Im Umgang mit universal geltenden Menschenrechten ergeben sich auch für Religionsgemeinschaften drängende Fragen im Verhältnis von Individual- und Kollektivrechten. Der Sozialethiker Peter G. Kirchschläger geht der Frage nach, was das für das Verhältnis von Staat und Kirchen bedeutet.
1 Primäre, aber nicht alleinige Verantwortung des Staates
Die mit dem Prinzip der Verletzbarkeit ethisch begründbaren Menschenrechte (vgl. Kirchschläger 2013) verpflichten in erster Linie den Staat dazu, die Menschenrechte aller Menschen zu achten, zu schützen, durchzusetzen und zu realisieren. Denn alle Menschen haben als Trägerinnen bzw. Träger von Menschenrechten den ethisch begründeten Anspruch, dass der Staat primär ihre Menschenrechte achtet, schützt, durchsetzt und realisiert. Dabei handelt es sich aber nicht um eine alleinige Verantwortung des Staates, sondern sekundär stehen auch nichtstaatliche Akteure wie z. B. Kirchen in der Pflicht (vgl. Kirchschläger (Hg.) 2017).
Auch die Kirchen sind in der Pflicht
Dieser Hinweis auf diese komplementäre Verantwortung von nichtstaatlichen Akteuren für die Menschenrechte zielt jedoch keineswegs auf eine Verkleinerung der Verantwortung von Staaten ab. Auf der Grundlage der moralischen Begründung der Menschenrechte und ihrer Universalität mit dem Prinzip der Verletzbarkeit kann vielmehr festgehalten werden, dass die mit den Menschenrechten korrespondierenden und moralisch begründeten Verpflichtungen des Staates auch die Gewährleistung umfassen, dass nichtstaatliche Akteurinnen und Akteure wie Kirchen die Menschenrechte achten, schützen, durchsetzen und zu ihrer Realisierung beitragen. Denn alle Menschen haben als Trägerinnen bzw. Träger von Menschenrechten überall und immer den Anspruch, dass ihre Menschenrechte geachtet, geschützt, durchgesetzt und realisiert werden – auch innerhalb und außerhalb von Kirchen.
2 Kirchen mit Menschenrechtspflichten
Wenn nun aber die Staaten sicherstellen müssen, dass Kirchen ihrer Verantwortung nachkommen und die Menschenrechte achten, schützen und zu ihrer Realisierung beitragen, dann umfasst dies indirekt rechtliche Verpflichtungen für Kirchen. Kirchen müssen daher innerhalb und außerhalb ihrer Gemeinschaften die Menschenrechte aller Menschen achten, schützen, durchsetzen und zu ihrer Realisierung beitragen. Kirchen tragen die Pflicht, die Menschenrechte aller Menschen zu achten und zu deren Realisierung beizutragen.
Menschenrechte gelten auch innerhalb der Kirchen
Diese Menschenrechtsverpflichtungen von Kirchen liegt zudem darin begründet, dass gemäss der ethisch begründbaren Universalität der Menschenrechte alle Menschen auch ihnen gegenüber Trägerinnen und Träger von Menschenrechten sind. Anders formuliert geben Menschen an der Kirchentür ihre Menschenrechte nicht ab und bleiben auch im Umgang mit Kirchen Trägerinnen und Träger von Menschenrechten.
3 Freiwillige Austrittsoption kein legitimer Ausnahmegrund
Dennoch wird die Frage nach einer Ausnahmeregelung im Falle von Kirchen und nach einer Unterlassung von staatlichen Interventionen in solchen gestellt. Für eine Ausnahmeregelung und für eine Unterlassung eines Eingreifens von staatlicher Seite in Kirchen könnte sprechen, dass angesichts einer Menschenrechtsverletzung innerhalb einer religiösen bzw. weltanschauungsbasierten Gemeinschaft die Friedensfunktion der Neutralität des Staates darin bestehen würde, nicht zu intervenieren.
Gegen diesen Einwand ist jedoch anzuführen, dass eine solche Ausnahme den legitimen Ansprüchen der Trägerinnen und Träger von Menschenrechten innerhalb von Kirchen nicht gerecht wird.
