegenheiten: Wenn es wichtigere Themen und dringlichere Probleme gibt, warum hält sich dann die mediale und politische Empörungsindustrie so gerne und so ausgiebig mit allem auf, was nach „Gender-Ideologie“ klingt oder aussieht? Und: wie kommt es, dass gerade Gender in all seinen Variationen ein Reizwort ist, dass Menschen aus ganz unterschiedlichen Kontexten in Erregungszustände versetzt? Denn es ist ja nicht so, als wäre allein die katholische Kirche in dieser Hinsicht besonders empfindlich; auch und gerade Menschen, die sich kirchenfern bis kirchenfeindlich geben und sich für besonders aufgeklärt halten, haben häufig ein noch größeres Problem mit Gender als kirchennahe Menschen. Und es ist auch nicht so, dass es die Betroffenen selbst wären, die die Empörungsindustrie am Laufen hielten – wie könnten sie auch, da sie ja breitenwirksam außer als Zerrbild der wütenden Feministin oder der pathologisch verwirrten genderqueeren Person kaum sichtbar werden?
Empörungsindustrie und Zerrbilder
Um das seltsame Erregungspotential von Gender nachvollziehen zu können, bietet sich der Vergleich mit einem anderen Reizthema an: Migration. Auch bei diesem Thema sind weite Teile der politischen und medialen Aufmerksamkeitsökonomie darauf ausgerichtet, Migration und Flucht als große Krise der Gegenwart darzustellen; jedoch nicht aus der Perspektive flüchtender und migrierender Menschen, sondern allein aus der Perspektive Deutschlands und der Europäischen Union. Gerne wird dabei ausgeblendet, dass diese Länder seit Jahrzehnten nur einen Bruchteil aller weltweit migrierenden und flüchtenden Menschen aufnehmen.
Dennoch beherrscht das Thema Migration seit Jahren die deutsche Politik wie kaum ein anderes. Bemerkenswert ist dabei, welche konkreten Fragen die meiste Aufmerksamkeit beanspruchen. Nur zwei Beispiele: Der Bundesinnenminister löst mit dem Thema „Zurückweisungen von Asylbewerbern an der Grenze“ eine handfeste Regierungskrise aus, der danach im letzten Sommer errungene „Kompromiss“ hat bisher (Stand März 2019) zu genau elf solcher Zurückweisungen geführt – währenddessen kämpfen die Verwaltungsgerichte mit einem Rückstau von hunderttausenden Verfahren, die aus einer häufig fehlerhaften und immer restriktiver werdenden Entscheidungspraxis des BAMF resultieren.
Auch ein Erregungsthema: Migration
Oder in globaler Sichtweise: Die Klimakatastrophe wird in den nächsten Jahrzehnten zu milliardenfachem menschlichem Leid und zu Migrations- und Fluchtbewegungen führen, deren Ausmaß wir uns noch gar nicht vorstellen können (oder wollen) – dennoch halten die meisten Politiker*innen in Deutschland und Europa an einem nationalstaatlichen Paradigma fest, dass Migrationsvermeidung und den Ausbau nationaler Grenzen als zukunftsweisende Politik verkauft (oder sie leugnen ohnehin, dass wir uns in einer Klimakatastrophe befinden).
Eine analoge aufmerksamkeitsökonomische Unwucht findet sich beim Thema Gender: wo Menschen, die sich für die Belange von Migrant*innen einsetzen, als „Gutmenschen“ oder „Bahnhofsklatscher“ verleumdet werden, wird auch gerne so getan, als ginge es beim zeitgenössischen Feminismus bloß um Gendersternchen und Hashtags. Ausgeblendet wird, dass die Epidemie sexualisierter Gewalt (nicht nur, aber auch in der katholischen Kirche) noch nicht einmal im Ansatz ernsthaft (kirchen-)politisch bekämpft wird, und genau deshalb immer noch ein zentrales feministisches Thema ist. Oder dass es für Betroffene im Gesetzgebungsprozess zum „dritten Geschlecht“ nicht nur um eine neue Kategorie des Personenstandsrechts ging, sondern auch darum, chirurgische Genitalverstümmelungen an intergeschlechtlichen Kindern strafrechtlich ahnden zu können (ein Ziel, das nicht erreicht wurde).
…als ginge es beim zeitgenössischen Feminismus bloß um Gendersternchen und Hashtags.
Dabei wird der „Gender-Ideologie“, obwohl sie sich ja angeblich mit unwichtigen Themen aufhält, eine zivilisationszerstörende (oder wenigstens volks- und familienzersetzende) Kraft zugeschreiben. So beklagte kürzlich Sybille Lewitscharoff, dass „geschlechtergerechtes Flirten“ unmöglich sei, und deshalb geschlechtergerechte Sprache einen negativen Einfluss auf die sexuelle „Umtriebigkeit“ von Männern und Frauen – zumindest in Berlin – habe. Und in ihrem Bischofswort für Vitus Huonder schämte sich Birgit Kelle nicht, im Mitgefühl für den vor Bodrum im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi eine sinistre politische Agenda zu erkennen, die auch hinter der „Gender-Ideologie“ stehe – und die nichts mit den eigentlichen Interessen von Kindern zu tun habe.
Rechtsextreme Gruppierungen und populistische Parteien nutzen diese aufmerksamkeitsökonomische Schieflage gnadenlos aus.
