Am 8. Dezember 1965 wurde das Zweite Vatikanische Konzil beendet. 4 Jahre hindurch hatten die Konzilsväter und ihre Berater um zentrale Themen des Glaubens und der Kirche angesichts der Veränderungen der Zeit gerungen. Die Pastoralkonstitution ist aber nicht nur das letzte auf dem Konzil beschlossene Dokument, sondern für Hans-Joachim Sander (Salzburg) auch deren Siegel.
Die Pastoralkonstitution schloss als letzter der verabschiedeten Texte das Zweite Vatikanische Konzil und drückt damit seiner Lehre zugleich einen Stempel auf. Es ist der eines pastoralen Lehramtes, ohne das die Aussagen des Konzils von nun an nicht mehr authentisch zu erfahren sind. Darum wurde lange gerungen, weil es die frühere Trennung zwischen dogmatischem Lehramt und pastoraler Lehrtätigkeit entschieden aufhebt, die manche bis in die Scholastik zurückreichen sehen. Die Fußnote zum Titel belegt die pastoral wie dogmatisch veränderte Wissensform des Glaubens; über sie wurde eigens und auch mehrfach abgestimmt. In Gaudium et spes zeigt sich, worin das „Lehramt von vorrangig pastoralem Charakter“ besteht, das Johannes XXIII in seiner Eröffnungsansprache beschworen hatte. Es bringt eine Identifizierung mit den heutigen Menschen ein, die um sich selbst, um ihre Welt, um ihre Rechte, um ihre Würde, um ihre Zukunft, um ihre Gesellschaften ringen müssen. Und es bedeutet eine Mitarbeit der Kirche an den Problemen, die dabei zu lösen sind. Das kann die Kirche mit einem Glauben, der von der inneren Verbundenheit Gottes mit jedem einzelnen Menschen im Modus einer Berufung überzeugt ist (GS 3), was eine Art katholischer Selbstprotestantisierung der Kirche gleich kommt. Dazu ist die vorgängige Konfrontation des Glaubens mit den Zeichen der Zeit nötig, die in GS 11 auch zu einer präzisen theologischen Kategorie ausgebaut ist.
In Gaudium et spes zeigt sich, worin das „Lehramt von vorrangig pastoralem Charakter“ besteht
Das Siegel des Konzils Pastoralkonstitution ist weniger ein hoheitlicher Akt, wie es bei Bullen und Beglaubigungen kirchlicher Lehre üblich ist. Hier ist das eher von nachrangiger Bedeutung, weshalb die Pastoralkonstitution die buchstäbliche Bestreitung ihrer konstitutionellen Autorität leicht wegstecken konnte, die von hohen kirchlichen Würdenträgern in der Nachkonzilszeit ausging. Hier hat seit kurzem eine markante Wende stattgefunden. Bei Johannes Paul II war Gaudium et spes nur in Auszügen präsent wie mit der wichtigen Position von der doppelten Inkarnation in GS 22, aber eben nicht mit der Aufmerksamkeit auf die Zeichen der Zeit, gegen die er sich bereits als Krakauer Erzbischof in der Texterstellung ausgesprochen hatte. Bei Benedikt XVI war die Konstitution dann selbst bei einem lehramtlichen Thema wie der Hoffnung noch nicht einmal als Fußnote präsent; er blieb seiner dezidierten Ablehnung schon zu Konzilszeiten treu. Nun ist ihre Lehre zur entscheidenden Stichwortgeberin avanciert, wie Evangelii gaudium von Papst Franziskus zeigt.
Diejenigen, an die sich Gaudium et spes wendet, also die Zeitgenossen der jeweiligen Gegenwart, sind das Siegel ihrer Aussagen,
Aber selbst dieser Wechsel macht GS noch nicht zum Siegel des Konzils. Sie ist das vielmehr in Parallele zur Bemerkung des Paulus an die Korinther: „Ihr seid ja im Herrn das Siegel meines Apostelamtes.“ (1 Kor 9,2) Diejenigen, an die sich Gaudium et spes wendet, also die Zeitgenossen der jeweiligen Gegenwart, sind das Siegel ihrer Aussagen, das sich allen Aussagen des Konzils einschreibt. Waren es bei Paulus die gläubigen Korinther, so sind es jetzt die Menschen, die es hier und jetzt gibt. Sie erst können beglaubigen, worum es dieser Konstitution geht; ihre mission, Kirche, Glauben, Theologie in der Welt von heute zu verorten, ist ohne die Autorisierung durch die Zeitgenossen nicht zu bekommen. Die Auseinandersetzung um menschenwürdige Lebensbedingungen, aber auch die Visionen, wie über die Abgründe der heutigen Welt hinauszukommen ist, sind unverzichtbar, um von Gott überzeugend sprechen zu können. Darum ist auch niemand davon ausgeschlossen, wie Nr. 92 es sagt, selbst jene nicht, die gegen Kirche und Glauben stehen. Denn dafür werden sie ja Gründe haben, die zu erfahren wichtig ist. Den Menschen von heute muss man auf Augenhöhe im Glauben begegnen, um Gottes Gegenwart unter ihnen zu fassen.
Bislang hat die Menschheit positiv auf dieses Angebot reagiert. Das hat das Papsttum zu einer globalen Größe gemacht, deren pastorale Präsenz respektiert wird, selbst wenn Doktrinen dem im Wege zu stehen scheinen. Die Papstreisen sind mittlerweile zu Kontaktzonen des pastoralen Lehramtes mit den globalen Realitäten heutigen Lebens geworden und werden in dieser Eigenschaft über religiöse und politische Grenzen hinweg respektiert.
GS bietet aber die Grammatik für die Argumente, warum auf das Konzil auch über runde Geburtstage hinaus nicht verzichten werden kann
Darum besteht auch die Gefahr nicht, die in der Metaphorik vom Siegel des Konzils steckt: dass man im Grunde auf alles andere im Konzil verzichten könne, wenn nur GS übrig bliebe. Das ist nicht der Fall. GS bietet aber die Grammatik für die Argumente, warum auf das Konzil auch über runde Geburtstage hinaus nicht verzichten werden kann. Für diese Grammatik lässt der Text darum auch eine ermutigende Metonymie sprechen: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger(innen) Christi.“
(Titelbild: 442132_original_R_K_by_Angela Parszyk_pixelio.de)