Legitime staatliche Interventionen
Aus pragmatischer Sicht kann diesbezüglich zudem hinzugefügt werden, dass staatliche Intervention verschiedene Formen finden kann (z. B. Mediation, aktive Religionspolitik, …). Dies kann die berechtigte Sorge vor dem konfliktfördernden Potential des staatlichen Eingreifens mindern. Ebenso gilt es zu bedenken, dass dabei auch Glaubwürdigkeit und Kohärenz des Staates auf dem Spiel stehen.
Selbst wenn den Angehörigen und Mitgliedern die Möglichkeit des Austritts aus der Religions- bzw. Weltanschauungsgemeinschaft frei offensteht, hilft dies nur bedingt weiter. Denn faktisch erweist sich ein Austritt aus einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft als nicht so einfach möglich und realisierbar, da eine Trennung von gesellschaftlicher bzw. kultureller Einbettung und Religion großmehrheitlich nicht der Realität entspricht. In den Menschenrechten selbst – insbesondere beim Recht auf Nichtdiskriminierung – kommt die besondere Qualität von Religion und Weltanschauung zum Zug. Sie wird von den Menschenrechten gerade respektiert. Gleichzeitig gestaltet sie es als äußerst schwierig und in vielen Fällen als geradezu unmöglich, aus einer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft einfach so auszutreten bzw. diese zu wechseln.
Verweis auf möglichen Austritt genügt nicht
Zudem könnte eine solche Ausnahme zur Folge haben, dass illiberale Kräfte in Kirchen gefördert und liberale Kräfte bedroht und aus Kirchen gedrängt werden. Damit verbunden könnte es zu einer indirekten staatlichen Förderung von illiberalen Strömungen und Gruppen in Kirchen kommen.
Dieses Argument lässt sich mit einem mit Vorsicht zu genießenden analogen Beispiel von einem anderen nichtstaatlichen Akteur verdeutlichen: Bei einer Menschenrechtsverletzung am Arbeitsplatz würde der Staat auch eingreifen und nicht von einer Intervention absehen mit dem Verweis darauf, dass die betroffene Person ja den Job wechseln kann und daher kein Handlungsbedarf besteht …
4 Kollektive Menschenrechte immer im Dienste individueller Menschenrechtsansprüche
Können aber Kirchen ihre kollektive Religionsfreiheit nicht geltend machen, um sich vor staatlichen Interventionen zum Schutz und zur Durchsetzung der Menschenrechte in ihren Gemeinschaften zu schützen? Diesbezüglich gilt es hervorzuheben, dass sich Menschenrechte als Individualrechte – die also dem Individuum als Individuum zustehen – gerade von Kollektivrechten unterscheiden, die von einer Gruppe und nicht von ihren einzelnen Mitgliedern beansprucht werden können. Menschenrechte schützen deshalb beispielsweise mit dem Recht auf Gedankens-, Gewissens- und Religionsfreiheit nicht Kirchen als solche, sondern die Freiheit des Individuums, einen Glauben, Überzeugungen und Weltanschauungen zu teilen, Teil einer Gemeinschaft zu sein und deren Lebensart zu praktizieren, und die Freiheit, dies alles gerade eben nicht zu tun. Gleichzeitig ist die kollektive Dimension von einzelnen spezifischen Menschenrechten, wie z. B. des Rechts auf Versammlungsfreiheit, und die kollektivrechtlichen Züge des Minderheitenschutzes zu berücksichtigen (vgl. Kälin/Künzli 2008: 132–133). Bei Letzterem geht es v. a. darum, Minderheiten in Gesellschaften vor der Unterdrückung durch Mehrheiten zu schützen.