Rechtsextreme Gruppierungen und populistische Parteien nutzen diese aufmerksamkeitsökonomische Schieflage gnadenlos aus. Seit über einem Jahrzehnt verfolgen die NPD und andere rechtsextreme Gruppierungen die Strategie, sich über die Gender-Thematik anschlussfähig für den politischen Mainstream zu machen – die AfD hat diese Strategie inzwischen in alle deutschen Parlamente getragen. Ein Produkt dieser Strategie sind Veranstaltungen wie die „Märsche für das Leben“ oder die „Demo für alle“, die von Rechtsextremen gezielt genutzt werden, um sich mit Christ*innen zeigen zu können.
Wenn sich Christ*innen auf solche Allianzen einlassen (besonders, wenn sie Positionen in der Kirchenhierarchie besetzen) müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie die rechtsextreme Einstellung derer, mit denen sie gemeinsame Sache machen, teilen oder schlicht nicht wahrhaben wollen.
Wenn sich Christ*innen auf solche Allianzen einlassen, müssen sie sich die Frage gefallen lassen, ob sie die rechtsextreme Einstellung derer, mit denen sie gemeinsame Sache machen, teilen oder schlicht nicht wahrhaben wollen.
Auf einer theoretischen Ebene lässt sich fragen, ob es nicht auch ideologische Parallelen gibt, die solche Allianzen befördern. Da wäre unter anderem (wie auch Rolf Schieder in seinem Beitrag zu politischen Theologie andeutet) die Lust an der apokalyptischen Weltdeutung. Für Nationalist*innen und Anti-Genderist*innen sind Gender und Migration sind nicht bloß politische Herausforderungen, die konkrete philosophische und theologische Fragen aufwerfen. Sie werden zum Inbegriff des Kulturverfalls, wie es sich auch in den oben genannten Beispielen von Lewitscharoff und Kelle zeigt: ohne Untergangsfantasie geht es nicht. Zentrales Motiv solcher Verfallsgeschichten ist das Heilsversprechen einer durch immer wehrhaftere Grenzen gerade noch zu rettenden Vergangenheit.
Ohne Untergangsfantasie geht es nicht.
Migration und Gender stellen Grenzen in Frage: die Grenzen von vermeintlich durch ihr kulturelles Erbe definierten Volksgemeinschaften – und die vermeintlich durch die Biologie klar vorgezeichnete Grenze zwischen Mann und Frau. Gegen dieses Infragestellen von Grenzen wird nun eine Ideologie in Stellung gebracht, die die Rückkehr in die Vergangenheit verspricht: eine Vergangenheit ohne Migration, ohne trans- und intergeschlechtliche Menschen, und womöglich auch noch ohne queeres Begehren. Aber diese Vergangenheit ist ein Phantasma. Es gab sie nie; und selbst wenn es sie gegeben hätte, würde sie sich nicht (zumindest nicht ohne massive Gewaltanwendung und die Inkaufnahme unermesslichen menschlichen Leids) wiederherstellen lassen.
Migration und Gender stellen Grenzen in Frage.
Dennoch ist das falsche Versprechen von Nationalisten und Anti-Genderisten attraktiv, denn es funktioniert wie ein politischer Blitzableiter. Unsicherheiten über eine sich in vielen Bereichen schnell verändernde Welt werden auf einzelne Gruppen übertragen, die alte Gewissheiten in Frage stellen – und diese Gruppen („Kulturfremde“, „Diverse“) werden so zu einem Stellvertreterproblem gemacht. Eine solche Reaktion auf multidimensionale Unsicherheiten ist (frei nach Luhmann) Komplexitätsreduktion: statt sich auf komplexe (und tatsächlich tödliche) Herausforderungen wie etwa die Klimakatastrophe einzulassen, wird die bloße öffentliche Existenz von Migrant*innen und queeren Menschen zur Frage, an der sich das Schicksal der Gesellschaft entscheidet. Und die Zukunft dieser Gesellschaft wird davon abhängig gemacht, ob es gelingt, diese ihre Existenz unsichtbar zu machen oder doch zumindest massiv einzuschränken (und damit die „alten“ Grenzen zu verteidigen).
Theologie und Kirche sind keineswegs darauf festgelegt, bei dieser Lust an der Apokalypse und der Komplexitätsreduktion mitzumachen.
Dabei sind Theologie und Kirche keineswegs darauf festgelegt, bei dieser Lust an der Apokalypse und der Komplexitätsreduktion mitzumachen. Es gibt durchaus theologische Ressourcen, mit denen „Bewahrung“ nicht als Rückkehr zu einer imaginären Vergangenheit gedeutet werden muss, sondern als Wachsen mit einer sich ohnehin stets verändernden Gegenwart. Weder Religion noch politischer Konservatismus sind gezwungen, sich der Fiktion hinzugeben, dass eine Welt ohne Migration und Gender möglich oder wünschenswert wäre – dann könnten sie sich auch wieder auf die dringlichen Probleme konzentrieren.
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Maren Behrensen ist Philosophin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster.
Bild: daan-huttinga-unsplash
Zusammen mit Marianne Heimbach-Steins und Linda Hennig hat sie den Sammelband Gender – Nation – Religion: Ein internationaler Vergleich von Akteursstrategien und Diskursverflechtungen herausgegeben, der im März 2019 im Campus-Verlag erschienen ist.