Von Individual- und Kollektivrechten
Menschenrechtlichen Schutz genießen sowohl individualrechtliche als auch kollektivrechtliche Wege, die Angehörigen ethnischer, religiöser, weltanschaulicher oder sprachlicher Minderheiten offenstehen, um sich gegen Unrecht, Ungerechtigkeit und Diskriminierung zu wehren. „Die Schwäche individualrechtlicher Ansätze des Minderheitenschutzes liegt einerseits in der Tatsache, dass strukturelle Benachteiligungen damit nur schwer erfasst und angegangen werden können, und andererseits in der Unmöglichkeit, gestützt darauf Forderungen von Minderheiten, wie jene nach eigenen Schulen oder Unterricht in der eigenen Sprache, nach minimaler oder anteilsmäßiger Vertretung in Behörden und politischen Organen (z. B. reservierte Plätze), nach Anerkennung der eigenen Sprache als Amtssprache oder nach dem Gebrauch eigener Bezeichnungen (z. B. Orts- und Straßennamen) und Symbolen (z. B. Flaggen und Wappen) im öffentlichen Raum erfüllen zu können.“ (Kälin/Künzli 2008: 428) Auch der Schutz indigener Völker profitiert von der Ergänzung des individualrechtlichen Verständnisses durch einen kollektivrechtlichen Ansatz.
Wenn Kollektive Zwang ausüben
Gleichzeitig gilt es, auch das Risiko zu beachten, das sich im Allgemeinen bei Kollektivrechten aus menschenrechtlicher Perspektive ergeben kann „für die Menschenrechte von Angehörigen solcher Völker, die gegen ihren Willen derartigen vormodernen Traditionen unterstehen“ (Kälin/Künzli 2008: 433). Dieser Gefahr des Zwanges wird im Falle des kollektivrechtlichen Schutzes indigener Völker mit dem Verweis auf die Notwendigkeit der jeweils gleichzeitigen Achtung der Menschenrechte begegnet (vgl. Kali/Künzli 2008: 433). Zwangsausübung auf einen Menschen durch ein Kollektiv kann demnach auch kollektivrechtlich nicht legitimiert werden, weil im Zuge einer Zwangsausübung die Menschenrechte eines Individuums verletzt werden würden.
Eine menschenrechtsverletzende Ausübung kollektivrechtlich verstandener Menschenrechte – z. B. der kollektiven Religionsfreiheit – ist ethisch illegitim, weil kollektive Rechte in ihrer Legitimität davon abhängen, dass sie dem besseren Schutz individueller Rechte dienen.
Auch Kollektivrechte dienen den Einzelnen
Daher erweist sich eine menschenrechtsverletzende Ausübung der kollektiven Religionsfreiheit aus menschenrechtlicher Sicht als inakzeptabel, weil der Vorrang bei den Menschenrechten aller Menschen als individuelle Trägerinnen und Träger von Menschenrechten liegt. Kollektive Religionsfreiheit stellt immer eine Ableitung der individuellen Religionsfreiheit dar. Die Bezugnahme auf die kollektive Religionsfreiheit, um staatliches Wegschauen bei Menschenrechtsverletzungen in Kirchen zu legitimieren, erwiese sich demzufolge als nicht vertretbar, weil kollektive Menschenrechte ausschließlich im Dienst der Durchsetzung von individuellen Rechtsansprüchen stehen.
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Autor: Peter G. Kirchschläger, kath. Theologe und Philosoph, Lehrstuhl für Theologische Ethik an der Universität Luzern, Leiter des Instituts für Sozialethik VISE
Foto: Perry Grone / unsplash.com
Literatur:
Kälin, Walter/Künzli, Jörg (2008): Universeller Menschenrechtsschutz. 2. Auflage. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
Kirchschläger, Peter G. (2013), Wie können Menschenrechte begründet werden? Ein für religiöse und säkulare Menschenrechtskonzeptionen anschlussfähiger Ansatz, Münster: LIT-Verlag (ReligionsRecht im Dialog, 15).
Kirchschläger, Peter G. (2016), Menschenrechte und Religionen: Nichtstaatliche Akteure und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten (Gesellschaft, Ethik, Religion. Neue Folge Band 7)
Kirchschläger, Peter G. (Hg.) (2017), Die Verantwortung von nichtstaatlichen Akteuren gegenüber den Menschenrechten, Zürich: TVZ Theologischer Verlag Zürich (Religions-rechtliche Studien, 4).